Spotlight

Weißt du noch? Getafe vs. Bayern: Last-Minute-Drama im UEFA Cup!

31. März 2020 | Weißt du noch...? | BY Victor Catalina

Es war eines dieser UEFA Cup-Spiele, deren Ausgang für alle Beteiligten nur schwer zu begreifen war. Nach dem Spiel hörte man in der Mixed Zone, wie Getafes Fans die Protagonisten des FC Bayern nicht gerade freundlich verabschiedeten. Ihre schlechte Laune war nachvollziehbar, standen sie doch bis kurz vor Schluss vor einer Sensation.

Getafe gegen Bayern: Die Ausgangslage

Man muss es tatsächlich zweimal lesen, um es zu begreifen. Nicht die Tatsache, dass sich der FC Bayern gegen Getafe durchgesetzt hat. Es geht um den Wettbewerb. Denn auch der große, deutsche Rekordmeister musste in der Saison 2007/2008 im UEFA Cup durch Europas Konsonantenwüsten tingeln.

Klären wir erstmal, wie es dazu kam. Die Saison 2006/07 brachte mit dem VfB Stuttgart um die jungen Mario Gomez, Sami Khedira und Christian Gentner einen der letzten wirklichen Überraschungsmeister hervor. Der FC Bayern, der unter Felix Magath in den beiden vorhergehenden Spielzeiten jeweils das Double gewann, taumelte. An der Tabellenspitze standen sie nur ein einziges Mal, den Großteil der Saison verbrachten sie auf Platz 4.

(Photo by Johannes Simon/Bongarts/Getty Images)

Bayerns Fall und Getafes Wunder

Das würde heute zwar trotzdem für die Champions League reichen. In den 2000er-Jahren aber tat sich die Bundesliga im internationalen Vergleich schwer und stürzte in der Fünfjahreswertung ab. So kam es, dass sich nur die ersten beiden Teams direkt für die Königsklasse qualifizierten, das waren damals Stuttgart und Schalke. Bremen musste als Dritter in der Qualifikation eine Extrarunde drehen, während sich Bayern und Leverkusen auf den Plätzen 4 und 5 für den UEFA Cup eintrugen. Da der aber den hohen Ansprüchen der Münchener in keiner Weise reichte, musste Magath schon am 19. Spieltag nach einem 0:0 gegen Bochum die Koffer packen. Ottmar Hitzfeld gab nach seinem Burnout ein Comeback und blieb anderthalb Jahre.

Getafe hatte währenddessen schon ein Wunder hinter sich. Im Halbfinale der Copa drehten sie ein 2:5 aus dem Hinspiel in Barcelona und gewannen das Rückspiel vor eigenem Publikum 4:0. Das Finale verlor die Mannschaft von Bernd Schuster allerdings gegen den FC Sevilla 0:1. Aber das Ticket für den UEFA Cup lösten sie trotzdem. In der Liga reichte es währenddessen nur zu Platz 9.

Beide wurden Gruppensieger, kamen relativ souverän durch Sechzehntel- und Achtelfinale und trafen im Viertelfinale aufeinander. Das Hinspiel in der Allianz Arena endete nach einem Treffer von Luca Toni und dem späten Ausgleich von Cosmin Contra 1:1.

Die Aufstellungen

Getafe CF (4-1-3-2): Abbondanzieri – Cortes, de la Red, Tena, Licht – Celestini – Contra, Casquero, Gavilan – M. del Moral, I. Uche
Trainer: Michael Laudrup

FC Bayern (4-2-2-2): Kahn – Lahm, Demichelis, Lucio, Lell – Zé Roberto, van Bommel – Ribéry, Schweinsteiger – Klose, Toni
Trainer: Ottmar Hitzfeld

Michael Laudrup mischte im Vergleich zum Hinspiel munter durch, auf sechs Positionen veränderte er seine Startelf. Hitzfeld zog lediglich Lahm für Marcell Jansen von rechts nach links und stellte statt Podolski Miroslav Klose auf. Christian Lell übernahm die vakante Position auf der rechten Abwehrseite.

Busacca schockt Getafe, Getafe schockt Bayern

Das Spiel begann sofort mit einem Knalleffekt. In der 6. Minute stürmt Klose frei aufs Tor zu, der Ex-Madrilene Ruben de la Red packt die Sichel aus und Schiedsrichter Massimo Busacca schickte ihn deshalb schon früh am Abend duschen.

Die Spanier kämpften allerdings – wie schon im Hinspiel – weiterhin aufopferungsvoll, wenngleich sie die Münchener nicht komplett zu verhindern wussten. Nur zwei Minuten nach dem Platzverweis setzte Ribéry einen Freistoß an den Pfosten, Luca Toni schoss anschließend ein, hatte zuvor aber den Ball mit dem Arm berührt – weiter 0:0. Zu Chancen kam Getafe kaum und musste nach 20 Minuten einen personellen Rückschlag hinnehmen: Der schnelle Stürmer Ikechukwu Uche zog sich eine Muskelverletzung zu. Laudrup brachte für ihn David Belenguer – einen Innenverteidiger. In der Folge nahmen sich beide Mannschaften gegenseitig aus dem Spiel, Christian Lell bot sich noch eine Großchance, der Außenverteidiger vermochte sie aber nicht zu nutzen.

Alles deutete auf ein torloses Remis zur Pause hin. Doch dann fasste sich Cosmin Contra ein Herz und startete einen Sololauf fast aus der eigenen Hälfte. Van Bommel und Demichelis versuchten, ihn zu stoppen – es blieb beim Versuch. Der spätere rumänische Nationaltrainer wuchtete die Kugel aus 12 Metern vorbei an Kahn hoch ins kurze Eck. 1:0 für Getafe, 2:1 insgesamt.

(Photo by JAVIER SORIANO/AFP via Getty Images)

Die Bayern lagen zur Pause also zurück. Unverdient war es nicht, da der Rekordmeister nach dem Pfostenschuss von Ribéry offensiv zu wenig zustande brachte. Diese Nachlässigkeiten bestrafte Cosmin Contra praktisch mit dem Pausenpfiff. Der Schaden war allerdings überschaubar, ein Tor und der Rekordmeister stünde in der Verlängerung.

Ribéry bestraft Getafes Chancenwucher

Zu Beginn der 2. Hälfte brachte Hitzfeld Marcell Jansen für Christian Lell. Philipp Lahm wechselte dafür auf die rechte Seite. Die Bayern wollten so mehr Druck über die Außenverteidigerpositionen machen.

Das mit der verbesserten Offensive klappte erstmal auch ganz gut. Luca Toni ließ in der 49. Minute einen Ball über den Scheitel ins lange Eck gleiten, doch Massimo Busacca verwehrte dem Italiener auch seinen zweiten Treffer des Tages. Diesmal aufgrund eines Foulspiels. So klopften die Bayern Getafe nach und nach auf defensive Unachtsamkeiten ab und erarbeiteten sich mehrere ordentliche bis gute Chancen. Der spanische Pokalfinalist konzentrierte sich derweil aufs Kontern. Nach einer Stunde durfte Casquero von der Strafraumkante draufhalten – zwei Meter vorbei. Gleich danach brachte Laudrup Braulio für Manu del Moral – Stürmer für Stürmer.

Sechs Minuten nach seiner Einwechslung bot sich ihm auch gleich die erste Chance – und was für eine! Braulio lief allein auf Kahn zu, umkurvte ihn – und rutschte aus. Kahn hechtete auf den Ball. Einatmen, ausatmen. Hitzfeld ging inzwischen all in, Sosa und Podolski kamen für Schweinsteiger und Zé Roberto. Aber den Münchenern lief langsam aber sicher die Zeit davon. Weiterhin hatte Getafes Abwehr auf alle Fragen, die Bayerns Offensive stellte, Antworten. Die Zeit für Geniestreiche war gekommen.

Es lief inzwischen die 89. Minute, noch immer führte Getafe 1:0. Mark van Bommel spielte den Ball einfach mal blind in den Strafraum, in der Hoffnung, dass Luca Toni ein entscheidendes Kopfballduell gewinnen würde. Das passierte nicht, stattdessen gewann es David Cortes. Allerdings köpfte er den Ball an den denkbar schlechtesten Ort: die Strafraumkante. Dort hatte sich Ribéry postiert, zog volley ab – und traf. Es ging in die Verlängerung. Und die hatte es in sich.

(Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Getafe schockt die Bayern doppelt

Es läuft die 92. Minute. Die Hintermannschaft der Bayern gewährte Javier Casquero einen weiteren Distanzschuss – und der saß. Innenpfosten, Tor, 2:1. Und bevor die Bayern darüber nachdenken konnten, dass sie noch ein Tor brauchten, fand der eingewechselte Mario Cotelo Braulio im Strafraum, Lucio rutschte weg und Braulio hämmerte den Ball an Oliver Kahn vorbei. Ottmar Hitzfeld schaute konsterniert drein, denn Getafe führte in der 94. Minute 3:1.

„TOOOR! Das ist das Aus für die Bayern! Womöglich das Aus, das endgültige Aus!“

Fritz von Thurn und Taxis nach dem 3:1 durch Braulio

Bayerns letzter Strohhalm war ihre Überzahl. Zur Erinnerung: Ruben de la Red wurde in Minute 6 nach einer Notbremse an Klose des Feldes verwiesen. Getafe war jetzt nur noch am Verteidigen und Kontern, nach 100 Minuten drosch Gavilan den Ball ans Außennetz, es blieb in der ersten Hälfte der Verlängerung beim 3:1.

Bayerns Aufholjagd in fünf Minuten

Bayern musste jetzt komplett ins Risiko gehen, sie brauchten zwei Tore. Es lief inzwischen die 115. Minute. Van Bommel brachte einen Freistoß aus dem Halbfeld, den Torhüter Abbondanzieri sicher hatte. Eigentlich. Denn er ließ den Ball wieder fallen – und Luca Toni stocherte ihn rein. Nur noch 2:3 aus Münchener Sicht! Auch Ottmar Hitzfeld stand auf und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das Spiel war wieder heiß!

Es war jetzt eine ähnliche Situation wie 2001 im Volkspark. Letzte Minute, die Bayern brauchen ein Tor. Wie damals kam Oliver Kahn mit nach vorne, um Verwirrung zu stiften. Das funktionierte. Getafe war unsortiert, José Sosa fand mit einer Flanke Luca Toni und der brachte den Ball als Aufsetzer und das Coliseum Alfonso Pérez zum Schweigen – 3:3!

„Oliver Kahn kommt! In seinem letzten, vermutlich letzten Europacupspiel! TOOOOOR! TOOOOOOR FÜR DIE BAYERN! LUCA TONI, 3:3! Es ist ein Wahnsinn! Sowas habe ich noch nicht erlebt! Ein unfassbares Spiel!“

Fritz von Thurn und Taxis

Der FC Bayern hatte es also doch noch geschafft. Eine Aufholjagd, serviert als Fünf-Minuten-Terrine. Nach dem Spiel fiel die Analyse der Verantwortlichen kurz aus: Weitergekommen, aber schwach gespielt. Uli Hoeneß gab zu, seine Mannschaft hätte bei den beiden Gegentoren in der Verlängerung „schön geschlafen“ und Ottmar Hitzfeld hatte noch ein paar Blumen für den Gegner übrig: „Heute war es sehr schwer, dran zu glauben, weil wir lange Zeit sehr schwach gespielt haben, weil wir Nerven gezeigt haben, weil der Gegner auch über sich hinausgewachsen ist. Getafe hat ein sensationelles Spiel gemacht. Und somit hab ich schon auch Bedenken gehabt, aber wir wurden belohnt, dass wir nie aufgegeben haben und wir wurden auch belohnt, weil wir einen Luca Toni in unseren Reihen haben, der ein riesen Kämpferherz hat.“

FC Bayern: Endstation Halbfinale

Der FC Bayern stand also im Halbfinale. In der Allianz Arena gab es erneut ein 1:1, diesmal gegen Zenit St. Petersburg. Im Rückspiel blieb das Spektakel allerdings aus, für den Rekordmeister setzte es stattdessen ein Debakel, Zenit – um den zukünftigen Münchener Anatoliy Tymoshchuk – gewann 4:0. An der Rechtmäßigkeit des Finaleinzugs konnte es also keinen Zweifel geben. Das Endspiel im Etihad entschied Zenit ebenfalls für sich, mit einem 2:0 gegen die Rangers.

Ottmar Hitzfeld führte den FC Bayern am Saisonende aber immerhin noch zum Double, bevor er unter tosendem Applaus verabschiedet wurde. Heißt auch: Der Rekordmeister war wieder dort angekommen, wo er nach eigenem Selbstverständnis hingehört – in der Champions League. Dort erlebten sie unter Jürgen Klinsmann das nächste denkwürdige Kapitel der Vereinsgeschichte. Aber das ist eine Geschichte für einen anderen Tag.

90PLUS wird für die Monate März und April 15% der Einnahmen an die Initiative #WekickCorona spenden. Auch ihr könnt unterstützen: Jeder Klick, jede Spende zählt

(Photo by PIERRE-PHILIPPE MARCOU/AFP/Getty Images)

Victor Catalina

Victor Catalina

Mit Hitzfelds Bayern aufgewachsen, in Dortmund studiert und Sheffield das eigene Handwerk perfektioniert. Für 90PLUS immer bestens über die Vergangenheit und Gegenwart des europäischen Fußballs sowie seine Statistiken informiert.


Ähnliche Artikel