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Fjörtoft-Übersteiger und viel Drama: Frankfurts irrer Klassenerhalt 1999

8. April 2020 | Spotlight | BY Manuel Behlert

Die Saison 1998/99 in der Bundesliga war insbesondere im Abstiegskampf enorm spannend. Vor dem letzten Spieltag mussten gleich fünf Mannschaften zittern. Die schlechteste Ausgangsposition hatte, auf Platz 16 stehend, Eintracht Frankfurt. Am 29. Mai 1999 sollten sich die Ereignisse überschlagen.

Totgeglaubte leben länger. Dieser vielzitierte Spruch traf in der Saison 1998/99 auf Eintracht Frankfurt zu. Nach dem 29. Spieltag und einer 0:2-Niederlage beim SC Freiburg schienen die Hessen dem Abgrund sehr nahe zu sein. Platz 17, fünf Punkte Rückstand auf das rettende Ufer und ein kompliziertes Restprogramm machten der SGE zu schaffen. 

 (Photo by Tobias Heyer/Bongarts/Getty Images)

Jörg Berger, Mitte April als letzte Hoffnung auf der Trainerbank engagiert, sollte den Abstieg verhindern. Nach der Niederlage in Freiburg stand die Mannschaft mit dem Rücken zur Wand. Wie kann eine mit Oka Nikolov, Bernd Schneider, Jan Age Fjörtoft oder Ansgar Brinkmann prominent besetzte Mannschaft nahezu ungebremst dem Abstieg entgegen taumeln?

Trotzreaktion nach HSV-Spiel

Hoffnung machte die erste Halbzeit am 30. Spieltag gegen den Hamburger SV, die Hessen führten zur Pause durch Treffer von Yang und Schur mit 2:0. Es folgte eine schlechte Chancenverwertung, der Anschluss durch Yeboah, der Einbruch und schließlich das 2:2 in der Schlussminute. Doppelt bitter: Die gesamte Konkurrenz patzte, Frankfurt konnte dies nicht nutzen.

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

Dass Eintracht Frankfurt vor dem letzten Spieltag überhaupt noch eine Chance auf den Klassenerhalt hatte, war einem Zwischenspurt und einer Trotzreaktion nach dem HSV-Spiel zu verdanken. Der 2:1-Sieg am 31. Spieltag in Bremen sorgte für neue Hoffnung, es folgte ein 2:0-Erfolg gegen Borussia Dortmund und ein 3:2-Sieg auf Schalke. Nun wartete der 1. FC Kaiserslautern, immerhin Deutscher Meister 1998, im Waldstadion.

Die Ausgangssituation vor dem entscheidenden Spieltag war gleichermaßen eng wie verrückt. Borussia Mönchengladbach und der VfL Bochum waren abgestiegen, Eintracht Frankfurt stand auf Platz 16, hatte 34 Punkte und eine Tordifferenz von -14. Auf den Plätzen davor befanden sich Hansa Rostock (35 Punkte, -10), der SC Freiburg (36 Punkte, -9), der VfB Stuttgart (36 Punkte, -8) und der 1. FC Nürnberg (37 Punkte, -9). Ein nervenaufreibendes Saisonfinale sollte folgen.

Stuttgart mit dem Startschuss für den verrückten Abstiegskampf

29. Mai 1999, 15:30 Uhr. Der VfB Stuttgart empfängt Werder Bremen, im direkten Duellen treffen der 1. FC Nürnberg und der SC Freiburg aufeinander, Hansa Rostock ist zu Gast in Bochum und Eintracht Frankfurt empfängt, wie bereits angemerkt, den 1. FC Kaiserslautern. Schon nach rund fünf Minuten fällt das erste Tor im Abstiegskampf. Auf Vorlage von Roberto Pinto erzielt Fredi Bobic das 1:0 für den VfB Stuttgart. In der Blitztabelle sprangen die Schwaben damit nach vorne, im weiteren Spielverlauf tat sich überhaupt nichts mehr. Dieses Spiel lebte lediglich von der Gefahr für den VfB, noch das 1:1 zu kassieren und noch einmal einzubrechen.

(Photo by Mark Sandten/Bongarts/Getty Images)

Natürlich hatte dieses frühe Tor des VfB Auswirkungen, die anderen involvierten Teams wurden dadurch unter Druck gesetzt. Auf allen Plätzen herrschte Hektik, leichte und vermeidbare Fehler häuften sich. Hinzu kam die enorme Sommerhitze, die den Akteuren auf dem Feld zu schaffen machte. Erst nach einer knappen halben Stunde passierte erneut etwas – und zwar in Nürnberg! Nach Vorarbeit von Weißhaupt brachte Ali Günes die Gäste aus Freiburg in Führung. Doch damit noch nicht genug, nur sieben Minuten später erhöhte eben jener Günes auf 0:2. Freiburg schien auf einem guten Weg zu sein, Nürnberg musste zittern.

Die Sorgen der Franken wurden nur wenige Minuten nach dem zweiten Günes-Treffer umso größer, denn Oliver Neuville brachte Hansa Rostock in Führung. In allen Stadien war also bereits etwas passiert – außer im Waldstadion. Der favorisierte FCK zeigte sich behäbig, Sforza kreierte im Zentrum wenig, die Außenbahnen lagen brach. Leider fiel auch Eintracht Frankfurt bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht genug ein, auch wenn der unermüdliche Bernd Schneider stets versuchte, der Offensive Leben einzuhauchen.

Bundesliga-Endspurt 1999: Die Ruhe vor dem Sturm

Die Blitztabelle zur Halbzeit: Frankfurt stand mit 35 Punkten auf dem Abstiegsplatz, Nürnberg mit 37 Punkten auf dem rettenden 15. Rang. Rostock (38), Stuttgart und Freiburg (je 39) setzten sich ein wenig ab. Nachdem die Protagonisten im Abstiegskampf etwas durchschnaufen konnten, begann die zweite Halbzeit mit einem Knalleffekt in Frankfurt. Bernd Schneider bereitete für Chen Yang vor und der Chinese erzielte die wichtige Führung für die SGE. Damit waren die Hessen punktgleich mit dem FCN, noch war aber die Tordifferenz ein Problem.

 (Photo by Andreas Rentz/Bongarts/Getty Images)

Das Ergebnis aus Frankfurt wurde natürlich auch auf den anderen Plätzen registriert. In Stuttgart spielte der VfB weiter seinen Stiefel herunter, ließ gegen Bremen nicht allzu viel zu. Freiburg führte weiter beruhigend in Nürnberg, jedoch musste sich Hansa Rostock in Bochum bemühen, nicht den Ausgleich zu kassieren. Die Phase nach dem schnellen Tor in Frankfurt kann guten Gewissens als Ruhe vor dem Sturm bezeichnet werden. Spannung war in jedem Stadion vorhanden, doch es dauerte bis zur 68. Minute, ehe der nächste Treffer fiel – erneut in Frankfurt. Schjönberg verwandelte einen Handelfmeter für den FCK, die Euphorie bei den Hessen schien verflogen zu sein. Doch jetzt ging die Achterbahnfahrt erst so richtig los.

In Bochum, Frankfurt, Nürnberg: Das Drama nimmt seinen Lauf

Das Wechselbad der Gefühle für die Eintrachtfans hatte erst begonnen. Kurz nach dem ernüchternden Ausgleich durch Schjönberg brachte Thomas Sobotzik die Hoffnung zurück und erzielte das 2:1, wohlwollend zur Kenntnis genommen von einem Waldstadion, das zwischen Hoffen und Bangen schwankte. Praktisch zeitgleich folgte auch noch eine frohe Kunde aus Bochum! Stefan Kuntz traf nach einem Eckball zum nicht unverdienten Ausgleich, Rostock war zu diesem Zeitpunkt plötzlich abgestiegen – selbst mit dem Remis.

Für Hansa sollte es noch schlimmer kommen, denn drei Minuten später erzielte Peter Peschel per Freistoß den Treffer zum 2:1 für Bochum. Binnen kürzester Zeit hatte der VfL das Spiel gedreht, was in Frankfurt, Stuttgart und Nürnberg mit Freude zur Kenntnis genommen wurde. Im Waldstadion rannten die Hessen weiter an, der unermüdliche Schneider initiierte Angriff um Angriff, der eingewechselte Gebhardt brachte enormen Schwung und auch Ansgar Brinkmann, der „weiße Brasilianer“, sollte mithelfen, noch mehr Treffer zu erzielen.

Das nächste Tor fiel dann auch – erneut in Bochum. Der wuchtige Hansa-Stürmer Victor Agali stellte den Spielverlauf der letzten Minuten völlig auf den Kopf, nutzte die Unordnung in der Bochumer Hintermannschaft nach Vorlage von Hilmar Weilandt aus. Das 2:2 bedeutete neue Hoffnung für Rostock! Indes sollten die Bemühungen von Eintracht Frankfurt belohnt werden. Joker Gebhardt, der einen enormen Einfluss auf das Spiel hatte, traf mit einer sehenswerten Direktabnahme mit dem linken Fuß, FCK-Torhüter Reinke konnte nicht schnell genug reagieren, ehe der Ball über ihm einschlug.

Fjörtoft: Ein Übersteiger für die Geschichtsbücher

Nach gut 80 Minuten waren Stuttgart und Freiburg gerettet, Frankfurt und Nürnberg standen punktgleich knapp über dem Strich, Hansa Rostock brauchte ein Tor, um nicht abzusteigen. Doch zunächst war es erneut Eintracht Frankfurt, das für einen Paukenschlag sorgte. Eine präzise Hereingabe von Yang wurde von Bernd Schneider mit einem technisch brillanten Volley – mit der Innenseite – in das lange Eck vollendet. Frankfurt zeigte in dieser Phase, welcher Fußball mit dieser Mannschaft eigentlich möglich gewesen wäre. 

(Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Nürnberg wurde aufgrund der weniger erzielten Tore von Eintracht Frankfurt verdrängt und musste seinerseits wieder bangen. Binnen zwei Minuten aber sollte die hessische Glückseligkeit in sich zusammenbrechen. Der eingewechselte Slawomir Majak brachte Hansa Rostock per Kopfball in Bochum in Führung, Rostock verließ den Abstiegsplatz, gab ihn an Nürnberg ab. Doch auch dieser Stand hielt nur kurz. Bis Marek Nikl, Verteidiger der Franken, per Kopf zum 1:2 traf. Nun behielt kaum noch jemand den Überblick, aber Nürnberg war gerettet, Frankfurt abgestiegen.

Die Hessen benötigten also dringend ein Tor, viel Zeit war nicht mehr. Und Jörg Berger hatte schon sein gesamtes Personal auf dem Platz, was offensiv für Schwung sorgen konnte. Frankfurt war erneut totgesagt, Frankfurt lebte erneut länger. In der 89. Minute kam der Ball zu Angreifer Jan Age Fjörtoft. Der Norweger nahm die Kugel aus vollem Lauf mit, stand direkt vor Torhüter Reinke und trug sich mit einer Aktion in die Geschichtsbücher von Eintracht Frankfurt, wenn nicht gar der Bundesliga ein. Ein frecher Übersteiger mit dem rechten Fuß sorgte dafür, dass sich Reinke bewegte und auf den Boden warf.

(Photo by Andreas Rentz/Bongarts/Getty Images)

Fjörtoft sorgte mit dieser Verzögerung dafür, dass er einen Sekundenbruchteil hatte, um den Ball an Reinke vorbei ins Tor zu schieben – und genau das machte er auch. Der Jubel in Frankfurt kannte keine Grenzen, ein furioses Finale hatte seinen absurden, irren, nicht zu fassenden Höhepunkt gefunden! Was die Fans der Hessen zu diesem Zeitpunkt nicht ahnten: Der 1. FC Nürnberg hatte in den Schlussminuten sogar noch die Riesenchance auf den Ausgleich, als Frank Baumann nach einem Pfostentreffer von Nikl freistehend vergab. Doch das wäre wohl zu viel Märchen gewesen…

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 (Photo by Andreas Rentz/Bongarts/Getty Images)

Manuel Behlert

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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