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Zwischen Sieg und Niederlage – Andriy Shevchenko im Porträt

2. April 2020 | Wie gut war eigentlich...? | BY Christoph Albers

Andriy Shevchenko, Weltfußballer des Jahres 2004, gilt bis heute als einer der besten Stürmer der jüngeren Fußballgesichte. Die Champions League war seine große Bühne und er scheute nie den großen Moment. Ein Porträt einer ungewöhnlichen Karriere.

Alles oder nichts

Es ist der Abend des 25. Mai 2005 und wir befinden uns im Atatürk Olimpiyat Stadyum. Die Augen der über 72.000 Zuschauer im Stadion und die vieler Millionen Fußball-Fans weltweit, welche das Spiel vor dem Fernsehen verfolgen, blicken voller Aufregung auf Andriy Shevchenko. Der ukrainische Torjäger der AC Milan muss jetzt treffen, aus elf Metern. Sollte er verschießen, wäre alles verloren, der sichere Sieg endgültig verspielt. Dabei führte seine Mannschaft doch schon mit 3:0 zur Halbzeit, ehe der FC Liverpool, angeführt von einem überragenden Steven Gerrard, eine unglaubliche Aufholjagd startete und sich das Elfmeterschießen verdiente.

Das Elfmeterschießen verlief, ebenso wie das Spiel ab der 45. Minute, so gar nicht nach den Vorstellungen der Italiener. Serginho und Pirlo hatten die ersten beiden Elfmeter verschossen, ehe Riises Fehlschuss sie zumindest wieder in Reichweite brachte. Anschließend behielten sowohl Kaká, als auch Smicer die Ruhe, sodass Shevchenko als fünfter Schütze treffen musste, um die Minimalchance aufrecht zu erhalten.

Sheva gilt bis hierhin als sehr sicherer Schütze und er hat auch schon bewiesen, dass er diesem Druck standhalten kann. Ziemlich genau zwei Jahre zuvor, am 28. Mai 2003 im Old Trafford zu Manchester, befand er sich in einer ganz ähnlichen, aber doch nicht gleichen, Situation: Nach 120 torlosen Minuten im „italienischen“ Champions-League-Finale zwischen Juventus Turin und der AC Milan stand es nach neun Schützen 2:2, Shevchenko hatte als letzter Schütze die Möglichkeit zum Sieg zu treffen und er traf. Buffon tauchte nach links, Shevchenko schoss nach rechts und der Rest war pure Ekstase.

Nichts zu gewinnen

Doch hier, zurück in Istanbul, kann Shevchenko nichts gewinnen, er kann nur sehr viel verlieren. Und dieser Tatsache scheint er sich bewusst zu sein, er wirkt nervös und bringt nicht mehr als einen ganz schwachen, recht mittigen Schuss zustande, den Liverpools Keeper Dudek locker pariert. Der Ball prallt zu ihm zurück, er drischt ihn weg. Die Liverpool Spieler drehen ab, um mit ihren Fans zu feiern, während für Shevchenko nur Frust wartet. Es sollte der letzte Schuss der damals 28-Jährigen in einem Champions-League-Finale bleiben.

(Photo by FILIPPO MONTEFORTE/AFP via Getty Images)

„Shevagol“ blieb noch ein Jahr beim AC Milan, in dem ihm 28 Tore und zehn Assists in 40 Pflichtspielen (neun Tore und drei Assists in 12 Champions League Spielen) gelangen, ehe er im Sommer 2006 für eine Ablöse von ist 44 Millionen Euro zum FC Chelsea wechselte. Ein Transfer, der am Ende für alle Seiten unbefriedigend endete und verhinderte, dass Shevchenko sich beim FC Liverpool revanchieren, während sein alter Verein die Neuauflage des Finals von 2005 im Mai 2007 mit 2:1 gewinnen konnte.

Am Ende bleibt eine gewisse Tragik zurück, nicht zuletzt weil Shevchenko beim Champions-League-Finale 2008 über die komplette Dauer des Spiels auf der Bank blieb und mitansehen musste, wie seine Mannschaft im Elfmeterschießen gegen Manchester United unterlag.

Dennoch wäre es ungerecht diesen großartigen Stürmer nur auf diese verpassten Chancen zu reduzieren. Das verbietet sich schon, wenn man nur mal einen Blick in seine Trophäen-Sammlung wirft, denn dort finden sich, neben dem Champions League Titel 2003, sechs nationale Meisterschaften (5x Ukraine, 1x Italien), vier nationale Pokalsiege (3x Ukraine, 1x Italien), ein Ligapokal (England) und mehrere Superpokale. Dazu kommen etliche individuelle Erfolge, wie der Ballon D’Or 2004, sechs Titel als ukrainischer Fußballer des Jahres, sowie diverse Torjägerkanonen (u.a. 3x Champions League, 2x Serie A und 1x ukrainische Premier Liga).

Schaufenster „Königsklasse“

Doch der Reihe nach. Andriy Shevchenko wurde am 29.09.1979 in einem kleinen Dorf in der Nähe von Kiew, in der damaligen Sowjetunion geboren. Im Jahre 1986 schloss er sich, im Alter von sieben Jahren, Dynamo Kiew an, das im selben Jahr seine zwölfte sowjetische Meisterschaft feiern konnte. Dort blieb er seine komplette Jugendzeit und schaffte auch den Sprung zu den Profis.

In der Zwischenzeit hatte sich die Ukraine aus der Sowjetunion gelöst, doch Dynamo Kiew war immer noch ein großer Verein und regelmäßig in der „Königsklasse“ vertreten. Dort hinterließ der junge Shevchenko erstmals in der Saison 1994/95 seine Spuren, mit einem Tor in zwei Einsätzen. Sein großer Durchbruch auf internationaler Ebene ließ aber noch ein wenig auf sich warten.

Der große Lauf

In der Saison 1997/98 gelangen Shevchenko fünf Tore in acht Spielen und Dynamo Kiew drang bis in Viertelfinale vor, in dem man aber gegen den späteren Finalisten, Juventus Turin, den Kürzeren zog. Doch die Mannschaft von Trainer-Legende Valeriy Lobanovskyi war noch nicht am Ende und sorgte in der folgenden Saison erst so richtig für Furore, in dem sie ins Halbfinale einzog. Dabei dürfte vor allem das Weiterkommen im Viertelfinale gegen den Vorjahressieger, Real Madrid, im Gedächtnis bleiben: Nach einem 1:1-Unentschieden im Hinspiel im Bernabeu, setzte sich Kiew im Rückspiel mit 2:0 durch – Shevchenko schoss natürlich alle drei Tore seiner Mannschaft.

(Photo credit Gary M Prior/Allsport)

Im Halbfinale gegen den FC Bayern München musste sich Lobanovskyis Truppe, trotz großem Kampf, am Ende dann doch geschlagen geben – nach dem 3:3 im Hinspiel, bei dem Shevchenko erneut doppelt traf, ging das Rückspiel mit 0:1 verloren. Es bleibt bis heute die beste Leistung Kiews in der Champions League und „Sheva“ war mit acht Toren in zehn Spielen der Erfolgsgarant (neben Trainer Lobanovskyi).

Seine Leistungen in Europas Elite-Wettbewerb blieben natürlich nicht lange verborgen und nach dieser Gala-Saison war er für Kiew schlichtweg nicht mehr zu halten. Im Sommer 1999 wechselte er für umgerechnet knapp 24 Millionen Euro zum AC Milan, wo er die beste Zeit seiner Karriere verbrachte.

Die „goldenen Jahre“

In der italienischen Mode-Metropole schlug der damals 23-Jährige ein, wie eine Bombe. Mit 24 Ligatreffern wurde er auf Anhieb Torschützenkönig und verwies Sturm-Legenden wie Gabriel Batista und Hernán Crespo auf die Plätze. Seine Mannschaft konnte allerdings nicht ganz mit ihm mithalten und so reichte es am Ende nur zu Platz 3 im Klassement. Im Vergleich zum sechsten Platz im Folgejahr, wirkt dieser dritte Platz allerdings fast schon wie ein Erfolg, wobei es ganz sicher nicht an Shevchenko gelegen hat, der erneut 24 Ligatreffer beisteuerte (nur übertroffen von Crespo, der 26x traf).

Im Sommer 2001 legte Milan folgerichtig personell nach und verpflichtete u. a. Andrea Pirlo, Rui Costa und Pipo Inzaghi, woraufhin sich die Mannschaft immerhin auf Rang 4 verbesserte. Shevchenko, der mit 14 Ligatoren immer noch der beste Schütze seiner Mannschaft war, ließ allerdings etwas nach. Der wohl wichtigste Aspekt dieser Saison blieb dennoch die Verpflichtung von Carlo Ancelotti als Trainer, der im November von Fatih Terim übernahm.

Und mit Ancelotti als Trainer nahm das „Projekt Milan“ dann auch richtig Fahrt auf: Mit Alessandro Nesta, Clarence Seedorf, Rivaldo und Jon Dahl Tomasson wurden im nächsten Sommer weitere Bausteine verpflichtet, die unmittelbaren Erfolg brachten. In der Liga reichte es zwar nur zu dem dritten Platz mit mickrigen fünf Shevchenko-Toren, doch in der Champions League gelang, wie eingangs erwähnt, der ganz große Wurf – der Titel! Shevchenko erzielte auch in der „Königsklasse“ nur vier Tore, doch es waren die wichtigen, wie im Viertelfinal-Rückspiel gegen Ajax oder im Halbfinal-Rückspiel gegen Inter, mal ganz abgesehen vom entscheidenden Elfmeter im Finale. Es ist also durchaus realistisch, wenn man feststellt, dass er den Erfolg ermöglicht hat.

(Photo by Laurence Griffiths/Getty Images)

Nach dem „Henkelpott“ auch der Scudetto

Mit dem Rückenwind des Erfolgs in der Champions League, gelang (u.a. mit Unterstützung der Sommer-Neuzugänge Kaká und Cafú) dann auch der langersehnte Erfolg in der Liga – der 17. Scudetto. Mit 24 Ligatoren trug „Shevagol“, der zum zweiten Mal Serie A Torschützenkönig wurde, natürlich wesentlich dazu bei und verdiente sich damit seine erste und einzige Auszeichnung zum Weltfußballer des Jahres. In der Champions League schied man unterdessen auf spektakuläre Art und Weise gegen Deportivo La Coruña aus.

Die folgenden beiden Jahre beim AC Mailand wurden ja bereits zuvor dargestellt, weshalb im folgenden Abschnitt nochmal ein Blick auf die Zeit geworfen werden soll, an die wohl niemand, der sich an einen der besten Stürmer der Fußball-Geschichte erinnern möchte, wirklich gerne erinnert.

Den Zenit überschritten

In England schien Shevchenko nie so richtig angekommen zu sein. In seiner ersten Saison, in der er immerhin noch weitestgehend Stammspieler war, gelangen ihm lediglich vier Tore und sieben Assists in 30 Ligaspielen. Doch aufgrund dieser eher enttäuschenden Zahlen und der Tatsache, dass er sichtlich fremdelte, verlor er seinen Stammplatz und kam in der Saison 2007/08 nur noch auf 17 Einsätze in der Liga, in denen er fünf Tore erzielte und ein weiteres vorbereitete. Fairerweise muss man auch dazu sagen, dass er mit Verletzungen zu kämpfen hatte, doch am Ende der Saison kam man zu dem Entschluss, dass eine vorübergehende Trennung wohl das Beste für alle Beteiligten sei und so kehrte er auf Leihbasis zu seiner „alten Liebe“, der AC Milan, zurück.

Seine alte Form fand er dort aber auch nicht wieder. Mehr als ein Tor im UEFA Cup und eines in der Coppa Italia waren nicht drin und so kehrte er im Sommer 2009 zunächst zum FC Chelsea zurück, ehe er, nur zwei Monate später, ablösefrei zu seinem Jugendverein Dynamo Kiew wechselte, bei dem er 2012 dann auch seine Karriere beendete. Zurück in der Heimat traf er zwar wieder häufiger und bewies seinen Wert, doch die Titel sammelte Shakhtar Donezk ein.

(Photo by Mike Hewitt/Getty Images)

Letztes Highlight Heim-EM

Ein letztes Highlight zum Ende seiner Karriere blieb ihm allerdings doch noch und zwar ein großes: Die Europameisterschaft im eigenen Land 2012. Zwar schied die Ukraine in der Vorrunde aus, doch beim 2:1-Sieg zum Auftakt gegen Schweden erzielte er beide Tore. Bei den Niederlagen gegen Frankreich und England war er allerdings machtlos. Somit war das Finale seiner Karriere zwar kein Märchen, aber doch immerhin ein würdiges Ende.

Seine Nationalmannschaftskarriere war alles in allem so, wie man es womöglich zu erwarten hatte: Er lief 111x für seine Farben auf und ist mit 48 Toren bis heute der Rekordtorschütze des Landes. Er nahm je einmal an einer WM (2006, Aus im Viertelfinale gegen Italien, 0:3) und einmal an einer EM teil. Allerdings ist seine Geschichte mit der Nationalmannschaft noch lange nicht vorbei und darum geht es im folgenden Abschnitt, um seine Karriere nach seiner Profilaufbahn.

Die Karriere nach der Karriere

Anders als viele andere Fußballer, zog es Shevchenko nicht sofort zurück in den Fußball-Kosmos. Der womöglich populärste Fußballer der Ukraine aller Zeiten versuchte sich zunächst einmal in der Politik seines Landes, das gerade in den 2010er Jahren viele Krisen durchlebte. Als Spitzenkandidat (gemeinsam mit Natalija Korolevska) der Partie „Ukraine – Vorwärts!“ trat er bei den ukrainischen Parlamentswahlen 2012 an, verpasste den Einzug ins Parlament mit nur 1,58% aber deutlich. Und so zog es ihn dann doch zum Fußball zurück.

Im Februar 2016 wurde er nämlich Co-Trainer der ukrainischen Nationalmannschaft unter Trainer Michail Fomenko, dem er vor allem bei der Europameisterschaft im selben Jahr assistieren sollte. Dort schied die Ukraine, nach drei Niederlagen in den drei Spielen, als Gruppenletzter aus. Fomenko legte daraufhin sein Amt nieder und Co-Trainer Shevchenko übernahm als Chef-Trainer, eine Position, die er bis heute innehat.

(Photo by Srdjan Stevanovic/Getty Images)

Erfolgreicher Chef

Zwar verpasste die Ukraine die Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2018 im Nachbarland Russland (Island und Kroatien kamen in ihrer Gruppe weiter), doch diese Phase ließ sich durchaus noch mit dem Begriff der „Übergangsphase“ betiteln. Nach der WM präsentierte sich die Ukraine nämlich sehr stark und schloss die EM-Qualifikation in überzeugender Manier als Gruppensieger ab – vor Titelverteidiger Portugal und Serbien.

Und auch in der Nations League war Shevchenko mit seiner Mannschaft höchst erfolgreich. In Liga B schloss die Ukraine ihre Gruppe mit Tschechien und der Slowakei als Sieger ab und stieg somit in Liga A auf. Dort trifft die Ukraine in der kommenden Ausgabe auf die Schweiz, Spanien und Deutschland.

Shevchenko zeigt also auch ein gewisses Talent als Trainer und wer weiß, wohin sein Weg noch führt. Es wäre nicht das erste Mal für ihn, dass er von der Ukraine aus die Welt erorbert.

Bonus: Was für ein Spieler war Andriy Shevchenko eigentlich?

Andriy Shevchenko war ein sehr kompletter Stürmer. Er war schnell (wenn auch kein Sprinter), technisch stark (setzte sein Dibbling aber stets zielorientiert ein), relativ beidfüßig (unglaublich abschlussstark mit beiden Füßen), kopfballstark (trotz seiner Größe von „nur“ 1,83″) und sehr intelligent im Stellungsspiel. Er konnte Tore auf jede erdenkliche Weise erzielen, im Konterspiel (damals sprach noch niemand von Umschaltmomenten), nach Flanken, per Fernschuss oder ganz klassisch per Abstauber.

In gewissen Punkten ähnelt er zum Beispiel Robert Lewandowski, wobei sich das Spiel (insbesondere das „Mitspielen“ von Stürmen) natürlich sehr verändert hat über die Jahre. Und wenn ihr euch einfach selbst überzeugen wollt:

Weitere Porträts und andere nostalgische Beiträge findet ihr hier.

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(Photo by New Press/Getty Images)

Christoph Albers

Cruyff-Jünger und Taktik-Liebhaber. Mag präzise Schnittstellen-Pässe, schwarze Leder-Fußballschuhe, Retro-Trikots und hat einen unerklärlichen Hang zu Fußball-Finanzen. Seit 2016 bei 90PLUS.


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