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Weißt du noch? 28. Oktober 2006 – Unfassbarer Thriller im Derby della Madonnina

20. Oktober 2018 | Weißt du noch...? | BY Marius Merck

Die beiden Mailänder Klubs gehören in Europa noch immer zu den ruhmreichsten Vereinen, jedoch sind sportliche Erfolge – vor allem wegen der unglaublichen Dominanz von Juventus – seit längerer Zeit non-existent. Pünktlich zum Derby della Madonnina springen wir zurück ins Jahr 2006: Juventus befindet sich zu jenem Zeitpunkt wegen des „Calciopoli“ in der Serie B – und die Mailänder Klubs sollten in dieser Abwesenheit national und international dominieren. An jenem Abend duellierten sich im Guiseppe Meazza zwei absolute Weltauswahlen und sorgten für ein unglaubliches Spektakel.

 

Die Vorzeichen

Auf dem Papier hatten die Mailänder Vereine in den späten 1990er wie auch in den frühen 00er Jahren stets eine Mannschaft, die einer Weltauswahl gleich kam. Das wesentliche Geschehen in der Serie A dominierten jedoch andere weitestgehend andere Klubs: So hießen die ersten Meister des neuen Jahrtausend Lazio Rom, AS Rom sowie gleich zwei Mal Juventus Turin. In der Saison 2003/04 funkten die „Rossoneri“ – danke eines überragenden Jungstars Kaka – zwar kurz dazwischen, eine wahre Dominanz vermochte Milan auf nationaler Ebene nicht aufzubauen. In den nächsten beiden Jahren ging der Titel abermals vorerst an die „Alte Dame“. Milan legte auf der anderen Seite in dieser Epoche unter Trainer Carlo Ancelotti den Fokus weitestgehend auf die Champions League. So gewann man 2003 die Königsklasse, um einen weiteren Triumph brachte man sich zwei Jahre später selbst, als man gegen den FC Liverpool eine 3:0 Führung zur Halbzeit noch verspielte.

Von diesem internationalen Glanz konnte Stadtrivale Inter zu jener Zeit nur träumen, auch auf nationaler Ebene reichte es für die „Nerazzurri“ nie für den ganz großen Wurf, trotz zweimaliger Transfer-Weltrekorde für Ronaldo und Christian Vieri in den Jahren 1997 sowie 1999. In der Saison 2001/02 verspielte man am letzten Spieltag den Titel noch auf dramatische Weise. Im Jahr 2003 gelang Inter wenigstens einmal der Sprung ins Halbfinale der Champions League, doch dort war ausgerechnet gegen den Stadtrivalen und späteren Sieger AC Milan Schluss. Immerhin gelang in der Saison 2005/06 der Gewinn der Vizemeisterschaft, diese Platzierung sollte aber noch weitreichendere Folgen haben.

(Photo by Sandra Behne/Bongarts/Getty Images)

Im Sommer 2006 erschütterte der „Calciopoli“ den italienischen Fußball. Rekordmeister Juventus Turin wurden die Meistertitel aus den Jahren 2005 und 2006 nachträglich aberkannt – damit konnte Inter rückwirkend die Meisterschaft seit 1989 feiern. Die „Bianconeri“ mussten zudem den Gang in die Serie B antreten. Auch Milan war in den Skandal involviert, die „Rossoneri“ starteten in die Saison 2006/07 mit einem Minus von acht Punkten. Für die Leistungen aus der Vorsaison musste der Klub gar 30 Punkte Abzug hinnehmen, was trotzdem gerade so noch die Teilnahme der Königsklasse genügte.

Inter betrieb bei dem gefallenen Primus Juventus dann noch ordentlich „Leichenfledderei“, da unter anderem auch Zlatan Ibrahimovic und Patrick Vieira keine Lust auf eine Erfahrung in der Serie B hatten. Auf einmal war der über Jahre auf großer Ebene erfolglose Gigant die unangefochtene Nummer 1 auf nationaler Ebene – und damit absoluter Topfavorit auf den Gewinn des Scudetto. Bei Milan deutete sich hingegen früh an, dass die Mannschaft – vor allem wegen den acht Punkten Abzug zum Saisonstart – den Fokus abermals auf die Champions League legen würde.

Dennoch wurde das Derby della Madoninna im Oktober 2006 mit großer Spannung erwartet, duellierten sich doch nun die auf dem Papier beiden stärksten Teams Italiens. Inter ging dabei deutlich favorisiert in das Aufeinandertreffen. Die „Nerazzurri“ standen zu jenem Zeitpunkt auf dem ersten Platz in der Serie A, die Mannschaft von Trainer Roberto Mancini war noch ungeschlagen, fünf Siegen standen drei Unentschieden gegenüber. Den Platz an der Sonne hatte das Team am Spieltag zuvor durch ein 4:1 gegen Livorno erobert. Auch Milan kam eigentlich gut aus der Startlöchern, jedoch vermochte die Tabelle dies wegen der erhaltenen Hypothek von Minus acht Punkten nicht so auszudrücken: Die „Rossoneri“ sammelten bis dahin vier Siege und drei Remis, die bis dahin einzige Niederlage gab es gegen das in diesem Jahr überraschend starke Palermo (am Ende Fünfter!). Die Mannschaft von Ancelotti lag vor dem Derby auf dem zwölften Rang.

 

Statistik

AC Milan

Aufstellung: Dida – Cafu, Alessandro Nesta, Kakhaber Kaladze, Marek Jankulovski (46. Paolo Maldini) – Gennaro Gattuso, Andrea Pirlo, Massimo Ambrosini (46. Ruben Oliveira) – Kaka, Clarence Seedorf – Filippo Inzaghi (46. Alberto Gilardino)

Trainer: Carlo Ancelotti

 

Inter

Aufstellung: Julio Cesar – Maicon, Ivan Cordoba, Marco Materazzi, Fabio Grosso (59. Nicolas Burdisso) – Patrick Vieira, Olivier Dacourt (59. Luis Figo), Javier Zanetti – Dejan Stankovic – Hernan Crespo, Zlatan Ibrahimovic (83. Walter Samuel)

Trainer: Roberto Mancini

 

Verlauf

Tor: 0:1 Crespo (17.); 0:2 Stankovic (21.); 0:3 Ibrahimovic (47.); 1:3 Seedorf (50.); 1:4 Materazzi (69.); 2:4 Gilardino (75.); 3:4 Kaka (91.)

Gelbe Karten: Gattuso, Inzaghi, Seedorf, Gilardino – Vieira, Maicon, Materazzi, Cesar, Burdisso

Gelb-Rote Karte: Materazzi (69.)

(Photo by PACO SERINELLI/AFP/Getty Images)

 

Zum Spiel: Fantastische Aufholjagd ohne Happy End

Das Guiseppe Meazza Stadion war am 28. Oktober 2006 mit 80000 Zuschauern restlos ausverkauft. Die beiden Anfangsformationen strotzten nur so vor Glanz und Gloria aus zahlreichen großen Fußball-Nationen. So sollten mit Nesta, Gattuso, Pirlo, Gilardino, Inzaghi, Materazzi und Grosso gleich sieben im Sommer gekürte Weltmeister auf dem Platz stehen. Mit Luis Figo saß ein einmaliger Weltfußballer auf der Bank, mit Kaka stand ein bald folgender Titelträger auf dem Platz. Seedorf hatte zu jenem Zeitpunkt bereits mit drei verschiedenen Klubs die Königsklasse gewonnen, während Vieira in der Premier League als langjähriger Kapitän der „Invincibles“ von Arsenal in die Historie eingegangen war. Durch die von Nike groß inszenierte „Joga Bonito“ Kampagne herrschte um den noch relativ jungen Zlatan Ibrahimovic ein großer Hype, welchen der Schwede aber sportlich rechtfertigte. Angeführt wurden die Star-Ensembles von den schon damals legendären Klub-Ikonen Maldini (zu Beginn nur auf der Bank) und Zanetti.

Die Mannschaft des argentinischen Kapitäns fand auch besser ins Spiel, wenngleich die erste Großchance Kaladze gehörte, welcher den Ball völlig freistehend nicht unter Kontrolle bringen konnte. Der Akteur des Anfangsphase war ansonsten ganz klar Stankovic: Der Serbe brachte in der 17. Minute einen Freistoß von den rechten Seite in den Strafraum, Crespo setzte sich im Strafraum gegen zwei Gegenspieler durch und nickte per Aufsetzer zur Führung ein. Der Argentinier, bei der WM in jenem Jahr hinter Miroslav Klose der zweitbeste Torschütze des Turniers, bildete über die gesamte Runde ein formidables Duo mit Ibrahimovic und verdrängte den von Alkoholproblemen geplagten Adriano (an diesem Abend nicht im Kader) auf die Bank. Auch am nächsten Highlight war Stankovic entscheidend beteiligt: Maicon passte in der 22. Minute auf den Mittelfeldspieler, welcher den Ball ansatzlos ins Kreuzeck setzte. Von Milan kam darauf erst einmal nicht besonders viel, nur Kaka prüfte Cesar nach einer schönen Einzelaktion. Inter hätte sogar bereits mit drei Toren führen können, doch einen Freistoß-Hammer von Ibrahimovic konnte Dida abwehren. Mit dem Spielstand von 0:2 ging es dann auch zum Pausentee.

(Photo by FILIPPO MONTEFORTE/AFP/Getty Images)

Dieser muss vor allem in der Milan-Kabine recht bitte ausgefallen sein, denn Ancelotti erschöpfte nach nur 45 Minuten alle Wechselmöglichkeiten. Die erhoffte Wirkung blieb aber zunächst aus, stattdessen verursachte die eigentliche so abgezockte Mannschaft auf naive Weise fast direkt nach dem Wiederanpfiff eine Kontersituation: Stankovic trieb den Ball bis kurz von den Strafraum und legte auf Ibrahimovic quer, dieser lupfte den Ball leicht an und ließ damit Nesta ins Leere rutschten. Der Stürmer traf die Kugel noch direkt in der Luft, obwohl Dida noch mit den Fingerspitzen dran war, konnte er den Einschlag nicht verhindern. 0:3 nach 47 Minuten – die Vorentscheidung?

Nicht ganz – lediglich drei Minuten später machte Inter den Fehler, den für seine Distanzschüsse gefürchteten Seedorf von der Strafraum-Grenze abziehen zu lassen. Grosso fälschte den Ball noch entscheidend ab, Cesar war dadurch ohne Chance. Doch in der 69. Minute schien das Spiel endgültig eingetütet zu sein. Eine Hereingabe von Figo köpfte Materazzi, fast in einer Kopie des Crespo-Treffers, zum 1:4 ein. Daraufhin feierte der Verteidiger derart exzessiv, sodass er von Schiedsrichter Stefano Farina seine zweite gelbe Karte erhielt – und damit dem Spiel eine völlig neue Richtung gab.

(Photo by PACO SERINELLI/AFP/Getty Images)

In Überzahl entfachte Milan nun einen Dauerdruck und verkürzte in der 76. Minute durch einen schulbuchmäßigen Gilardino-Kopfball erneut. Cafu, der Vorbereiter dieses Treffers, hatte nun richtig Lust auf Offensive und prüfte Cesar weniger Minuten später, der brasilianische Keeper parierte auch den Nachschuss von Seedorf in Weltklasse-Manier. Der Niederländer hatte dann mit einem schönen Kopfball die nächste Gelegenheit, die „Nerazzurri“ konnten in Unterzahl kaum noch für Entlastung sorgen. Einen Seedorf-Freistoß aus rund 30 Metern stellte die nächste Prüfung für Cesar dar. Kurz darauf patzte aber auch der bis dahin so überragende Keeper, als er eine Flanke nur an den Strafraumrand abwehren konnte und dafür weit aus seinem Kasten geeilt war. Kaka hob den Abpraller sehenswert über die gesamte Defensive – so stand es in der 90. Minte nur noch 3:4! Und in der lange dauernden Nachspielzeit hätte es fast noch die Sensation gegeben: Nach einer Gilardino-Flanke setzte der völlig freie Nesta, etwas behindert von einem eigenen (!) Mitspieler, den Ball per Kopf ganz knapp neben den langen Pfosten, Cesar wäre ohne Chance gewesen.

Unmittelbar danach pfiff Farina ab und ein über alle Maßen erleichterter Tabellenführer begann zu feiern!

 

Nachschau: Europäische Fußball Hauptstadt 2006/07 – und dann der Fall

Die Tabellenführung ließ sich Inter über die gesamte Saison nicht mehr nehmen und musste seine überhaupt einzige Niederlage erst um März zuhause gegen den späteren Vizemeister Roma hinnehmen. So konnten die über Jahre gepeinigten „Nerazzurri“ nach der Meisterschaft am grünen Tisch nun auch endlich den ersten „richtigen“ Titelgewinn seit 1989 feiern. Auf europäischer Ebene gelang Mancini & Co. aber genau wie in den Jahren zuvor recht wenig, schon im Achtelfinale war im diesem Meisterjahr gegen Valencia Schluss. Dabei blieb am Ende viel eher die Massen-Schlägerei zwischen den beiden Mannschaften nach Abpfiff in Erinnerung. Wenn es um die Königsklasse ging, dann war man zu jener Zeit sowieso eher beim Stadtrivalen AC Milan an der richtigen Adresse. Angeführt von einem überragenden Kaka, welcher aufgrund dieser Leistungen am Ende des Jahres 2007 zum Weltfußballer gewählt wurde, gelang zum dritten Mal in den letzten fünf Saisons der Sprung ins Finale – und dort wartete ausgerechnet der FC Liverpool, welcher die „Milanisti“ zwei Jahre zuvor diese ultimativ schmerzhafte Niederlage zugefügt hatte. Doch dieses Mal konnten Ancelotti und sein Team Revanche nehmen, dank einer Inzaghi-Doppelpacks setzte man sich mit 2:1 durch.

(Photo by GIUSEPPE CACACE/AFP/Getty Images)

Dies sollte auch der letzte „große Tanz“ dieser legendären Generation sein, zu vergleichbaren Leistungen war die Mannschaft aufgrund des hohen Altersschnitts daraufhin kaum noch in der Lage. Dafür kam nun die große Zeit des Stadtrivalen, welcher den Scudetto auch 2008 gewinne konnte. Da unabhängig davon die Resultate in Europa ähnlich mau blieben, wurde Mancini im Sommer 2008 durch José Mourinho ersetzt. Unter dem Portugiesen blieb die nationale Dominanz erhalten, bevor man im Jahr 2010 auch endlich international den großen Wurf landete: Den Gewinn des Triples! Ähnlich wie Milan drei Jahre zuvor hatte das Team dann aber auch seinen Zenit erreicht.

(Photo by CHRISTOPHE SIMON/AFP/Getty Images)

Ironischerweise machten zu jener Zeit beide Klubs ähnliche Fehler. Man versäumte es sich einen radikalen Umbruch in den von Vereinslegenden gespickten Mannschaften vorzunehmen. Milan erneuerte seine „Rentnertruppe“ sukzessive durch Spieler im fortgeschrittenen Alter wie Ronaldinho, Robinho oder Antonio Cassano, mehr als eine weitere Meisterschaft im Jahr 2011, maßgeblich wegen der Verpflichtung von Ex-Inter-Star Ibrahimovic, sprang jedoch nicht heraus. Danach setzte die bis heute anhaltende Dominanz des von Grund auf erneuerten Juventus ein. Die Mailänder Klubs stachen in den Folgejahren vor allem durch eine hohe Fluktuation in der Kadern und auf den Trainerstühlen hervor, tabellarisch dümpelten beide Giganten zwischen Europa League und einstelligen Tabellenplatz.

Erst in den letzten ein bis zwei Jahren scheint tatsächlich eine wirkliche Bereitschaft zur Grunderneuerung vorhanden zu sein. Beide Vereine sind nun in den Händen ausländischer Besitzer und können zumindest wieder eine gewisse Kaufkraft auf dem Transfermarkt vorweisen. Inter scheint in diesem Prozess etwas voraus zu sein und belohnte sich in der abgelaufenen Runde mit der ersten Qualifikation für Champions League seit der Saison 2011/12. Von früheren Sphären ist man in beiden Klubs jedoch immer noch weit entfernt, auch wenn gewisse Grundlagen für einen Weg dahin zurück geschaffen wurde. Dann bleiben womöglich die Stadtderby auch wieder in etwas prägender Erinnerung:

So wie eben damals, am 28. Oktober 2006, als Mailand die Hauptstadt des europäischen Fußballs war.

Marius Merck

Eine Autogrammstunde von Fritz Walter weckte die Leidenschaft für diese Sportart, die über eine (“herausragende”) Amateurkarriere bis zur Gründung von 90PLUS führte. Bei seinem erklärten Ziel, endlich ein “Erfolgsfan” zu werden, weiter erfolglos.


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