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Mourinhos Porto: Der letzte Überraschungssieger der Champions League

16. April 2020 | Spotlight | BY Victor Catalina

Spotlight | Eine junge Mannschaft zu prägen, ist das eine. „Es ist extrem schwierig, den Stil von Spielern zu beeinflussen, wenn sie nicht mehr jung sind“, sagt der portugiesische Fußballanalyst Tiago Estêvão. Noch schwieriger ist es, dann auch noch Erfolg zu haben. Doch José Mourinho gelang mit Porto beides. Es war – bis heute – der letzte Sieg eines Underdogs in der Champions League.

Mourinho: Der Meister – und Schüler

Seit nunmehr einem Monat liegt der Fußball schon auf Eis. Sollte es eine Fortsetzung geben, dann nur vor leeren Rängen, betonen Politiker und Wissenschaftler unisono. Es könnte also gut sein, dass dieses Spiel in der Champions League, RB Leipzigs 3:0-Sieg gegen Tottenham, für längere Zeit das letzte, ausverkaufte Spiel in Deutschland war.

Während dieser 90 Minuten ließ RB dem letztjährigen Finalisten keine Chance und gewann auch in der Höhe verdient nach zwei Spielen 4:0. José Mourinho blieb nichts anderes übrig, als seinem jüngeren Kollegen Julian Nagelsmann zu gratulieren. Eine Szene mit Symbolcharakter. Denn auch Mourinho war mal der junge Trainer, der die großen Namen geärgert hat.

(Photo by ADRIAN DENNIS/AFP via Getty Images)

Das Spiel, das die Saison des FC Porto veränderte

2003/2004 war die Saison des FC Porto und auch die, die den Namen José Mourinho endgültig auf die europäische Fußballbühne brachte. Das Meisterstück lieferten seine Mannschaft und er im Achtelfinale. Der Gegner: Manchester United – damals eine der besten Mannschaften weltweit. José Mourinho hat im Nachhinein zugegeben, dass die Chance aufs Weiterkommen anfangs nicht besonders groß war. In der DAZN-Doku „Making Of“ sagte er: „Üblicherweise wurden portugiesische Teams immer von englischen Teams ausgeschaltet, ohne auch nur eine Chance aufs Weiterkommen zu haben.“ Aber Porto kam mit viel Selbstvertrauen. In der Vorsaison haben sie das „kleine“ Triple aus Meisterschaft, Pokal und UEFA Cup geholt und in dieser waren sie national noch ungeschlagen und Tabellenführer. Dieses Selbstvertrauen münzten sie in einen für die Öffentlichkeit überraschenden 2:1-Sieg im Estadio Do Dragao um. Den Treffer des Südafrikaners Quinton Fortune konterte sein Landsmann Benni McCarthy mit einem Doppelpack.

Es sah so aus, als hätte ein portugiesisches Team plötzlich doch eine Chance gegen einen Konkurrenten von der Insel. Allerdings stand für Porto nun der Härtetest im Old Trafford an. Jeder Sieg, jedes Unentschieden und jede Niederlage mit einem Tor Differenz – außer 0:1 – würden Porto zum Weiterkommen reichen. Und auch sie selbst glaubten plötzlich daran: „Wir traten im Old Trafford mit dem Gefühl an, eine Chance zu haben, weiterzukommen. Wir kannten natürlich die Schwierigkeiten, aber wir waren überzeugt, dass wir es schaffen können.“, so Mourinho.

(Photo by MIGUEL RIOPA/AFP via Getty Images)

Mourinhos Porto: Defensiv- und spielstark

Was genau aber machte Porto damals so stark? Man kann sie als Kontermannschaft bezeichnen, das ist aber nur die halbe Wahrheit. Ja, sie waren defensiv sehr gut. Aber durch ihr aggressives Anlaufen aus dieser kompakten Defensive heraus, ergaben sich zwangsläufig Räume für die Angreifer. Was keineswegs heißen soll, dass sie nicht auch spielerisch sehr stark waren. Mourinho ließ seine Mannschaft meistens im 4-3-1-2 oder 4-4-2 spielen, bei ersterem manchmal auch mit Raute. Das kam darauf an, wie weit der defensive Mittelfeldspieler Costinha mit nach vorne kam. Jedenfalls hatte Porto mit diesen Taktiken gegen den Ball einen perfekt aufeinander abgestimmten und deshalb nur schwer zu durchbrechenden Block aus Abwehr und Mittelfeld.

Mourinhos Plan war, dass sich die Gegner in genau diesem Abwehrnetz verfangen. War der Ball einmal gewonnen, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder ein Teil des Mittelfeldtrios stößt nach vorne und übergibt ihn an das Angriffstrio. Oder der Innenverteidiger Ricardo Carvalho liefert ihn mit einem präzisen, langen Ball direkt vorne ab. Das Ziel war, so schnell wie möglich zuzuschlagen, sobald sich eine Überzahlsituation ergibt. Diese konnte im Angriff auch durch einen aufrückenden Außenverteidiger unterstützt werden. Linksverteidiger Nuno Valente war dahingehend im Vergleich zu Paulo Ferreira der offensivere Part.

War der Ball einmal vorne angekommen, schlug die Stunde des Regisseurs Deco. Ein extrem kreativer Zehner mit außergewöhnlichen Fähigkeiten im Dribbling und einem Talent für präzise Steckpässe. Diese kamen in der Saison 2002/03 bei Helder Postiga und Derlei an, ein Jahr später wurde Ersterer wahlweise durch Carlos Alberto oder Benni McCarthy ersetzt.

Somit war Porto in einen defensiven und einen offensiven Block unterteilt. Während die Defensive stur nach Rezept kochte, genoss die Offensive alle Freiheiten. Das Zauberwort heißt hier: Periodisierung.

Keine einstudierten Spielzüge

Man muss wissen, dass José Mourinho nie Profifußballer war. In einem Interview verriet er kürzlich, dass der Trainer José Mourinho absolut keine Verwendung für den Spieler José Mourinho hätte. Das fehlende Wissen musste er sich also woanders aneignen. Und zwar beim legendären englischen Trainer Sir Bobby Robson zu seiner Zeit bei Sporting, Porto und Barcelona. Mourinho war damals Co-Trainer. Später assistierte er in Barcelona auch Louis van Gaal. Einer seiner Spieler damals: ein gewisser Pep Guardiola.

(Photo by Shaun Botterill/Allsport/Getty Images)

Ähnlich wie van Gaal, der zu seiner Zeit bei Ajax Experten aus anderen Sportarten zurate zog, holte sich Mourinho bei Porto Wissenschaftler ins Boot. Manuel Sérgio, ein Professor aus Lissabon brachte ihm die Wichtigkeit von Psychologie, öffentlichem Reden und Sportwissenschaften bei.

Mit Vítor Frade arbeitete Mourinho in Porto zusammen. Er begeisterte ihn für das Konzept der Periodisierung. Das heißt im Klartext: Das Training richtet sich – konträr zu dem von Louis van Gaal – nicht nach einstudierten Spielzügen, sondern setzt mehr auf den taktischen und physischen Aspekt. Die Spieler werden mit Spielsituationen konfrontiert und müssen eigenständig Lösungen dafür finden.

Jede Trainingseinheit war minutiös durchgetaktet und in den gesamten Trainingsplan integriert. Das Ziel der Periodisierung ist, zu einem gewünschten Zeitpunkt – in dem Fall, zum Spiel – die bestmögliche Leistung zu erbringen. Dafür wird das Training minutiös – und, vor allem: zyklisch – angelegt. Daher auch der Name. Man trainiert in Perioden. Neben den Taktiken war diese Art des Trainings, zusammen mit Mourinhos fortschrittlicher, fußballerischer Denkweise, wesentlich für den Erfolg bei Porto.

Die magische Nacht von Manchester

Jetzt mussten sie ihre Fähigkeiten nur noch auf der großen Bühne, dem Rasen des Theaters der Träume, zeigen. Zur Erinnerung: Porto gewann das Hinspiel 2:1. Mourinhos bevorzugte Taktik war diesmal ein 4-4-2. Zwei Viererketten gegen Uniteds geballte Offensive bestehend aus Paul Scholes, Ryan Giggs, Ruud van Nistelrooy sowie dem in der zweiten Halbzeit eingewechselten Cristiano Ronaldo, für den kurz darauf verletzungsbedingt Ole Gunnar Solskjaer kam.

Mourinho bereitete seine Mannschaft deshalb schon vor dem Spiel auf den Fall der Fälle vor: „Unsere Vorbereitung auf das Spiel basierte auf der Annahme, dass es schwierig werden würde, im Old Trafford keine Gegentore zu kassieren. Wenn wir also eines kassiert hätten, hätte es nichts geändert. Wir wussten genau, dass wir immer ein Gegentor kassieren konnten, von diesem Team mit Scholes, Giggs, van Nistelrooy, mit ihrer Beweglichkeit und dem Druck, den das Old Trafford einem auferlegt.“ Und genauso kam es auch. Nach einer guten halben Stunde spielte Ryan Giggs einen Doppelpass mit Verteidiger John O’Shea und der servierte von der linken Grundlinie eine perfekte Flanke auf den Kopf von Paul Scholes – 1:0. Auch Sir Alex Ferguson zuckte an der Seitenlinie mit dem Kopf, als wollte er gerade selbst das Tor erzielen.

(Photo by Laurence Griffiths/Getty Images)

Nun war also das eingetreten, was man auch von Seiten Portos als sehr wahrscheinich erachtete, United führte und Porto brauchte den Auswärtstreffer. Viel mehr defensive Unzulänglichkeiten sollte sich Porto jetzt aber nicht mehr erlauben. Kurz vor der Pause, 45. Minute, zog Giggs nach einem United-Freistoß im Strafraum ab und Scholes stocherte den Ball rein. 2:0? Nein, die Fahne war oben, aber sie hätte eigentlich nicht oben sein dürfen, Scholes stand klar nicht im Abseits. Glück für Mourinho und die Seinen, trotzdem lagen sie zur Pause zurück und wären virtuell ausgeschieden.

Das Momentum kippt in Halbzeit zwei

Auch Mourinho sollte später zugeben: „Hätte es in diesem Spiel einen VAR gegeben, wäre es ein Tor gewesen,“, und legte in seiner Art nach „aber hätte es VAR während meiner gesamten Karriere gegeben, hätte ich anstelle von 25 Titeln schon 50 gewonnen.“

In der Halbzeit änderte er nichts. Lediglich, wenn es in den letzten 15-20 Minuten immer noch 1:0 stehen sollte, wollte er Änderungen vornehmen. Zu Beginn der zweiten Hälfte zog Porto sein bekanntes Passspiel auf und erarbeitete sich gleich eine Chance durch Maniché, der später auch für den 1. FC Köln spielte. Tim Howard faustete den abgefälschten Schuss im Rückwärtslaufen von der Linie. Wenig später durfte Carlos Alberto am rechten Pfosten vorbeischießen. Aber – Porto kam, sie kamen mit Selbstvertrauen und waren endgültig im Spiel angekommen. Und je länger das Spiel dauerte, desto mehr zog sich United zurück. Aber noch immer hatte der Treffer von Paul Scholes aus Minute 32 Bestand. Im Old Trafford machte sich langsam aber sicher Nervosität breit.

Uniteds Verunsicherung ist Portos Vorteil

Genau das spielte Porto und José Mourinho in die Karten: „Wir waren uns der Situation bewusst. Das Ziel für Hälfte zwei war es, die Organisation beizubehalten, bis zu dem Moment, in dem wir ein Team angreifen konnten, für das der Druck zu groß schien. Ich weiß noch genau, dass es neu für mich war, das gibt es in Portugal nicht. Die Ersatzbank war neben den Fans. Ich weiß genau, ich blickte zur Seite und analysierte die Körpersprache und die Gesichtsausdrücke der Fans.“

„Ich sah mich um und sah die Ersatzbank von Manchester, die war nur drei oder vier Meter von uns entfernt, und da sah man genau diesen Ausdruck der sich ansammelnden Anspannung. Sie hatten das Gefühl, dass sie echt gefährdet waren, dass die Gefahr lauerte. In meiner gesamten Karriere in der Champions League, mit mehr als 150 Matches, habe ich diese Situation selbst erlebt, eigentlich im Vorteil zu sein, aber gleichzeitig zu spüren, dass es immer schwieriger wird, du spürst, dass dir die Kontrolle entgleitet. Genauso fühlten sie sich. Genau in diesem Moment begannen wir, Druck zu machen. Das sah dann so aus, dass sich das Spiel in den letzten 15 oder 20 Minuten in ihrem Abwehrdrittel abspielte und wir spürten, dass das Momentum auf unserer Seite war.“

Es läuft inzwischen die 90. Minute. Der eingewechselte Edgaras Jankauskas zieht einen allerletzten Freistoß aus 20 Metern halblinker Position. Die Fans, egal ob schwarz-weiß-rot oder blau-weiß, hielten sich die Hände vors Gesicht. Man wollte wegsehen, aber irgendwie ließ diese Spannung auch das nicht zu. Benni McCarthy nahm Maß, zog ab, Howard fischte die Kugel aus dem Winkel, ließ sie aber nach vorne abprallen. So stand Costinha auf einmal frei vor einem leeren United Tor – 1:1. Mourinho sprang von seinem Sitz auf und sprintete jubelnd die Linie entlang zu Mannschaft und Fans.

Porto krönt sich zum König der Underdogs

Es war ein Moment zum Ausschneiden. Letzte Minute, Ausgleich – und dann auch noch vor den eigenen Anhängern. Und die alte Regel, dass portugiesische Teams gegen englische chancenlos sind, war damit hinfällig. Nuno Valente grätschte in der letzten Minute der Nachspielzeit noch einen Schuss von der Linie, dann war es geschafft: Porto hatte es mit Manchester United und dem Old Trafford aufgenommen – und gewonnen.

Es ist aber bei Weitem nicht so, dass United mit seinem Schicksal allein dastehen würde. Die Saison 2003/04 war eine der Underdogs. Im Viertelfinale nahm der AC Mailand gegen Deportivo La Coruna ein scheinbar komfortables 4:1 mit ins Riazor – nur um dort 0:4 zu verlieren. Und auch Real Madrid reichte ein 4:2 gegen Monaco nicht fürs Halbfinale. Im Fürstentum setzte es ein 1:3.

Parallel dazu, brachte Porto ein 2:0 gegen Lyon auswärts mit einem 2:2 ins Ziel. Und auch die Entfesselungskünstler aus Galizien wussten die Mannschaft von José Mourinho im Halbfinale nicht aufzuhalten. Nach einem 0:0 vor eigenem Publikum gewann Porto im Riazor mit 1:0 – Finale.

In Gelsenkirchen ging es gegen den AS Monaco, der mit den Offensivspielern Fernando Morientes und Jérôme Rothen auch besser ins Spiel kam. Die Monegassen hatten nach knapp 20 Minuten allerdings einen schweren Schlag hinzunehmen, Kapitän Ludovic Giuly musste verletzt ausgewechselt werden.

Porto wusste nun genau, was sie zu tun hatten. Ein Tor erzielen – und warten, dass der Gegner nervös wird. Der Plan ging auf, in Minute 39 bezwang Carlos Alberto Torhüter Flavio Roma aus zwölf Metern – 0:1.

Deco macht den Deckel drauf

In der zweiten Hälfte stand Portos Mittelfeldraute um Maniché und Costinha sicher, es war eine Frage der Zeit, bis sie das 0:2 nachlegten, die Torgefahr Monacos bewegte sich ohne ihren Kapitän im Ungefähren. Minute 71, Deco legt im Zuge eines Konters links raus zu Alenichev, bekommt den Ball wieder zurück – und entscheidet das Spiel – 0:2. Prinz Albert von Monaco auf der Tribüne war bedient.

(Photo by Shaun Botterill/Getty Images)

Vier Minuten später, nächster Konter, Derlei bedient Alenichev mit einem sensationellen Außenristpass und der Russe lässt sich frei vor Flavio Roma nicht zweimal bitten – 0:3. Hatte Monaco nach dem 0:2 noch einen Funken Hoffnung, mit einem eigenen Treffer wieder ins Spiel zu finden, so war auch das mittlerweile Makulatur. Das Spiel war entschieden und Porto zum zweiten Mal nach 1987 und Madjers Hacke auf Europas Thron.

Aus Mourinho wird „The Special One“

José Mourinho brachte dieser Erfolg den Trainerposten beim FC Chelsea ein. Dort wurde er auf seiner Antrittspressekonferenz zu „The Special One“. Er beeindruckte auch weiterhin. In der Premier League kassierte sein Team gerade einmal 15 Gegentore in 38 Spielen und wurde mit 95 Punkten souverän Meister. Beides Rekord, letzterer hatte bis 2018 Bestand, als Pep Guardiola und Manchester City 100 Punkte holten. Im gleichen Jahr sollte auch Monacos damaliger Trainer, Didier Deschamps, noch einen nicht ganz unwichtigen Titel gewinnen.

Und „The Special One“? Er gewann noch ein Triple mit Inter Mailand, aber nach dem zweiten Engagement bei Chelsea 2014/15 verblasste sein Glanz zunehmend, trotz eines weiteren Titels 2017 mit Manchester United in der Europa League. José Mourinho könnte sich im diesjährigen Achtelfinale vielleicht ein bisschen wie Sir Alex Ferguson 2004 gefühlt haben. Beide bekamen von einem jungen Trainer die Grenzen aufgezeigt. Dass Nagelsmann und RB allein deswegen diese Saison schon Titelpotential haben, darf bezweifelt werden, denn im Fußball zählt das Gesetz der Serie schließlich wenig. Das wurde schon 2004 klar, als José Mourinho etwas Einzigartiges mit dem FC Porto gelang: Sie sind bis heute die letzte Mannschaft außerhalb der fünf Topligen, die den Titel in der Königsklasse gewonnen hat. Ein echter Überraschungssieger.

Victor Catalina

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(Photo by Alex Livesey/Getty Images)

Victor Catalina

Mit Hitzfelds Bayern aufgewachsen, in Dortmund studiert und Sheffield das eigene Handwerk perfektioniert. Für 90PLUS immer bestens über die Vergangenheit und Gegenwart des europäischen Fußballs sowie seine Statistiken informiert.


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