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Journalist & Holland Experte Francois Duchateau steht 90PLUS Rede und Antwort

10. Juni 2014 | Spotlight | BY Chris McCarthy

Journalist & Holland Experte Francois Duchateau über die goldene Generation der Oranje, Jugendarbeit, van Gaal und die Erwartungen an die WM 2014.

 

90PLUS:  Wer ist Francois Duchateau?


Francois Duchateau
: Ich habe zwar einen französischen Namen, bin aber Niederländer – der als Journalist aus Deutschland berichtet (und kein Wort Französisch spricht…) und halt den Fußball aus seinem Heimatland intensiv verfolgt. Derzeit bin ich viel online für die WAZ unterwegs, unter anderem als BVB-Berichterstatter, habe aber auch internationale Auftraggeber wie Yahoo-Japan, für die ich gemeinsam mit David Nienhaus eine Bundesliga-Kolumne betreibe. Nebenher Recherchiere ich an ein paar freien Themen, unter anderem mentaler Gesundheit im Fußball.

 

90PLUS: Im Vergleich zur goldenen Generation der 90er scheint die Qualität des Oranje Kaders stetig abzunehmen. Die Jugend wird zwar nach wie vor extrem gefördert, doch warum scheitern immer wieder angebliche „Ausnahmetalente“ wie die ehemaligen U-21 „Stars“ Ryan Babel, Drenthe, Rigters oder de Ridder?

FD: Das hat – in meinen Augen – ganz einfache Gründe. Viele große Talente wechseln einfach viel zu früh ins Ausland, teilweise schon in jungen Teenagerjahren, wie beispielsweise ein Rekik. Das hat jedoch vor allem finanzielle Gründe. Seit der kommerziellen Auswucherung der Champions League ist die internationale Schere weit auseinander gegangen. Lange haben die Eredivisie-Klubs versucht, diese Lücke mit teuren Namen zu schließen, doch diese Schuldenpolitik ging nicht auf. Seit einigen Jahren hat man in den Niederlanden wieder umgedacht und die Klubs konzentrieren sich wieder auf ihre Talentakademien – mit Erfolg. Die Eredivisie hat kein Nachwuchs-Problem, im Gegenteil. Viele Spieler debütieren mit 17, 18 auf hohem Niveau und nach drei Jahren flattert ein finanziell attraktives Angebot aus dem Ausland ins Haus. Den jungen Spielern werden selbst oft Jobs für die Eltern im Ausland versprochen. Ajax hat eine Gehaltsobergrenze, etwa bei einer Mio., da ist es nur menschlich, dass die Talente früh dem Abenteuer Ausland erliegen, wo die Gehälter deutlich höher sind. Doch zu dem Zeitpunkt sind nur die wenigsten Spieler bereits reif für diesen Schritt – und kommen im Vergleich zu früher im Ausland schneller unter die Räder. Tja, und wenn ein Drenthe mit Mitte Zwanzig Gehälter gesehen hat, die nur Scheichs oder reiche Russen bezahlen, ist man nicht mehr bereit, Abstriche zu machen. Da ist die sportliche Karriere schon vorbei, ehe sie richtig begonnen hat. Luis Suarez ist der letzte Superstar, den die Eredivisie hervorgebracht hat. Er hätte schon viel früher ins Ausland wechseln können, auch zu englischen Klubs aus dem Mittelfeld, hat sich jedoch bewusst für einen längeren Verbleib in der Eredivisie entschieden – es hat sich ausgezahlt.

 

90PLUS: Patrick Vieira als auch Henry berichteten im Buch von Dennis Bergkamp wie Frankreich 1998 jubelte, als Brasilien die Niederlande im Elfmeterschießen bezwang. Das Team von Guus Hiddink galt bei den Franzosen als stärkste Mannschaft der Welt und hatte einen Kader des Prädikats Weltklasse! (Overmars, Cocu, Davids, de Boers, Kluivert, Bergkamp etc.) Trotzdem langte es mal wieder nicht zum großen Erfolg. Wieso blieb dieser „goldenen Generation“ ein Titel verwehrt?

FD: Ich habe bis heute keinen schöneren Fußball gesehen als der der Elftal 1998. Auch das besagte Halbfinale Niederlande – Brasilien ist in meinen Augen eines der WM-Spiele mit dem schönsten Fußball – beider Teams. Tatsächlich war der 1998er Kader stärker, prominenter und erfahrener als der, der 2010 ins Endspiel einzog, doch im Elfmeterschießen haben wieder einmal die Nerven versagt – allerdings auch gegen eine herausragend stark besetzte Selecao. Ich bin mir auch nicht sicher, ob sie Frankreich im Finale besiegt hätten, die einen herausragenden Spirit während des Turniers im eigenen Land entwickelt und Leader wie Petit, Deschamps, Blanc und natürlich Zidane an Bord hatten. Chancenlos wäre sie jedoch nicht gewesen. Warum diese „goldene Generation“ 1998 den Titel nicht holte, hat also ganz normale sportliche Gründe, ganz anders als 2002 unter van Gaal, wo die Egos der Stars und das noch größere Ego van Gaals aufeinanderprallten und so überhaupt eine WM-Teilnahme verhinderten.

 

90PLUS: Stichwort Elfmeterschießen: Jeder redet von den Problemen der Engländer im Elfmeterschießen. Doch die Niederlande schied sowohl bei der EM 1992 im Halbfinale, bei der EM 1996 im Viertelfinale, bei der WM 1998 im Halbfinale als auch bei der EM 2000 im Halbfinale im Elfmeterschießen aus. Ein psychisches Problem?

FD: Damals: Ja. Vor allem hatte diese Elfmeter-Geschichte über die Jahre eine große Eigendynamik entwickelt, die blockierte. Nach dem erfolgreichen Elfmeterschießen gegen Schweden bei der EURO 2004 ist das Thema jedoch nicht mehr so aktuell bei der „Elftal“. Im Gegenteil, ich glaube Spieler wie van Persie, Robben und Sneijder sind durchaus abgezockt genug, um nervlich in Brasilien zu bestehen, sollte es soweit kommen.

 

90PLUS: Seit van der Vaart & Sneijder hat Ajax keine echten Top-Spieler mehr produziert. Cruyff hat 2010 Ajax komplett umgekrempelt, man setzt nun vermehrt auf Einzeltraining. Nun scheinen sich wieder einige Talente durchzusetzen (u.a. Fisher & Blind) & Ajax hat 4 Mal in Folge die Meisterschaft gewonnen. Ist man sowohl auf Vereinsebene als auch hinsichtlich der Nationalmannschaft wieder auf dem richtigen Weg eine neue „goldene Generation“ aufzubauen?

FD: Jein. Wenn Ajax seine Spieler länger halten könnte, wäre durchaus mal wieder das Erreichen der K.o.-Runde in der Champions League drin. Bereits vergangene Saison scheiterte man nur knapp. Die Ajax-Jugendarbeit funktioniert und wird konsequent von Frank de Boer gefördert, aber jedes Jahr muss Ajax Stützen der Mannschaft ersetzen. Finanziell wird der Verein keine Risiken mehr eingehen in Zukunft, weder in Sachen Gehälter, noch Transfersummen. Mit dieser – löblichen – Politik wird man in Europa keine Bäume ausreißen und auch keine Mannschaft lange zusammenhalten können. Das wäre erst wieder möglich, wenn die Schere in Europa wieder etwas geschlossen wird. Das sehe ich trotz aller FFP-Bemühungen allerdings noch nicht.

 

90PLUS: Bei der letzten WM befanden sich 0 Spieler von Feyenoord im Kader der Niederländer. 4 Jahre später sind es 8 (die meisten bei der Oranje). Was hat sich bei Feyenoord getan und wie sind die Talente de Vrij, Boetius, Clasie und Co. zu bewerten?

FD: 2010 steckte Feyenoord in einer tiefen, finanziellen Krise. Die ist heute überwunden. Die Not war eine Tugend in Rotterdam. Feyenoord konnte kaum Spieler kaufen, musste also zwangsläufig auf Talente aus den eigenen Reihen setzen. Die Jugendarbeit ist vorbildlich und man sieht: Wenn man auf die Eigengewächse konsequent setzt, entwickeln sich diese rasant weiter. Der Verein ist heute übrigens finanziell wieder in sicherem Fahrwasser.

Einige Feyenoord-Profis werden in meinen Augen etwas zu sehr vom Bondscoach gehypet, andere hingegen verdienen sein Vertrauen. Bruno Martins Indi hat die Anlagen, auf lange Sicht Oranje-Stammspieler zu bleiben. Janmaat hat sich in den zwei Jahren – auch dank van Gaal – extrem weiterentwickelt und ist zurecht erste Wahl als Rechtsverteidiger im Moment. Europäische Clubs haben ihn längst ins Visier genommen. Stefan de Vrij wird diesen Sommer bereits den Schritt ins Ausland wagen. Er ist gut im Aufbauspiel, doch kann physisch in der Defensivarbeit noch nachlegen.

Kongolo hätte ich nicht mitgenommen nach Brasilien. Er ist noch nicht einmal in der Eredivisie richtig angekommen. So einem Jungen kann man auch schaden mit solch einer großen Verantwortung. Van Aanholt wäre als Linksverteidiger-Backup die bessere Wahl gewesen in meinen Augen. Auch Boetius und Vilhena sind Lieblinge des Bondscoaches, doch sie wurden – korrekterweise – zuhause gelassen. Eine WM käme noch viel zu früh für sie. In zwei Jahren dürften sie jedoch dabei sein, es sei denn Hiddink wird mehr Legionäre berücksichtigen, die diesmal auf der Strecke geblieben sind (wie van der Wiel, Emanuelson, ..).

Van Gaal ist Fan von Jordy Clasie, ein Spieler mit starker Technik und überragendem Passspiel. In einem 4-3-3 wäre er möglicherweise sogar gesetzt, doch er ist nicht der Stratege, der im 5-3-2 defensiv die Sicherheit geben kann, die der Systemwechsel eigentlich bringen soll. Dennoch: Ihm steht eine große Zukunft – und Gegenwart – bevor. Das hat bereits sein Traum-Assist auf Van Persie gegen Ecuador gezeigt.

 

90PLUS: Wie verlief bisher die Vorbereitung der Elftal, sind die Fans mit der Nominierung der Mannschaft zufrieden?

FD: Die Trainingslager verliefen sogar ziemlich gut. Das Verletzungs-Aus van der Vaarts ist ärgerlich, wirft die Mannschaft nicht aus der Bahn. Ganz anders bei Strootman. Nach dessen WM-Aus hat van Gaal erst begonnen, ein neues System zu entwickelt, das innerhalb der 3 Wochen vor Turnierstart eingeprügelt wird. Statt 4-3-3 holländischer Schule (Ballbesitz, Flügelspiel) soll ein reaktives 5-3-2 der Elftal Sicherheit geben. Tatsächlich könnte dieses – wenn auch ungewohnte – System die Unerfahrenheit der Eredivisie-Verteidiger kompensieren. Neben zwei lauftechnisch geforderten Verteidigern sollen die zwei Sechser de Jong und de Guzman für defensive Stabilität sorgen. Dieser Systemwechsel kommt vor allem dem fitten und formstarken Sneijder zu Gute, der sich als klassischer „Zehner“ voll entfalten darf.

Auch wenn das Trainingslager sportlich optimal verlief bisher, so gab es dennoch auch viel Kritik: Viele halten den Systemwechsel – vor allem wegen EINER Verletzung – für falsch. Man wirft zwei Jahre Vorbereitung über Bord und die Zeit, um ein neues System zu beherrschen ist ziemlich knapp. Außerdem finden viele, dass van Gaal zu viele unerfahrene Eredivisie-Spieler nominiert hat. Erfahrene Spieler wie Emanuelson wurden nur selten von ihm berücksichtigt. Aber dieses Profilieren ist typisch van Gaal: Er will der Welt zeigen, dass er mit Nonames schön und erfolgreich spielen kann.

 

90PLUS:  Hatte/hat der Medienrummel um Louis van Gaal (Wechsel zu Man United) einen negativen Einfluss auf die Mannschaft? Wie war die Reaktion der lokalen Presse auf den Wechsel?

FD: Man ist stolz und gespannt darauf, van Gaal in Manchester zu sehen. Er erfüllt sich seinen Traum vom Karriereende in der Premier League.
Kritik gab es jedoch vor allem deshalb, weil van Gaal in der Vergangenheit bewusst Spieler zuhause ließ, wenn diese in Gesprächen mit anderen Vereinen standen. Er griff hart durch, beispielsweise als van der Vaart zurück zum HSV wechselte. Der Fokus habe einzig bei der Elftal zu liegen, hieß es, sonst könne er denjenigen für die besagten Länderspiele nicht berücksichtigen. Nun zogen sich van Gaals United-Verhandlungen bis ins Portugal-Trainingslager. Diese Inkonsequenz wurde ihm massiv vorgehalten. Übrigens nicht der einzige Punkt, in der van Gaal Inkonsequenz zeigte.

 

90PLUS: Wie ist die Erwartungshaltung der Niederländer bezüglich der WM 2014, nach dem erschütternden Vorrundenaus bei der EM 2012 ist sicher Wiedergutmachung angesagt? Was ist dein Tipp?

FD: Die Erwartungshaltung ist relativ bescheiden. Vertraglich soll van Gaal Oranje ja ins Halbfinale führen, das halte ich für nahezu unmöglich. Viele halten sogar ein Vorrunden-Aus für denkbar. Der Kader ist wahnsinnig Eredivisie-lastig. Das Chile-Spiel ist entscheidend. Die Südamerikaner haben zuletzt nicht nur taktisch beeindruckt. Viele sehen es übrigens als Vorteil an, dass man im ersten Spiel auf Spanien trifft. Oft sind diese da noch nicht auf Betriebstemperatur. Man hofft auf ein Remis zum Auftakt, rechnet mit drei Punkten gegen Australien – und macht das Chile-Match zum Schicksalsspiel.
Ein frühes Aus – auch weil Brasilien im Achtelfinale warten könnte, ist 2014 also realistisch. Ich persönlich würde die WM als „erfolgreich“ ansehen, wenn man es schafft, unter die letzten Acht zu kommen, also ins Viertelfinale.

An dieser Stelle nochmal „Dankjewel“ an Francois für die interessanten Antworten und den reibungslosen und angenehmen Ablauf. Jederzeit gerne wieder! Weitere Informationen zu Francois findet ihr hier oder auf Twitter

Chris McCarthy

Gründer und der Mann für die Insel. Bei Chris dreht sich alles um die Premier League. Wengerball im Herzen, Kick and Rush in den Genen.


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