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Der Bessermacher: Lilles Jonathan Ikoné im Porträt

4. März 2020 | Spotlight | BY Manuel Behlert

Ein Fußballspieler muss nicht immer im Mittelpunkt stehen und ständig Schlagzeilen generieren, um einen enormen Wert für seine Mannschaft zu haben. Das trifft auf Defensiv-, aber auch auf gewisse Offensivspieler zu. Jonathan Ikoné vom OSC Lille ist einer davon.

Das nächste Talent verlässt PSG

Jean-Kévin Augustin, Odsonne Edouard, Moussa Diaby, Yacine Adli, Timothy Weah, Christopher Nkunku, Stanley Nsoki, Arthur Zagre. Diese jungen Talente verließen Paris Saint-Germain in den letzten Jahren, um anderswo Spielpraxis zu erhalten und sich weiterentwickeln zu können. Eben jenen Weg ging auch Jonathan Ikoné, der von 2010 bis 2016 in der Nachwuchsabteilung von PSG spielte.

 (Photo by GEOFFROY VAN DER HASSELT / AFP)

Nach einer Leihe zum HSC Montpellier, die von Januar 2017 bis zum Sommer 2018 andauerte, wechselte Ikoné für rund fünf Millionen Euro zum OSC Lille und unterschrieb einen langfristigen Vertrag bis 2023. Dieser Wechsel sollte sich auszahlen – vor allem für den Klub und den Spieler selbst. Mittlerweile ist Ikoné Nationalspieler, hat sogar Chancen auf eine EM-Teilnahme und seinen Marktwert durch konstant gute Leistungen vervielfacht.

Dennoch stehen dieser Tage andere Talente im Fokus, die einen deutlich größeren medialen Hype erzeugen. Dafür stellvertretend steht der 17-jährige Eduardo Camavinga, der mit Klubs wie Borussia Dortmund und Real Madrid in Verbindung gebracht wird. Dabei ist der 21-jährige Jonathan Ikoné nicht weniger spannend zu beobachten.

Jonathan Ikoné: Mbappe-Kumpel mit großartigen Eigenschaften

Vieles verbindet den talentierten Offensivspieler mit Kylian Mbappé, dem Aushängeschild der französischen Nachwuchsförderung der letzten Jahre. Beide wuchsen in Bondy, einem Ort östlich der Metropole Paris, auf – und spielten schon früh zusammen Fußball. Das Talent der beiden wurde früh deutlich, zeitweise galt Ikoné im Vergleich mit Mbappé sogar als die größere Hoffnung für die Zukunft. Mit 12 Jahren folgte der Wechsel nach Paris, die Wege der beiden Nachwuchsstars trennten sich. Mbappé, der den „Umweg“ über die AS Monaco ging, spielt jetzt bei PSG und ist einer der größten Stars des Fußballkosmos, Ikoné ist, naja, irgendwie auch dabei.

Das soll überhaupt nicht negativ gemeint sein, denn der Weg, den der Linksfuß ging, brachte ihn dort hin, wo er heute ist: Zu einem Klub, der attraktiven Offensivfußball spielen will und die Ambition hat, sich regelmäßig für den Europapokal zu qualifizieren. Die Geschichte von Jonathan Ikoné zeigt, dass es mitunter ratsam ist, sich mit einem Umweg zu beschäftigen und dass großes Talent nicht automatisch garantiert, sich bei großen Klubs auf Anhieb durchzusetzen. Mbappe hatte in Leonardo Jardim in Monaco einen Förderer, Mitspieler, die herausragend zu seinen Qualitäten passten und – natürlich – auch etwas Glück.

(Photo by NICOLAS TUCAT/AFP via Getty Images)

Der Weg zum Glück führte für Ikoné wie bereits angedeutet über die Leihstation Montpellier. Dort konnte der Youngster keine Schlüsselrolle einnehmen, akklimatisierte sich aber sukzessive auf Profiniveau. Ikoné legte körperlich zu, behauptete sich zunehmend gegen seine Mit- und Gegenspieler und passte sich der Spielweise Montpelliers an. Die talentierte PSG-Leihgabe spielte nicht für die Galerie, sondern arbeitete zunehmend und entwickelte ein Bewusstsein für Defensivaufgaben.37 Spiele, zwei Tore und drei Vorlagen: Rein statistisch war die Zeit in Montpellier kein bahnbrechender Erfolg. Sie bildete aber das Fundament für die weitere Entwicklung des Spielers.

Der andere Weg: Durchbruch und Verbleib beim OSC Lille

Basierend auf diesem Fundament startete Jonathan Ikoné beim OSC Lille so richtig durch. In einer offensiv fluiden, teilweise sehr schnell spielenden Mannschaft blühte der junge Franzose schnell auf. Nicolas Pépé auf der rechten Seite, Rafael Leão in der Sturmspitze, Jonathan Bamba auf der linken Seite – und eben Ikoné hinter diesem Offensivtrio. Das war das Erfolgsgeheimnis von Les Dogues, das den Klub in die Champions League führte und zur Überraschungsmannschaft der Ligue 1 machte. Doch erneut ging nicht die Karriere von Ikoné durch die Decke, andere Spieler, die sich für größere Klubs empfehlen konnten, wagten den Sprung ins Ausland.

Rafael Leão zog es nach der herausragenden Saison zum AC Mailand, wo er noch Probleme hat, sich endgültig zu akklimatisieren. Nicolas Pépé, der unangefochtene Topstar des OSC Lille, der mit herausragenden Statistiken auf sich aufmerksam machte, wechselte für rund 80 Millionen Euro zum FC Arsenal, auch er zeigt zwar gute Ansätze, muss sich aber noch weiter auf die neue Liga und das neue Umfeld einstellen.

(Photo by JEAN-PHILIPPE KSIAZEK/AFP via Getty Images)

Diesen Schritt ging Jonathan Ikoné nicht, obwohl es auch für ihn im Sommer Anfragen gegeben haben dürfte. Seine Karriere wirkt, gemessen am bisherigen Verlauf, sehr durchdacht und es hat den Anschein, als würde jeder bisherige Schritt einem klaren Plan folgen. Und zu dem Plan gehörte es auch, sich weiterhin in Lille zu beweisen und dort zu reifen.

Und das ist durchaus klug, denn in Lille hat er einen Stammplatz und noch immer eine sehr talentierte, junge Mannschaft an seiner Seite, die Offensivfußball spielt und in der Ligue 1 im oberen Drittel um den Europapokal kämpft. Die Chance, sich jede Woche zu zeigen, sollte ihm auch im Hinblick auf die Europameisterschaft weiterhelfen, denn für den Kader der Équipe Tricolore gibt es zahlreiche hochklassige Anwärter, der Konkurrenzkampf ist enorm.

Jonathan Ikoné: Dynamik vereint mit Kreativität

Die Statistiken in seiner ersten Saison beim OSC Lille waren gut. Drei Tore und zehn Vorlagen steuerte Ikoné zur Vizemeisterschaft bei, doch bei ihm lohnt es sich, auch einen Blick auf die Art und Weise, wie er die Offensive besser macht, zu werfen, ganz ohne Zahlen. Der offensive Mittelfeldspieler, der sich im Zentrum sehr wohl fühlt, weil er sich dort seine Freiheiten nehmen kann, fungiert als Bindeglied zwischen dem Defensiv- und Offensivbereich. Er spielt nicht immer den letzten, entscheidenden Pass, sondern ist ein kreatives Verbindungselement mit klugen Bewegungen, entscheidenden Ideen und einem sehr guten Verständnis für sich bietende Räume.

Genau das macht Ikoné so stark. Er ist kein klassischer „10er“, der über einen verhältnismäßig kleinen Aktionsradius verfügt, sondern ein Mittelfeldspieler, der in weiten Teilbereichen des Fußballfeldes einsetzbar ist und nicht stur im letzten Drittel agiert. Häufig spielt der 21-jährige den vor- oder gar vorvorletzten Pass, der statistisch nicht registriert wird, aber dem eine ebenso große Bedeutung für das Kreieren von Torchancen zukommt. Der 1,75m große Offensivspieler beherrscht es also hervorragend, seine Mitspieler in Szene zu setzen und sie besser zu machen, ihnen im Offensivdrittel als helfende Hand zur Seite zu stehen.

(Photo by PHILIPPE HUGUEN / AFP)

Diese Spielweise ist auch dafür verantwortlich, dass Ikoné auch in der laufenden Saison gute, aber nicht überragende Statistiken hinlegt. Vier Tore und sieben Vorlagen in 35 Pflichtspielen überzeugen dennoch vollends, wenn man seinen Wert für die Mannschaft und die hohe Spielintelligenz beachtet. Überdies ist Ikoné noch nicht am Ende seiner Entwicklung angelangt. Trotz sehr guter Ansätze ist er ein „ungeschliffener Diamant“, der noch einige wichtige Elemente zu seinem Spiel hinzufügen muss.

Verbessert Ikoné die Konstanz in seinem Passspiel, trifft er noch häufiger die richtige Entscheidung – besonders unter Druck – und wird der junge Franzose noch torgefährlicher, dann wird aus einem guten ein sehr guter Fußballer, dem in der Zukunft alle Türen offen stehen. Mit einer guten Restsaison würde sich bereits eine, für den Spieler relevante Tür öffnen. Nämlich die zur Europameisterschaft 2020.

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 (Photo by DENIS CHARLET / AFP) 

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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