Die Überraschung der Serie A: Atalanta Bergamo

30. April 2017 | News | BY Manuel Behlert

Wenn man in der Serie A die Topmannschaften benennen soll, fallen zuerst natürlich die prominenten Namen. Aber im Schatten von Juventus, der Roma, Neapel und Lazio hat sich in dieser Saison besonders ein Team enorm weiterentwickelt: Atalanta Bergamo. Die Mannschaft aus der Stadt in der Lombardei hat gute Chancen auf die Europa League und unterstrich am Freitag beim 2:2 zuhause gegen Branchenprimus Juventus die eigenen Ambitionen. 

Für viele Überraschungen gibt es Gründe. Entweder ist eine fortlaufende, positive Entwicklung dafür verantwortlich oder eine kluge, wegweisende Personalentscheidung. Bei Atalanta Bergamo, das 2014/15 nur knapp dem Abstieg entkam und auch in der Saison 2015/16 mit Platz 13 keinesfalls eine sorgenfreie Saison spielte, war die Verpflichtung von Trainer Gian Piero Gasperini ein solch einschneidendes Erlebnis.

Ein interessanter Schritt

Man kann sagen, dass sich Atalanta und Gasperini gesucht und gefunden haben. Der mittlerweile 59-jährige hat in seiner Trainerlaufbahn bisher nicht gerade eine Bilderbuchkarriere hingelegt. Nachdem er jahrelang Erfahrung in der Jugend von Juventus Turin sammelte, wechselte Gasperini 2003 zum FC Crotone. Dort sammelte erste Erfahrungen im Seniorenbereich, wechselte 2006 zum CFC Genua. Ihm gelang prompt der Aufstieg in die Serie A. In der darauffolgenden Saison gelang souverän der Klassenerhalt, 2009 beendete man die Saison sogar auf Platz 5 und zog überraschend in die Europa League ein.

(Photo by Emilio Andreoli/Getty Images)

Jose Mourinho nannte Gasperini damals seinen „taktisch größten Widersacher“. Doch zur Saison 2009/10 musste Gasperini mit einem Umbruch umgehen, Stars wie Milito und Motta verließen den Klub. Trotz Verstärkungen, unter anderem durch Luca Toni und Rafinha, wurde Gasperini nach einem enttäuschenden Start entlassen. Es folgten Stationen bei Inter, Palermo und erneut in Genua. Im vergangenen Sommer wechselte Gasperini zu Atalanta. Er erkannte das Potenzial der Mannschaft und ging diesen Schritt bewusst. Die vergangene Saison in Genua war solide, der Wechsel zu Atalanta, die zwei Plätze hinter dem CFC abschlossen, wurde kritisch hinterfragt.

Zahlreiche Veränderungen im Kader

Nach Amtsantritt folgte sofort eine Bestandsaufnahme. Wie in der Serie A üblich hatte der Klub viele Spieler verliehen. Aber auch sonst gab es zahlreiche Abgänge. Der erfahrene Borriello wechselte zu Cagliari, Cigarini ging zu Sampdoria, zahlreiche Ergänzungsspieler gingen den Weg in die Serie B oder ließen sich ihrerseits verleihen. Mit Marten de Roon wechselte außerdem ein wichtiger Mittelfeldspieler zu Middlesbrough in die Premier League. Das Ziel war es nun vor allem jüngere Spieler einzubinden, auch von den Rückkehrern zu profitieren.

Die prominentesten Neuzugänge waren sicherlich der erfahrene Rechtsverteidiger Konto, der von Lazio nach Bergamo wechselte, und Alberto Paloschi, der von Swansea in die Serie A zurückkehrte. Mit Alberto Grassi wurde außerdem ein vielversprechender Mittelfeldspieler ausgeliehen, mit Bryan Cabezas kam ein 19-jähriges, langfristiges Projekt aus Ecuador. Auch im Winter wurde noch einmal punktuell nachgelegt. Die jungen Fazzi und Mancini wurden verpflichtet, mit Cristante oder Mounier gute Ergänzungen ausgeliehen. Allerdings verlor man mit dem hochtalentierten Gagliardini auch einen überragenden Mittelfeldspieler an Inter Mailand.

Viel Ruhe und die nötige Zeit

Nach schwierigen Spielzeiten ging es für Atalanta zuerst darum so schnell wie möglich den Klassenerhalt zu fixieren. Im Verein herrschte Ruhe, Gasperini bekam die nötige Zeit um seine Arbeit zu optimieren, die Spieler kennen zu lernen und eine Formation zu finden, die seinen Vorstellungen entspricht. Zu Saisonbeginn war das auch nötig, denn nach 6 Spielen stand Atalanta nur auf Platz 16, hatte bereits 4 Niederlagen zu beklagen.

(Photo by Emilio Andreoli/Getty Images)

Die Mannschaft entwickelte sich aber punktuell weiter, junge Spieler wie Caldara und Kessie übernahmen mehr Verantwortung und spürten das Vertrauen des Coaches. Aus den nächsten 6 Spielen konnte Bergamo 16 Punkte einfahren und somit stand man schon zu einem frühen Zeitpunkt der Saison auf Platz 5. Genau wie heute. Die Geduld hat sich ausgezahlt, der Trainer hat das Vertrauen bereits sehr schnell zurückgezahlt und die mit Talenten gespickte Mannschaft fand ihren Rhythmus.

Ausgewogener Kader

Ein wichtiger Aspekt für den Erfolg von Atalanta ist der ausgewogene und homogene Kader. Erfahrenen Spielern wie Kurtic, Berisha, Paloschi oder Masiello stehen junge, entwicklungsfähige Spieler wie Kessie, Caldara, Conti oder Petagna gegenüber. Ein Vorteil für Gasperini ist, dass er auf vielen Positionen ohne großen Qualitätsverlust rotieren kann. Die Breite im Kader und der gesunde Konkurrenzkampf sorgen gerade ob des Erfolges in dieser Saison für eine gute Laune.

Die Mannschaft ist auf die Ziele fokussiert, die man mittlerweile korrigiert hat. Mit 5 Punkten Vorsprung auf Platz 6, den derzeit der AC Mailand belegt, soll bei 4 ausbleibenden Spielen nichts mehr anbrennen. Das Restprogramm Atalanta ist mit Udinese Calcio, dem direkten Duell mit dem AC Mailand, dem FC Empoli und Chievo Verona ist absolut machbar, Platz 5 am Ende also durchaus realistisch.

Unberechenbare, flexible Spielweise

Mit einer Tordifferenz von 58:39 und 64 Punkten steht Atalanta in der Tabelle gut da. Topscorer ist Linksaußen Papu Gomez, der im flexiblen 3-4-2-1-System, das häufig gespielt wird, sowohl im Angriffszentrum als auch dahinter aufgeboten werden kann. Ihm gelangen in 33 Spielen 14 Tore und 11 Vorlagen. Dahinter kommt nicht mehr sehr viel, was in diesem Fall keinesfalls negativ zu verstehen ist. Conti und Caldara erzielten beide 7 Treffer, Kessie und Kurtic kommen auf 6 Tore in diese Saison. Das paradoxe, interessante an dieser Tatsache ist, dass alle Spieler tendenziell defensiv ausgerichtet sind, Caldara ist gar Innenverteidiger.

(Photo by Francesco Pecoraro/Getty Images)

Es können also extrem viele Spiele für Torgefahr sorgen. Atalanta ist kaum über 90 Minuten auszuschalten, beim Topteam in Neapel sorgte Caldara mit einem Doppelpack für den 2:0-Sieg. Die Mischung aus ballsicheren und dynamischen, kampfstarken Mittelfeldspielern im Mittelfeld, die laufstarken Außenspieler, die vor der Dreierkette viel Verantwortung übernehmen müssen und die aufmerksamen, eingespielten Innenverteidiger – alles passt sehr gut zusammen. Auch zuhause gegen Juventus Turin wurde das wieder deutlich. Gästetrainer Allegri schickte seine Topelf auf den Platz, aber konnte die tapfer kämpfenden Mannen von Gasperini nicht bezwingen.

Die größten Talente

Natürlich weckt ein solcher Erfolg auch Begehrlichkeiten. Es ist anzunehmen, dass zuletzt immer häufiger die Scouts größerer Vereine im Stadio Atleti Azzurri d’Italia vorbeigeschaut haben. In der Abwehr ist besonders Mattia Caldara zu nennen. Der 22-jährige wurde bereits von Juventus Turin verpflichtet, spielt nur noch auf Leihbasis für Atalanta. Sein Verlust wird immerhin mit 15 Millionen Euro aufgefangen, dennoch ist es nicht einfach, diesen großartigen Fußballer zu ersetzen. Im offensiven Bereich ist vor allem Andrea Petagna zu nennen. Er spielte in der Jugend für den AC Mailand, wurde insgesamt häufig verliehenen und spielt jetzt eine sehr gute Saison. Mit 5 Toren und 9 Vorlagen in 30 Spielen zeigt er seine Wichtigkeit.

(Photo by Paolo Rattini/Getty Images)

Ein viel gejagter Spieler scheint Franck Kessie (20) zu sein. Der defensive Mittelfeldspieler aus der Elfenbeinküste steht bei 6 Toren und 4 Vorlagen und wird unter anderem beim SSC Neapel, dem AS Rom und auch in der englischen Premier League gehandelt. Möglicherweise wird er aber auch noch ein Jahr in Bergamo bleiben und seinen Leistungen noch die nötige Konstanz verleihen. Ein weiterer sehr interessanter Spieler ist der Italiener Andrea Conti. Der Rechtsverteidiger, der häufig rechts vor der Dreierkette spielt, erzielte wie bereits erwähnt 7 Tore, 4 weitere konnte er vorlegen. Sein Offensivdrang ist ausgeprägt, allerdings geht ihm die Balance und das Umschaltvermögen auf die Defensive nicht abhanden. Für die U-21 Italiens absolvierte der 23-jährige 14 Spiele, das Potenzial für den nächsten Schritt ist definitiv vorhanden.

Fazit und Prognose

Die Saison von Atalanta Bergamo ist unabhängig davon wie die letzten 4 Spiele verlaufen ein voller Erfolg. Keiner hatte erwartet, dass man sowohl beide Mailänder Klubs, als auch den AC Florenz hinter sich lässt. Dennoch spricht die Form dafür, dass man den 5. Platz bis Saisonende behaupten kann. Die Europa League wäre der verdiente Lohn für eine gute Arbeit aller Beteiligten. Trainer Gasperini könnte, wie schon nach seiner großartigen Saison in Genua, wieder vor einem Umbruch stehen. Die Basis scheint diesmal aber besser zu sein.

Zudem sollte der Verein verstehen, dass man eine solche Saison nicht planen kann. Die Vorzeichen mit der Doppelbelastung und ohne Caldara, vielleicht auch ohne Conti und Kessie stehen auf Veränderung. Hilfreich wird sein, dass diese Art Fußball auch mit anderen, ähnlichen Spielern praktikabel ist. Die Breite im Kader muss weiter gewährleistet werden und die Neuverpflichtungen müssen klug ausgewählt werden. Dann besteht die Chance, dass sich Atalanta auch in den kommenden Jahren mit einem erfahrenen, akribischen Gasperini zumindest in der oberen Tabellenhälfte der Liga etablieren wird. Da sich die Geduld und die Ruhe in dieser Saison bereits ausgezahlt hat, wird man in Bergamo keinesfalls in Panik verfallen. Und das ist der richtige Weg.

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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