Spotlight

Milan 2001-2009: Ancelottis „Alles-Gewinner“

8. Mai 2020 | Spotlight | BY Victor Catalina

Spotlight | Mitte der Neunziger war die schwarz-rote Welt der Milan-Fans noch in Ordnung. 4:0 besiegten sie unter der Leitung von Fabio Capello Johan Cruyffs Barcelona. Doch je mehr sich das Jahrzehnt dem Ende entgegen neigte, desto mehr rutschte Milan in die Krise. Die Erlösung brachte mit Carlo Ancelotti ein Ex-Spieler.

Juventus‘ Meisterträume verschwimmen im Regen von Perugia

Eines der treffendsten Sprichwörter im Sport ist „Des einen Leid, des anderen Freud“. Im Jahr 2000 gewann Lazio Rom die Serie A und ihr in großen Spielen bisweilen glücklos wirkender Trainer Sven-Göran Eriksson bekam nach vielen Jahren seine verdiente Krönung. Die Coppa Italia gab es für die Laziali obendrauf. Das Double krönte eine märchenhafte Saison in hellblau und weiß.

Mandatory Credit: Claudio Villa /Allsport

Allerdings war die Voraussetzung für Lazios Erfolg, dass Juventus am letzten Spieltag Punkte lässt – und zwar alle. Für Juventus ging es auswärts gegen Perugia, das den Klassenerhalt schon sicher hatte. Und es ging schief, Perugia gewann 1:0. Aufgrund von starken Regenfällen musste das Spiel mit mehr als einer Stunde Verzögerung angepfiffen werden. In der kommenden Saison ging der Titel ebenfalls in die Hauptstadt, zur AS Rom. Diesmal wurde Ancelotti der Japaner Hidetoshi Nakata zum Verhägnis. Juventus führte gegen die Roma bereits 2:0, als Nakata zuerst den Anschlusstreffer erzielte und Vincenzo Montella ausglich, nachdem Edwin van der Sar einen von Nakatas Schüssen nur nach vorne abprallen lassen konnte. Nach diesem Spiel wurde Ancelotti zu den Vereinsoberen bestellt. Dort wurde ihm mitgeteilt, dass Marcello Lippi sein Nachfolger wird.

Ancelotti holt Milan aus der Krise – und andersrum

Die Beziehung zwischen Ancelotti und Juventus war ohnehin eine schwierige. Bei den Fans hatte er als Ex-Spieler der Roma und Milan von Beginn an einen schweren Stand, die Arbeit selbst beschreibt er als wäre er in einer Firma gewesen. Der familiäre Faktor, den er bei Parma hatte und bei Milan haben sollte, fehlte, so Ancelotti. Deshalb schrieb er in seiner Autobiografie über seine Zeit bei Juventus sarkastisch:

„144. Eins, vier, vier. Wie die Hotlines von früher. „Ruft an, liebe Juventus-Fans. Ich bin es, Carletto, und als echtes Schwein befriedige ich all eure Bedürfnisse, nur nicht das nach der Meisterschaft. Mit Juventus habe ich in zwei Spielzeiten 144 Punkte geholt. Ich bin zweimal Zweiter geworden. Doch Meister war am Ende immer jemand anderer, zuerst Lazio Rom, dann die AS Rom. Damals war die Hauptstadt stark. Wünschen Sie sintflutartige Regenfälle über Perugia, drücken sie die 1. Wollen Sie ein Tor von Nakata, drücken Sie die 2. Wenn Sie mit der Zentrale sprechen wollen, rufen Sie Moggi (Luciano Moggi, Manager von Juventus, Anm. d. Red.) in der Schweiz an. Der antwortet immer.“

In der Arbeitslosigkeit angekommen, bekam Ancelotti auf einmal einen Anruf. Am anderen Ende der Leitung: Adriano Galliani, Milans Vizepräsident. Das Trainerkarussell drehte sich bei den Rossoneri damals auf Hochtouren. Nachdem die Erfolgstrainer Arrigo Sacchi und Fabio Capello im zweiten Anlauf scheiterten und sich auch Uruguays legendärer Trainer Óscar Tabárez sowie Fatih Terim erfolglos versuchten, beschloss man, den verlorenen Sohn zurück in die Lombardei zu holen.

Ancelottis Wutausbruch als Initialzündung

Wie Ancelotti in seiner Autobiografie berichtet fand er bei seiner Ankunft – beziehungsweise Rückkehr – nach Mailand einen „schlampigen Haufen ohne jedes Konzept“ vor. Eine 0:2-Niederlage in Bologna nahm er zum Anlass, seine Mannschaft zu Kleinholz zu verarbeiten. Eigentlich ist Ancelotti als die Ruhe in Person bekannt, aber nach diesem Spiel explodierte er. Ancelotti haute mit der Faust auf den Tisch, trat gegen die Kabinentür, zerbrach eine Flasche und beleidigte seine Spieler einmal komplett durch. Er „zielte absichtlich dahin, wo es wehtut, und übergoss alles und jeden mit Schmähungen. Es sei ein Unterschied, ob man mal etwas Dummes tue oder ob man von Natur aus ein Dummkopf sei. Und genau für Letzteres würde ich sie in diesem Moment halten.“

(Photo by Sandra Behne/Bongarts/Getty Images)

Der Wutausbruch wirkte. Am Saisonende stand Milan auf Platz 4 und durfte in die Champions League-Qualifikation. Zuvor war man im Halbfinale des UEFA Cups an Borussia Dortmund gescheitert.

Mit dem Tannenbaum zum Titel

In seiner ersten Saison spielte Milan noch ein klassisches 4-4-2 mit Abbiati im Tor und einer Viererkette bestehend aus Cosmin Contra, Martin Laursen, Alessandro Costacurta und Paolo Maldini. Im Mittelfeld spielten Gennaro Gattuso, Andrea Pirlo, Massimo Ambrosini und Serginho. Filippo Inzaghi und Andriy Shevchenko sorgten vorne für die Tore.

Das Grundgerüst war also gegeben, es galt für Ancelotti nun, daraus eine Titelmannschaft zu formen. Schon bei seinem ersten Anruf sagte Galliani: „Ich will alles gewinnen. Wir werden Meister in Italien, in Europa und der ganzen Welt.“

Durch Zufall wurde in seiner Zweiten Saison aus dem 4-4-2 ein Tannenbaum, also ein 4-3-2-1. Zum einen, weil das vorhandene Spielermaterial mit den Neuzugängen Clarence Seedorf, Rivaldo oder Alessandro Nesta genau das hergab. Zum anderen aber auch, weil Ancelotti Andrea Pirlo auf eigenes Anraten einen Halbtonschritt nach hinten zog. Das neue System passte Milan wie angegossen. Sie dominierten ihre Gegner nach Belieben und schossen ein Tor nach dem anderen.

Das Elfmeter(ver)schießen von Manchester

Sie marschierten bis ins Halbfinale. Dort ereignete sich schließlich eine der größeren Absurditäten der Champions League. Das Derby gegen Inter stand an. Endergebnis: 0:0 und 1:1. Aufgrund des „Auswärts“treffers qualifizierte sich Milan fürs Finale. Ein riesiger Druck fiel von Ancelotti ab.

(Photo by Alex Livesey/Getty Images)

So bekam er schon in seiner zweiten Saison die Chance, auf Europas Thron Platz zu nehmen. Zuerst musste er jedoch noch an Juventus vorbei. Beide, sowohl Ancelotti als auch Marcello Lippi waren während des gesamten Spiels auf Sicherheit bedacht. Kurz und gut: Es ging bis ins Elfmeterschießen. Juventus hatte eigentlich die besseren Schützen, die an jenem 28. Mai 2003 schlechter geschossen und Milan die schwächeren, die sich allerdings durchgesetzt haben. Am Ende traf Shevchenko und Milan gewann das Elfmeter(ver)schießen 3:2. Die Juve-Fans erstarrten zu Salzsäulen in schwarz-weißen Trikots. Ancelotti: „Es sah aus, wie auf einem Poster. Ich hätte es abhängen und mit nach Hause nehmen sollen. Nur hatte ich keine Wand, die dafür groß genug gewesen wäre. Wie auch immer, liebe Fans, die ewige Sekunde lässt grüßen. Was für eine Befriedigung.“

Kaká: Das entscheidende Puzzleteil

Wirklich komplett sollte Milan allerdings erst in der kommenden Saison werden. Sie verpflichteten das entscheidende Puzzleteil aus Sao Paulo, einen gewissen Ricardo Izecson dos Santos Leite, vielen besser unter dem Namen Kaká bekannt. Ancelotti erinnerte der Brasilianer laut eigener Aussage „eher an einen Zeugen Jehovas aus einem Vorort von Mailand“. Man wusste nur, dass man nicht wusste, was man von ihm erwarten konnte. Natürlich blieben auch Witze über seinen Namen nicht aus. So höhnte Juves Manager Moggi: „Mit dem Namen ist er in Italien geliefert. Wir wollen nicht Kaka machen. Wir von Juventus setzen eher auf Verstopfung.“

Gleich im ersten Training schwebte Kaká förmlich über den Rasen des Milanello und ließ sich auch von einem Check von Milans Kampfbulldogge Gattuso nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Ancelotti bezeichnete den ersten Auftritt Kakás als Offenbarung. Er sei „einer, der im Handumdrehen versteht, der doppelt so schnell denkt, wie seine Kameraden, der schon weiß, wie eine Aktion ablaufen wird, noch bevor er den Ball bekommt.“

(Photo by FILIPPO MONTEFORTE/AFP via Getty Images)

Gleich auf Anhieb gewann Kaká mit Milan die Meisterschaft, in der darauffolgenden Saison erreichten sie erneut das Finale der Champions League. Es sollte mehr als nur denkwürdig werden, denn inzwischen schreiben wir das Jahr 2005.

Calciopoli: Die dunkle Stunde des italienischen Fußballs

Die Geschichte ist allseits bekannt: In Halbzeit eins spielte Milan die Sterne vom Himmel und führte verdient 3:0. Nach der Pause leisteten sie sich einen sechs Minuten langen Blackout, den Liverpool nutzte, um auszugleichen. Wo in der Halbzeit noch große Zuversicht war, begann nun das große Zittern und alle hatten sie das Gefühl, dass sie dieses Spiel nicht gewinnen dürfen. So kam es auch. Shevchenko, der zwei Jahre zuvor noch den entscheidenden Elfmeter verwandelt hat, schoss diesmal schwach und unplatziert – Jerzy Dudek parierte und Liverpool vollbrachte das Wunder. Und das obwohl Milan – laut Ancelotti diesmal die besseren Elfmeterschützen hatte.

Ancelotti hatte eine Menge an Aufbauarbeit vor sich. Als ob das nicht genug wäre, tobte in Italien 2005 und 2006 der Calciopoli-Skandal. Juventus wurde in Zuge dessen der Spielmanipulation überführt und zwangsweise in die Serie B abgestuft. Auch auf Milan hatten die Justiz ein Auge geworfen, Ancelotti wurde sogar von den Carabinieri, der italienischen Gendarmerie, verhört. In Milan hatten sie große Angst, um die Zukunft und den Ruf des Vereins. Letzten Endes erwiesen sich die Vorwürfe nur teilweise als tragfähig und Milan startete mit acht Minuspunkten in die Saison und musste in der Champions League-Qualifikation antreten.

Wie Ancelotti zum Liverpool-Fan wurde

Auch diesmal kamen sie bis ins Halbfinale, wo sie am späteren Titelgewinner Barcelona scheiterten. In der Saison 2005/06 ging Milan unter Ancelotti ausnahmsweise leer aus. Das sollte sich in der kommenden Saison ändern.

Denn dieses verlorene Finale wurmte die Mannschaft des AC Mailand und ihren Trainer noch immer. Sie wollten Revanche. „In dieser Phase trainierte ich eigentlich zwei Mannschaften. Offiziell den AC Mailand und innerlich den FC Liverpool“. Allerdings machte Milan damals keine gute Figur, wenngleich sie sich in der Gruppe mit Anderlecht, AEK Athen und dem OSC Lille durchsetzten. Immer, wenn der Erfolg des Vereins gefährdet ist, begann Galliani an Ancelottis Trainerbank zu sägen. So auch diesmal. Im Trainingslager auf Malta kamen sie allerdings wieder in Form. Der Rest war Schicksal.

2007: Milans Revanche

Sie schlugen im Viertelfinale den FC Bayern vor eigenem Publikum 2:0, nachdem die Münchener dank Doppelpacker Daniel van Buyten im Hinspiel spät ein 2:2 geholt hatten. Auch United wusste Ancelottis Elf nicht aufzuhalten, ein 2:3 im Old Trafford konterten sie mit einem 3:0 im San Siro. Am Abend vor ihrem Spiel saßen sie vor dem Fernseher und drückten Liverpool die Daumen. Es klappte, Milan hatte ein erneutes Treffen mit den Reds, diesmal in Athen.

Vor dem Spiel war die große Frage, wen Ancelotti aufstellen würde. Alberto Gilardino, beim 3:0 gegen United noch unter den Torschützen, war zwar fit, Ancelotti entschied sich aber trotzdem für Inzaghi, den er vor dem Spiel als „halb tot“ beschrieb. Er sollte aber Recht behalten. Per Doppelpack brachte Inzaghi Milan 2:0 in Führung, der Treffer von Dirk Kuyt war lediglich Ergebniskosmetik. Die Revanche war geglückt. Die Mannschaft feierte am Pool, nach fünf Minuten gab es am Kiosk keinen Alkohol mehr. Serginho soll während der Feierlichkeiten sogar behauptet haben, Ancelotti sei sein Vater.

(Photo by MUSTAFA OZER/AFP via Getty Images)

Der Sieg in der Champions League bedeutete auch, dass Milan berechtigt war, um den UEFA Supercup und den Titel in der Klub-Weltmeisterschaft zu spielen – beide Trophäen gingen nach Mailand. Im Supercup besiegten sie Sevilla 3:1 und im Finale der Klub-WM die Boca Juniors 4:2. Auch hier gelang ihnen die Revanche, 2003 hatten sie gegen die Argentinier noch den Kürzeren gezogen.

Ancelotti: Abschied beim zweiten Versuch

Ancelottis „Alles-Gewinner“ hatten nun also alles gewonnen. Sie waren Meister in Italien, Europa und der ganzen Welt. Teilweise mehrfach. Deshalb wollte er sich eine neue Herausforderung suchen. Real Madrid hatte sich schon lange um ihn bemüht. 2008 wurden sie konkret und legten ihm einen Vertrag vor, den er auch unterschrieb. Allerdings hatte dieser Vertrag eine Klausel: Er soll nur dann Gültigkeit erlangen, wenn Milan dem Abgang zustimmt. Diese Idee kam von Ancelotti höchstselbst. Galliani tat es letzten Endes nicht. So blieb Ancelotti noch eine weitere Saison. Ein Jahr später, dasselbe Spiel, diesmal hieß der Interessent Chelsea – und Galliani gab tatsächlich klein bei. Er ließ Ancelotti ziehen. Sein Nachfolger wurde Leonardo, der heutige Sportdirektor von PSG.

Ab hier ging es stetig bergab, mit dem siebenmaligen Europapokalsieger. Spieler, wie Inzaghi, Nesta oder Gattuso konnten nicht ansatzweise gleichwertig ersetzt werden und waren deshalb auch mit Mitte/Ende 30 teilweise noch Stammspieler. Das brachte Milan 2011 unter Massimiliano Allegri zwar noch einen Scudetto ein, aber ihren Status als europäischer Gigant hatten sie längst eingebüßt. Inzwischen haben sie seit der Saison 2013/14 kein Spiel mehr in der Königsklasse bestritten. Der Titel ging damals an? Richtig, Carlo Ancelotti, in Diensten von Real Madrid. Des einen Leid, des anderen Freud. Fast so wie 2000 und 2001. Nur, dass Ancelotti diesmal das bessere Ende für sich hatte.

Victor Catalina

Weitere Meldungen und Storys rund um den internationalen Fußball

(Photo by GIUSEPPE CACACE/AFP via Getty Images)

Victor Catalina

Mit Hitzfelds Bayern aufgewachsen, in Dortmund studiert und Sheffield das eigene Handwerk perfektioniert. Für 90PLUS immer bestens über die Vergangenheit und Gegenwart des europäischen Fußballs sowie seine Statistiken informiert.


Ähnliche Artikel