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Atalanta Bergamo – Das Geheimnis um Gasperinis „Powerfußball“

24. Mai 2019 | Spotlight | BY Sascha Baharian

Spotlight | Ein kleiner Verein in Italiens höchster Spielklasse sorgt aktuell für eine Menge Furore. Ein Verein, welcher mit einem vergleichsweise geringen Budget die vermeintlich Großen der Liga ärgert, sie ins Schwitzen bringt oder gar demütigt. Die Rede ist hier ganz eindeutig von Atalanta Bergamo. Doch was steckt hinter dem Erfolg von „la Dea“? Was ist das Geheimnis von Gasperinis Spielphilosophie? Das erfährst du jetzt!

Die „Bergamasci“ verbreiten in der laufenden Spielzeit Angst und Schrecken bei ihren Gegnern. Wie ein Schwarm tollwütiger Bienen stachen sie auf ihre Kontrahenten ein, schossen dabei die meisten Tore und zwangen jedem ihr dominantes Spiel auf. Platz drei vor den „Big Playern“ wie Inter, Milan und der Roma, überdies sehr gute Chancen auf die Königsklasse die logische Konsequenz.

Der Kader – Topstars? Fehlanzeige!

Schauen wir uns den Kader einmal genauer an. Große Stars im Team von „la Dea“? Fehlanzeige. Die Truppe von „Gasp“ scheint eher eine Kombination aus „Jugend forscht“ und ausgemusterter Profis zu sein, an die kaum noch jemand zu glauben vermochte.

Jedoch gibt es eine handvoll Spieler, die trotz ihrer offensichtlichen Schwächen gleichermaßen außergewöhnliche Fähigkeiten besitzen. Genau diese weiß Trainer Gian Piero Gasperini durch seine taktische Raffinesse perfekt in Szene zu setzen. Die Defizite seiner Mannen werden dabei größtenteils kaschiert. Er setzt „seine Jungs“ genau so ein, dass sie sich auf ihre Vorzüge fokussieren können. Bestes Beispiel: Sturmtank Duvan Zapata.

Photo by Marco Rosi/Getty Images

Der kolumbianische Nationalspieler ist spielerisch sowie technisch limitiert, jedoch kann er sich unter dem 61-jährigen Fußballlehrer als sogenannter Zielstürmer überwiegend auf das Abschließen von Großchancen beschränken. Dabei kommt er gerne per Kopf, aber auch aus schnellem Kombinationsspiel zum Abschluss. Beides liegt dem robusten Mittelstürmer, was 29 direkte Torbeteiligungen in dieser Spielzeit untermauern. Gleichermaßen kann dieser bei Kontersituationen seine Schnelligkeit und Physis einsetzen, den Ball festmachen oder steil gehen.

Josip Ilicic und Alejandro Gomez können dahinter mit ihrer ganzen Kreativität Unruhe stiften, dürfen ihre Positionen sehr flexibel interpretieren. Beide sind bei Ballbesitz frei in ihrem Positionsspiel, was den beiden Akteuren sichtlich entgegen kommt und den Gegner zunehmend verwirrt. Zudem unterstützt letzterer mit seiner enormen Ballsicherheit die beiden Sechser Memo Freuler und Martin De Roon im Spielaufbau. Doch das Spiel Atalantas ist so variabel, es wäre zu einfach es auf diese drei Akteure zu beschränken.

Das Scouting – hier werden Stars geformt

Dass die Lombarden ein exzellentes Scouting und eine hervorragende Jugendarbeit besitzen, weiß jeder „Tifoso“ in Italien. Ob Andrea Conti, Franck Kessié, Roberto Gagliardini, Mattia Caldara, Leonardo Spinazzola, Timothy Castagne, Josip Ilicic oder Duvan Zapata, sie alle waren mehr oder weniger unbekannt oder galten schon als gescheitert.

Chefscout Pasquale Ussia macht seit knapp drei Jahren einen dermaßen hervorragenden Job für die Norditaliener, dass die Kassen von „La Dea“ in den vergangenen Jahren ordentlich klingelten. Aufgrund dessen hat Ussia neben Trainer Gasperini enormen Anteil daran, dass die graue Maus zu einer strahlenden Göttin avancierte.

Die Taktik – Überzahl ist das Motto

Doch eine gute Mannschaft ist nichts ohne einen kompetenten Übungsleiter. Daher wollen wir jetzt die taktischen Geheimnisse des Gian Piero Gasperini aufdecken. Egal wo auf dem heiligen Grün, „la Dea“ ist meist in der Überzahl. Schauen wir uns alleine die linke Seite bei Ballbesitz in einem für Atalanta-typischen Spielzug an:

Innenverteidiger Masiello (5) mutiert zum Linksverteidiger, schaltet sich zusammen mit Sechser Memo Freuler (11), Zehner Papu Gomez (10) und dem eigentlichen Linksverteidiger Timothy Castagne (21) (welcher bei Ballbesitz schon als Linksaußen agiert) in den Angriff ein, Mittelstürmer Duvan Zapata (99) könnte in dieser Situation in die Tiefe gehen und somit eine weitere Anspielstation bilden.

Fußball Taktiktafel – Jan Soukup

Die Abstände bleiben generell kurz. Der Rest des Teams verlagert sich ins Zentrum um weitere Anspieloptionen zu bilden und keine großen Lücken in den Mannschaftsteilen aufkommen zu lassen. Bei fast jeder Hereingabe von der Grundlinie, sind fast vier bis fünf Spieler in der Box des Gegners, gerade die Außenverteidiger suchen dabei häufig die Tiefe und machen den erfolgbringenden numerischen Unterschied.

Schlüsselposition Außenverteidiger

Berühmtestes Beispiel – Andrea Conti: der ehemalige Rechtsverteidiger der „Nerazurri“, derzeit für den AC Milan tätig, avancierte in der Saison 2016/17 unter „Gasp“ zum torgefährlichsten Defensivspieler Europas mit acht Treffern und vier Vorlagen! Im Trikot der „Rossoneri“ wird er heutzutage kaum noch in der Nähe des Strafraums gesichtet. Statistisch gesehen waren diese Saison die Außenverteidiger fast an 1/3 aller Atalanta-Tore direkt beteiligt (Hans Hateboer: 10, Robin Gosens: 5, Timothy Castagne: 7 Scorerpunkte).

Aufgrund dieser sogenannten fluiden Spielweise, sind die „Nerazurri“ jederzeit in der Lage Überzahl zu bilden. Kreativität der einzelnen Akteure ist daher nicht unbedingt von Nöten, denn es ist fast immer jemand anspielbar und falls nicht, dann schafft Spielmacher Gomez, oder die hängende Spitze Ilicic per Dribbling Räume, durch die sich neue Spielsituationen ergeben.

Gegenpressing – Volles Risiko!

Geht der Ball mal verloren, hat man mit bis zu fünf Spielern in und um die Box herum genügend Akteure die sofort den ballführenden Spieler aggressiv attackieren können. Darüber hinaus stehen die beiden Sechser Freuler und De Roon, plus mindestens ein weiterer Innenverteidiger bei jedem Angriff so hoch, dass sie gleichermaßen alles abfangen, was durch die „erste Welle“ gelangt.


Fußball Taktiktafel – Jan Soukup

Dies birgt natürlich auch die Gefahr ausgekontert zu werden, was die 44 Gegentore sicherlich untermauern. Vor allem beim 3:3 in der Hinrunde gegen die Roma, waren die Lombarden total spielüberlegen, wurden jedoch von den „Giallorossi“ dreimal eiskalt erwischt und gingen unglücklicherweise mit 0:3 in die Halbzeit.

Kein Team in den Top 5 hat mehr Tore kassiert als Gasperinis Truppe, jedoch schießt sie auch die meisten und daher hält der 61-jährige Fußballlehrer weiterhin an seiner Spielphilosophie fest – das zurecht! Denn mit wettbewerbsübergreifenden 100 Toren stellen die „Bergamasci“ einen beeindruckenden Bestwert auf dem Stiefel.

Defensive – Flexibel wie eine Ziehharmonika

Die Fünfer-Abwehrkette hat es bei den Norditalienern gleichermaßen in sich. Denn diese wird sehr variabel interpretiert und erinnert dabei an eine Ziehharmonika. Sobald vor der Abwehr Räume für den Gegner entstehen, rückt einer der drei Innenverteidiger rasch aus der Kette um den ballführenden Spieler zu attackieren. Ob im Zentrum, oder auf den Außen, die Fünferkette wird schnell zu Viererkette, das Mittelfeld wird blitzschnell da verstärkt wo sich eine Lücke auftut.

Normalerweise ist ein 3-5-2-System außen am anfälligsten, da man nur einen nominellen Flügelspieler hat. Doch bei den „Bergamasci“ scheint dies keine Rolle zu spielen. Kommt der Gegner über die Außen unterstützt der jeweilige Sechser, plus der äußere Innenverteidiger den einzigen Flügelspieler und schafft dort mindestens Gleichzahl, meist jedoch Überzahl. Der Rest der Abwehrkette rückt jeweils um eine Position ein (siehe Grafik).


Fußball Taktiktafel – Jan Soukup

Die einzige Lösung wäre in dieser Situation ein langer Seitenwechsel, welcher jedoch sehr anspruchsvoll zu schlagen ist und daher eher selten stattfindet. Alles scheint perfekt einstudiert, die Abläufe laufen oftmals schnell und reibungslos wie bei einem Schweizer Uhrwerk ab.

Überdies schaltet sich die Offensivabteilung um Papu Gomez, Josip Illicic und Duvan Zapata nur sporadisch gegen den Ball ein. Daher klafft oft eine Lücke zwischen Mittelfeld und Angriff.

Nachteil – gerade im Zentrum vor der Abwehr gerät man mit nur zwei Sechsern gerne mal in Unterzahl, wenn die Fünfer-Abwehrkette es nicht umgehend ausgleicht.

Vorteil – verliert der Gegner den Ball, kann Gasperinis Truppe mit einem gescheiten Pass blitzartig den Konter fahren, da die Drei (Gomez, Ilicic, Zapata) meistens lediglich je einen Gegenspieler gegen sich haben und jeder des magischen Atalanta-Dreiecks in der Lage ist erfolgreich ins 1-gegen-1 zu gehen, wie oftmals gesehen.

Pressing:

Das Pressing von „La Dea“ ist sehr mannorientiert, man läuft nicht die Räume zu, sondern gezielt den ballführenden Spieler an – alle weiteren Anspielstationen werden aggressiv manngedeckt.

Vorteil – man hat direkten Zugriff und kann den Gegner im direkten Zweikampf fordern.

Nachteil – wird ein Duell verloren, bilden sich schnell eklatante Lücken, die so schnell nicht geschlossen werden können.

Will sich der Kontrahent hinten raus spielen, wird in vorderster Front erst mal im Zentrum gepresst, Zapata und Ilicic setzen dabei die beiden Innenverteidiger des Gegners unter Druck, Gomez kümmert sich um den jeweiligen Sechser. Weicht der Gegner auf die Flügel aus, werden diese von den Außenverteidgern Castagne bzw. Hateboer angelaufen, dies erfolgt jedoch erst, wenn der Ball die Außen erreicht. Bei allen anderen Gegenspielern wird eng am Mann gepresst.


Fußball Taktiktafel – Jan Soukup

Die Abstände auf den Flügeln sind daher erst mal groß und der gegnerische Außenverteidiger hat eine kurze Verschnaufpause, die ihm jedoch nicht viel bringt, da er meist keine Anspielstation vorfindet, bevor er attackiert wird. Meist bleibt nur der lange Ball eine Option. Daher rücken die Innenverteidiger anschließend auf die Flügel um einen langen Schlag oder möglichen Konter abzusichern. Das gesamt Pressing läuft also Mann gegen Mann und das meist sehr erfolgreich.

Atalanta gehört in die Königsklasse

Dass die Norditaliener sich vor dem letzten Spieltag auf CL-Kurs befinden ist mehr als verdient. Bis auf den AC Mailand konnte man alle großen Teams aus den Top 5 schlagen. Die schlimmste Prügel kassierte dabei Inter Mailand, welches in der Hinrunde mit 4:1 im Stadio Atleti Azzurri d’Italia vorgeführt wurde. Dass das Ergebnis nicht noch höher ausging, war bezeichnenderweise dem besten Inter-Akteur Samir Handanovic zu verdanken, welcher mit zahlreichen Glanzparaden seine Teamkollegen vor Schlimmeren bewahrte.

Auch die „alte Dame“ schied nach einem demütigenden 0:3 gegen den vermeintlichen Underdog aus der Coppa Italia aus und staunte anschließend nicht schlecht. Ob Carlo Ancelotti, Massimiliano Allegri, Simone Inzaghi oder Luciano Spalletti – sie alle fanden kaum Mittel gegen Gasperinis Vollgas-Fußball! Daher könnte Atalanta Bergamo nächstes Jahr in der Königsklasse die Rolle von Ajax Amsterdam einnehmen, sollte „Gasp“ und weitere wichtige Leistungsträger den Verein nicht verlassen.

Denn eins scheint klar, diese Mannschaft steht sinnbildlich dafür, dass es im Profi-Fußball nicht immer um das ganz große Geld gehen muss, manchmal müssen einfach nur die richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, dann ist alles möglich. Grazie Gian Piero, e grazie „la Dea“. Ihr seid die letzten „Mohikaner“ für jeden Fußballromantiker.

Sascha Baharian

Photo by Marco Luzzani/Getty Images


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