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Warum Neapel reif für den „Scudetto“ ist

23. Oktober 2017 | Spotlight | BY Manuel Behlert

Seit nunmehr 27 Jahren warten die Fans des SSC Neapel auf eine Meisterschaft. Der Triumph in der Serie A in der Saison 1989/90 unter Trainer Alberto Bigon und mit Spielern wie Marco Baroni, Ciro Ferrara, Massimo Crippa, Gianfranco Zola und Kapitän Diego Maradona ist bis heute unvergessen, zuletzt musste man sich in Neapel mit dem Supercup (2014) und dem italienischen Pokal (2012 und 2014) begnügen. Der Hunger nach einem großen Titel ist groß. Und könnte schon bald gestillt werden.

Der ganze Verein, angefangen bei Präsident Aurelio De Laurentiis, bis hin zum jüngsten Fan fiebert dem entgegen. Die frenetischen Fans, die das Stadio San Paolo regelmäßig zu einem Hexenkessel machen, treiben die Mannschaft nach vorne. Nach einer guten letzten Saison mit Platz 3 in der Liga soll nun der große Schritt gelingen.

Juve-Dominanz vorbei?

Bevor man die Entwicklung beim SSC Neapel thematisiert, muss man feststellen, dass die ganz große Dominanz von Juventus Turin vorbei zu sein scheint. Natürlich ist die Mannschaft von Trainer Massimiliano Allegri immer noch eine absolute Spitzenmannschaft, der Verlust von Dani Alves und Bonucci in der Abwehr, die Tatsache, dass Lichtsteiner der Rechtsverteidiger Nummer 1 ist und im Defensivzentrum Chiellini, Barzagli und auch Schlussmann Buffon nicht jünger werden, lässt sich nicht leugnen. Juventus ist, das ist klar, zu Höchstleistungen fähig. Doch ob man die zuletzt gezeigte Konstanz in dieser Saison aufrecht erhalten kann, bleibt nach einer Heimniederlage gegen Lazio, einem Remis bei Atalanta und dem chancenlosen 0:3 in Barcelona zumindest fraglich.

(Photo by Dino Panato/Getty Images)

In der vergangenen Saison hatte Juventus am Ende 91 Punkte und 4 Zähler Vorsprung auf den Verfolger aus Rom, 2015/16 waren es 9 Punkte Vorsprung, 2014/15 sogar 17. In dieser Zeit ist Juventus keineswegs eklatant schwächer geworden, die anderen Mannschaften haben durch kontinuierliche, gute Arbeit aufgeholt und die Titelserie der „Alten Dame“, die nun seit 2012 anhält, könnte ihr Ende finden. Der letzte Klub, der vor Juventus die Meisterschaft erringen konnte, war der AC Mailand im Jahr 2010/11, als in Turin noch Luigi Delneri auf der Trainerbank saß und Spieler wie Zlatan Ibrahimovic, Robinho und Alexandre Pato für Milan stürmten.

Der Saisonstart des SSC Neapel

Der Kader wurde vor der laufenden Saison verstärkt. Namhafte Abgänge musste Napoli nicht verzeichnen, lediglich Ergänzungsspieler wie Strinic oder Zapata verließen den Klub. Viele Neuzugänge gab es allerdings auch nicht, denn die Basis stimmte, es sollten lediglich Kleinigkeiten in der Kaderbreite angepasst werden. Mit Nikola Maksimovic wurde ein serbischer Innenverteidiger verpflichtet, der 20 Millionen Euro kostete, das kroatische Mittelfeldtalent Marko Rog kam aus Zagreb, Mario Rui wurde von der Roma ausgeliehen und für die Außenbahnen wurde der talentierte Adam Ounas aus Bordeaux verpflichtet. Nun hatte man mehr Optionen, der Konkurrenzkampf wurde verstärkt. Und das zahlte sich aus! Zwar steht man in der Champions League unter Druck, hat erst einen Sieg aus drei Spielen eingefahren, dafür läuft es in der Liga reibungslos.

(Photo by ALBERTO PIZZOLI/AFP/Getty Images)

Denn aus den bisherigen 9 Spielen konnte der SSC Neapel 25 Punkte einfahren, blieb nur beim 0:0 gegen Inter Mailand am vergangenen Wochenende ohne Sieg. Die anderen Ligaspiele, teilweise wie beim 1:0 gegen die Roma auch gegen Topgegner, wurden souverän gewonnen, Lazio schlug man in deren Stadion gar mit 4:1, Aufsteiger Benevento wurde mit 6:0 nach Hause geschickt. Zusätzlich zu den starken 25 Punkten sticht noch das Torverhältnis von 26:5 hervor, lediglich Juventus kann bei der Tordifferenz mithalten, der Punktevorsprung von Neapel beträgt 2 Zähler auf Inter Mailand, 3 auf Juventus und Lazio und 7 auf die Roma, die aber noch ein Nachholspiel gegen ein starkes Sampdoria zu absolvieren hat.

Neapel unter Maurizio Sarri

Neben den hervorragenden Einzelspielern und einer über Jahre hinweg klugen Transferpolitik hat der Erfolg des SSC Neapel vor allem einen Namen: Maurizio Sarri. Der 58-jährige, dessen Trainerkarriere vor seiner Amtszeit in Neapel eher unter dem Radar verlief, prägt den Klub seit 2015 mit seinem Spielstil. Zuvor feierte er Erfolge beim FC Empoli, stieg in die Serie A auf und manövrierte sich so in den Fokus des SSC Neapel. Zu seinen vorherigen Trainerstationen gehören Perugia, Avellino, Pescara und Hellas Verona, in Neapel übernahm Sarri die Nachfolge von Rafael Benitez. Sofort wurden die taktischen Veränderungen sichtbar, Hamsik agierte nicht mehr als klassischer 10er, sondern wurde etwas zurückgezogen, spielte in einem Dreiermittelfeld auf einer Halbposition. Es begann eine Entwicklung weg von immenser Wucht und Dynamik, hin zu Spielkontrolle und einem geordneten Aufbau, es wurde mehr Wert auf Technik gelegt.

(Photo by ALBERTO PIZZOLI/AFP/Getty Images)

Die Außenbahnen mit Hysaj und Callejon (rechts) und Ghoulam und Insigne (links) harmonieren sehr gut, Mertens im Angriffszentrum weicht gerne aus, lässt sich fallen und ist trotzdem extrem torgefährlich. Zudem gibt es abweichend von der Stammelf gute Ergänzungen und tolle Optionen, wie den zurzeit leider verletzten Milik als klassischere Alternative im Sturmzentrum oder wie einen physisch starken Diawara im Mittelfeldzentrum. Zudem entwickelte sich in den Jahren unter Sarri ein effektives Pressing und Gegenpressing, der Coach hat ein klares Ziel vor Augen und arbeitet akribisch mit der Mannschaft. Seit seinem Amtsantritt wurde man peu a peu besser, konnte sich zuletzt über weite Strecken auf Augenhöhe mit Manchester City messen und wird auch aus dieser Niederlage einiges mitnehmen. Vor allem ist diese Entwicklung noch nicht vorbei, der Vertrag von Sarri läuft noch bis 2020.

Die Schlüsselspieler des Klubs

Wichtig ist natürlich, dass der Kern der Mannschaft seit Jahren zusammenspielt. Spieler wie Raul Albiol, Insigne, Jorginho, Hamsik kennen sich seit geraumer Zeit, die Abläufe passen, die Mannschaft wirkt sehr homogen und ist klug zusammengestellt. In der Defensive hat neben dem erfahrenen Spanier Albiol vor allem der 26-jährige Kalidou Koulibaly das Sagen. Der in Frankreich geborene und für den Senegal spielende Innenverteidiger ist unangefochtener Stammspieler, kam 2014 für 7,5 Millionen Euro aus Genk und zog zuletzt das Interesse einiger Topklubs wie Chelsea auf sich. Unter 50-60 Millionen wird Neapel aber keinesfalls über einen Verkauf nachdenken. Die eben bereits angesprochenen Außenverteidiger Hysaj und Ghoulam sind ebenfalls sehr wichtig, sorgen für die Balance und komplettieren eine eingespielte Abwehr.

Im Mittelfeld häufig unterschätzt wird Jorginho. Der 25-jährige Brasilianer ist ein elementar wichtiger Baustein im Sarri-Mittelfeld. Er verfügt über ein gutes Passspiel, harmoniert mit Hamsik, Allan oder auch Zielinski und sorgt für Struktur. Er spielt häufig unauffällig, hat aber einen unermesslichen Wert für die Mannschaft. Auch er wurde 2014 verpflichtet, kostete damals nur 9,5 Millionen Euro. Ebenfalls wichtig ist der 30-jährige Slowake Marek Hamsik.

(Photo by ALBERTO PIZZOLI/AFP/Getty Images)

Der Mannschaftskapitän spielt schon seit 2017 für Neapel, kam damals für 5,5 Millionen Euro aus Brescia. Er ist die Identifikationsfigur im Klub, ist torgefährlich, laufstark und sich vor allem nicht zu schade, auch einmal Defensivarbeit zu verrichten. Die wichtigste Personalie im Dreierangriff ist wohl der Belgier Dries Mertens. Mit 30 Jahren ist er so gut in Form wie nie zuvor, 2013 wurde er für knapp 10 Millionen Euro aus Eindhoven verpflichtet, verbesserte sich seitdem stetig. In dieser Saison gelangen ihm 9 Tore und 5 Vorlagen in 14 Spielen, ein Ende dieser Serie ist nicht in Sicht.

Die Konkurrenz schläft nicht

Beim SSC Neapel klingt derzeit also alles sehr positiv. Und das ist es auch! Als fußballerisch wohl beste Mannschaft der Serie A wurden bislang auch die nötigen Ergebnisse eingefahren. Der Weg zur Meisterschaft könnte also bereits geebnet sein, wäre da nicht die in dieser Saison offensichtlich sehr hartnäckige Konkurrenz. Inter Mailand zeigte bereits im direkten Duell, dass man mit dem Spalletti-Team rechnen muss, spielt zudem nicht im Europapokal. Mit dem Stadtrivalen von Inter, dem AC Mailand, rechnete man vor Saisonbeginn auch. Aber trotz großer Investitionen steht man nur im Mittelfeld der Liga. Dafür ist Lazio etwas überraschend oben dabei, schlug Juventus in deren Stadion und meldete dadurch Ansprüche an.

Auch die Roma, besonders wenn sie ihr Nachholspiel gewinnt, und natürlich Serienmeister Juventus, das vielleicht etwas angezählt, aber wohl auch angestachelt ist, wollen ein Wort im Titelkampf mitreden. Es sind erst 9 von 38 Spielen absolviert, mehr als erste Tendenzen sind noch nicht auszumachen. Napoli wird noch viel arbeiten und enge Spiele für sich entscheiden müssen, muss überdies vom großen Verletzungspech verschont bleiben und kleinere Krisen schnell überwinden. Dann könnte durchaus etwas möglich sein. Und die Fans würden ihren Traum vom ersten „Scudetto“ seit dann 28 Jahren erfüllt bekommen. Die Entwicklung im Team, die Zusammenstellung des Kaders und der Trainer sprechen dafür.

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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