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Chronologie der Werder-Rückrunde: (Nicht für möglich gehaltenes) Wunder verpasst! (Teil II)

31. Mai 2017 | Spotlight | BY 90PLUS Redaktion

Anfang der 2000er-Jahre begeisterte der SV Werder unter der Regie von Thomas Schaaf durch erfrischenden Offensivfußball, die Angriffsreihen waren geprägt durch Stars á la Klose, Micoud, Özil, Diego. Nach neun Jahren Europapokal in Folge trat aber 2010 die Phase der großen Ernüchterung ein, die sich durch einen schleichenden Abgang bis hin zum Abstiegskandidaten äußerte. In den vergangenen Monaten hellte sich das Stimmungsbild an der Weser aber zusehends wieder auf, die Fans skandierten: „Der SVW ist wieder da!“ Zurecht? – Der zweite Teil der Chronologie (Teil I findet ihr hier):

 

29. Spieltag: SV Werder Bremen – Hamburger SV 2:1 (1:1)

Dass dieses Spiel, das maßgeblich über den Verlauf der weiteren Saison entscheiden sollte, ausgerechnet das Nordderby gegen den HSV war, stellt wohl eine besondere Ironie dar. Angepeitscht und nach vorne getrieben von wieder einmal lautstarken und vor dem Spiel durchaus enthusiastischen Fans konnte selbst die schnelle Führung des HSV durch Michael Gregoritsch die Stimmung nicht vermiesen, denn es wurde schnell deutlich, dass Werder die wesentlich reifere Spielanlage und mehr Zug zum Tor zeigte.

Dadurch entstand ein regelrechtes Chancenfestival, welches zwei Mal zum Torerfolg führte: Kurz vor der Pause traf Kruse (41.), in der 75. Minute war es schließlich Florian Kainz mit seinem zweiten Saisontor, der zum Matchwinner avancierte und den hochverdienten Derbysieg eintütete, quasi gleichbedeutend mit 39 Punkte und damit mehr oder minder dem Klassenerhalt. Gleichzeitig entwickelte sich mit dem HSV-Spiel ein Problem auf der Werder-Bank: Denn Serge Gnabry, in der Hinrunde Topscorer, war erstmals nach sechswöchiger Abstinenz wegen hartnäckiger muskulärer Probleme wieder im Kader, aber auf einmal nur noch Ersatz. Die Offensive um Kruse und Bartels, unterstützt durch die offensivstarken Junuzovic und Grillitsch, hatte es einfach zu gut gemacht, sodass für den Nationalspieler kein Platz mehr in der ersten Elf war.

Und die Leistungen ließen auch in den kommenden Wochen nicht in einem solchen Maße nach, dass Gnabry als Startelfaspirant ein Muss gewesen wäre. Nach dem Spiel skandierten Fans und Spieler gemeinsam „Europapokal, Europapokal!“ – das Träumen war also tatsächlich auf einmal erlaubt ein Bremen – ein Umstand, mit dem noch zwei Monate zuvor niemand auch nur im Entferntesten gerechnet hätte.

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

 

30. Spieltag: FC Ingolstadt 04 – SV Werder Bremen 2:4 (1:1)

Ernsthaft gefährdet war die Fortsetzung der Erfolgsserie in Ingolstadt, allerdings boten die Bremer dort auch eine ihrer schwächsten Leistungen der Rückrunde, schossen in der ersten Hälfte nur zwei Mal aufs Tor, trafen dabei aber einmal durch einen Foulelfmeter von Max Kruse (45.+1). Ingolstadt bestimmte hingegen die Partie.

Nachdem Ingolstadt infolge einer Schwalbe von Almog Cohen seinerseits per Foulelfmeter in Führung gegangen war, begannen in der 81. Minute die großen Kruse-Festspiele. Erst geschickt den Abpraller nach einer Unstimmigkeit in der Ingolstädter Hintermannschaft ausgenutzt, dann ein platzierter Linksschuss ins lange Eck, in der Nachspielzeit den Ball ins Leere geschoben und auf einmal stand es 2:4. Es konnte sich wohl niemand so wirklich erklären, wie dieses Ergebnis zustande gekommen war, aber das war auch nebensächlich. Denn Werder offenbarte eine weitere, neue (bzw. wiedergewonnene) Stärke: Trotz einer schwachen Leistung ein Spiel für sich entscheiden zu können, genau für solche Momente benötigt man eben Spieler des Kalibers Kruse.

Mit dem zehnten Spiel ohne Niederlage, nunmehr 42 Punkten und dem siebten Platz konnte sich der SVW endgültig nach oben orientieren. Gedanken an eine erstmalige Europapokalteilnahme nach sechs Jahren Abstinenz von der europäischen Bühne intensivierten sich insofern im Nachgang des Spiels, auf einmal erschien den Fans unter den beschriebenen Umständen fast alles möglich.

 

31. Spieltag: SV Werder Bremen – Hertha BSC Berlin 2:0 (2:0)

Diesen Eindruck bestätigte die Mannschaft von Alexander Nouri eine Woche später dann auch mit Nachdruck, denn der Fünftplatzierte aus der Hauptstadt wurde souverän mit 2:0 besiegt und war somit nur noch einen Punkt entfernt. Die Tore erzielte – wieder einmal – das kongeniale Sturmduo Bartels/Kruse, das nicht nur in Bezug auf die Treffer- und Assistquote immer mehr an den Traumsturm ab 2004, Klasnic und Klose, erinnerte. Nach den schnellen Treffern in der neunten und fünfzehnten Spielminute verlegte sich Werder auf das Verwalten des Spielstandes, die Hauptstädter hatten zwar wesentlich mehr Ballbesitz, konnten aus diesem aber kein Kapital schlagen, kamen nur selten zu gefährlichen Offensivaktionen.

Allerdings begünstigte auch Schiedsrichter Patrick Ittrich den Spielverlauf, als er der Hertha zehn Minuten vor dem Ende einen klaren Strafstoß (Sané an Ibisevic, 80.) verwehrte, der das Spiel noch einmal hätte spannend machen können. So aber wurde die Begegnung zu einem grün-weißen Festakt, welches auf dem Platz nicht mehr viel zu bieten hatte.

(Photo by Oliver Hardt/Bongarts/Getty Images)

 

32. Spieltag: 1.FC Köln – SV Werder Bremen 4:3 (4:2)

Ein regelrechtes Torspektakel lieferten sich die beiden nunmehr als Europapokalaspiranten einzustufenden Teams aus Köln und Bremen, wobei die Gastgeber das glücklichere Ende für sich hatten. Das lag auch daran, dass Grün und Weiß die erste halbe Stunde mehr oder weniger komplett „verschlief“, ungewohnte und vor allem leichte Fehler im Aufbauspiel produzierte und die Kölner so zu einer Chance nach der anderen einlud.

Allerdings zeigte sich erneut die Effektivität der Bremer, denn durch zwei eiskalt ausgenutzte Chancen (Bartels, 34.; Gebre Selassie, 40.) stand es auf einmal 2:2, ohne dass jemand genau gewusst hätte, wie dieses Ergebnis zustande gekommen war. Allerdings präsentierte sich die Abwehr an diesem Abend, wie unter den alten Zeiten von Sripnik, sodass Simon Zoller kurz vor der Pause (44.) auf einmal alleine vor Wiedwald auftauchen konnte – 3:2! Dass Anthony Modeste nur zwei Minuten nach dem Seitenwechsel für das 4:2 sorgte, war einerseits erneut auf arg fahrlässiges Abwehrverhalten zurückzuführen, ebenso zeichnete sich immer mehr ab, dass das vielzitierte „Momentum“, das zuvor allzu oft auf Bremer Seite gewesen war, nun wieder dem Gegner hold zu sein schien, der, in Person des 1.FC Köln.

Der Anschlusstreffer von Gnabry (62.) reichte nur noch zur Makulatur, zwar rannte Werder noch circa eine halbe Stunde unentwegt an, konnte aber kaum noch echte Torgefahr entwickeln, wohl auch, weil die sonst so prägnante Kontertaktik und Effektivität gegen den FC eben nicht funktionierte. Dies wurde u. a. erkennbar daran, dass man selbst nun diejenige Mannschaft war, die mit 63% deutlich mehr Ballbesitz aufwies, die fast doppelte so viele Pässe spielte wie die Kölner. So erlebte der SV Werder nicht nur das Ende der Serie an ungeschlagenen Spielen, sondern zugleich auch noch einen (kleinen) Rückschlag im (eigentlich nicht beabsichtigten) Kampf um Europa, schließlich hätte man die Rheinländer mit einem Sieg auf sechs Punkte distanzieren können.

 

33. Spieltag: SV Werder Bremen – TSG 1899 Hoffenheim 3:5 (0:3)

Aber ein Heimsieg gegen Hoffenheim, vielleicht ein Unentschieden gegen den BVB, dann könnte… Allerdings war bereits nach elf Minuten durch die 2:0-Führung (Szalai, 7.; Kramaric, 11.) der Kraichgauer mehr oder minder klar, dass diese Rechnung wohl nicht aufgehen würde, denn Werder spielte, ähnlich wie gegen Köln, defensiv absolut uninspiriert, nach vorne ging überhaupt nichts. Inwiefern die Umstellung auf eine Viererkette ihren Anteil an diesem Umstand hat, bleibt wohl Spekulation, bemerkbar war der Systemwechsel aber allemal, vor allem durch unerklärbare Lücken in der Hintermannschaft.

Gerade über die Außenbahnen kam Hoffenheim immer wieder gefährlich vor das Bremer Tor. Dass es zwischenzeitlich 0:5 stand, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung, einzig ist vielleicht positiv hervorzuheben, dass weder die Fans ihre Unterstützung einstellten, noch die Spieler das zaghafte Offensivspiel, welches immerhin noch zu drei Treffer durch Gebre Selassie (59.), Bargfrede (86.) und Bauer (90.) führte. Umso bitterer wurde dieser Nachmittag dadurch, dass bis auf Berlin (2:0 in Darmstadt) alle Konkurrenten (Köln, Freiburg, Gladbach) keine Siege einfuhren, wodurch mit einem Sieg die Niederlage in der Domstadt kompensiert hätte werden können.

So stand aber nach dem Schlusspfiff die Erkenntnis, dass wohl alle Chancen auf Europa trotz einer furiosen Rückrunde verspielt worden waren, denn nun brauchte man einen Sieg in Dortmund und gleichzeitige Patzer der Konkurrenz aus Freiburg (in München) und Köln (gegen Mainz) – wohl zu viel der glücklichen Fügungen.

 

34. Spieltag: Borussia Dortmund – SV Werder Bremen 4:3 (2:1)

Diese Prognose bewahrheitete sich dann auch im Laufe des letzten Saisonspiels. Werder fightete leidenschaftlich, man merkte der Mannschaft an, dass sie sich selbst Europa zutraute und, trotz der Abhängigkeit von den anderen Ergebnissen, noch eine Restchance bestand. Allerdings fehlte es dem Team letztlich wohl an Cleverness und der nötigen Souveränität in der Deckung, die durch die Sperre von Robert Bauer und die Verletzung Santiago Garcias abermals umstrukturiert werden musste, sodass Ulisses Garcia seit gefühlten Ewigkeiten wieder einmal in die Startelf rutschte. Durch nachlässiges Defensivverhalten verschuldete er aber zugleich auch die beiden Dortmunder Treffer nach der Bremer Führung (Junuzovic, 7.).

Trotzdem ließen sich die Grün-Weißen von dem Halbzeitrückstand nicht verunsichern, blieben sich ihrer Offensivstärke bewusst und schlugen zwei Mal zu: Bartels traf nach einer überragenden Einzelaktion von Kruse (46.), Die Nummer 10 der Werderaner besorgte mit einem perfekt getimten Lupfer (68.) die vorläufige Führung, welche mindestens Platz sieben bedeutet hätte. Allerdings machten die Hanseaten sich anschließend selbst einen Strich durch die Rechnung, Gnabry (75.) und Bargfrede (89.) verschuldeten jeweils ohne jede Notwendigkeit einen Strafstoß, welche Reus und Aubameyang zur neuerlichen Dortmunder Führung nutzten, die bis zum Abpfiff Bestand hatte. Ob beim zweiten Elfmeter nun ein Treffer von Bargfrede an Pulisic vorlag, ist zwar in Zweifel zu ziehen, die Gäste hatten aber bereits in der ersten Halbzeit bei einem Foul von Moisander an Aubameyang Glück, dass Günter Perl in seinem Abschiedsspiel nicht auf den Punkt zeigte.

Hinzu kommt natürlich noch, dass fehlendes Geschick in einer solchen Situation zwei dermaßen unnötige Elfmeter durchaus rechtfertigt. Nichts war es also mit dem Traum von Europa, trotz furioser Rückrunde, aber eben auch drei Niederlagen am Stück zum Saisonabschluss, die aber dennoch zu einem nicht für möglich gehaltenen Platz acht führte. Unmittelbar nach dem Spiel überwog zwar die Enttäuschung, nichtsdestotrotz kann Werder aber – auch wegen der Art, wie über weite Strecken Fußball gespielt wurde – stolz auf die erbrachte Leistung sein.

(Photo by Dean Mouhtaropoulos/Bongarts/Getty Images

 

Was nun?

Der Ausblick, ob diese Rückrunde aber tatsächlich den Neubeginn einer Ära, verbunden mit dem Anschluss an vergangene, wesentlich erfolgreichere Zeiten bedeutet, bleibt abzuwarten. Zu sehr hängt eine positivere Zukunft von Spielglück, der Stimmung innerhalb der Mannschaft oder dem Auftaktprogramm ab, ebenso natürlich davon, wie der Kader zu Beginn der anstehenden Spielzeit aussehen wird.

Mit Florian Grillitsch, Santiago Garcia und Clemens Fritz stehen bisher drei Abgänge fest, zu rechnen ist aber auch damit, dass Serge Gnabry, Aron Johansson und der ein oder andere zuletzt verliehene Rückkehrer (Thy, Petsos, Kleinheisler, Aycicek, Guwara) der Mannschaft den Rücken kehren. Wie es mit Claudio Pizarro weitergeht, wird sich in naher Zukunft entscheiden, auch hier stehen die Zeichen eher auf Abgang, was aber unter rein sportlichen Gesichtspunkten wohl zu verkraften wäre.

Max Kruse scheint in Bremen bleiben zu wollen. Auf der Zugangsseite stehen bisher nur der schwedische Nationalspieler Ludwig Augustinsson (FC Kopenhagen), der als Linksverteidiger fungiert, in einer Dreierkette aber auch den offensiveren Part im Mittelfeld übernehmen könnte, und Jerome Gondorf (SV Darmstadt 98), eine weitere Option für das zentrale Mittelfeld, welche in den vergangenen beiden Jahren bereits ihre Bundesligatauglichkeit unter Beweis gestellt hat.

Spekuliert wird zudem über eine Rückkehr von Davie Selke (RB Leipzig) an die Weser, die gleichwohl sehr kostspielig wäre. Inwiefern dieser Transfer zu realisieren wäre, bleibt abzuwarten, hängt sicherlich aber auch von Transfererlösen und Gehaltseinsparungen ab. Wenn, wie es aussieht, weiter mit einer Dreierkette operiert wird, muss noch ein Innenverteidiger her, die Planstelle im Tor ist mit Felix Wiedwald (Vertrag bis 2018) zwar besetzt, allerdings scheinen die Verantwortlichen ihm nicht uneingeschränkt das Vertrauen aussprechen zu wollen, trotz ansprechender Leistungen in den zurückliegenden Monaten. Womöglich wird sich also auch auf dieser Position etwas ergeben.

Eine Vertragsverlängerung mit einer Stütze wie Zlatzko Junuzovic (2018) wäre gleichsam ein wichtiges Signal für die Zukunft, zumal Nouri seine eigene, unlängst erfolgte Verlängerung des Arbeitspapieres u. a. an Investitionen im Spielerbereich zur Weiterentwicklung des Vereins geknüpft haben soll. Inwiefern darüber hinaus für das Klima der von Nouri initiierte Abgang von Co-Trainer Florian Bruns, welcher ein hohes Standing in der Mannschaft genoss, nachteilig ist, wird sich ebenso erst während der Sommervorbereitung herausstellen.

Insgesamt wird die anstehende Transferperiode mit darüber entscheiden, inwiefern die furiose Rückrunde, die dennoch nicht von einem Einzug in den europäischen Wettbewerb gekrönt wurde, ein Fingerzeig für die kommenden Jahre sein könnte. Erst wenn Stützen wie Kruse oder Junuzovic in Bremen bleiben, Ersatz für den abwanderungswilligen Serge Gnabry gefunden, der Kader punktuell, aber qualitativ verstärkt wird und die Saison 2017/18 harmonischer und erfolgreicher startet als die soeben zu Ende gegangene, dann, ja dann könnte sich bald tatsächlich bewahrheiten, was die Fans im Weserstadion wohl eher noch mit einem Schwung Hoffnung denn mit wahrer Überzeugung zum Besten geben: „Der SVW ist wieder da!“

 

 

Paul Bekker


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