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Weißt du noch?… Als Mario Balotelli die EM-Titelträume der Deutschen platzen ließ

15. Juni 2021 | Weißt du noch...? | BY Simon Lüttel

Im Halbfinale der EM 2012 in Polen und der Ukraine trafen Deutschland und Italien aufeinander. Die Rivalität der beiden Nationen hat eine lange Geschichte. Ein weiteres Kapitel wurde am 28. Juni 2012 geschrieben, als die Squadra Azzurra der DFB-Elf eine empfindliche Niederlage zufügte. Es war ein denkwürdiger Abend, an dem vor allem eine Person für Aufsehen sorgte: Mario Balotelli.

Die Vorgeschichte – Wie Italien zum Angstgegner der Deutschen wurde

Die deutsch-italienische Fußballrivalität hat eine lange Historie. Das erste Duell der beiden Nationen gab es im Januar 1923, die Italiener gewannen damals mit 3:1. In den darauffolgenden Jahrzehnten gab es zahlreiche Freundschaftsspiele, ehe man sich im ersten Pflichtspiel bei der Weltmeisterschaft 1962 in der Gruppenphase 0:0 trennte. Der Beginn des deutschen „Italien-Traumas“ folgte acht Jahre später.

Im Halbfinale der WM 1970 in Mexiko konnten sich die DFB-Profis wenige Minuten vor dem regulärem Spielende mit einem Treffer in die Verlängerung retten, verloren über 120 Minuten jedoch mit 4:3. Zwölf Jahre später, bei der WM 1982, trafen die beiden Nationen erstmals in einem Endspiel aufeinander. Vor 90.000 Zuschauern gewann die Squadra Azzurra die Partie souverän mit 3:1. Die nächsten beiden Aufeinandertreffen in Pflichtspielen endeten Unentschieden. Im Halbfinale der Heim-WM 2006 trafen Deutschland und Italien erneut aufeinander. Wenige Wochen vor Beginn des Turniers begegneten sich beide Mannschaften in einem Testspiel, das die Italiener mit 4:1 deutlich für sich entschieden. Erste Zweifel an DFB-Trainer Klinsmann kamen auf, verflogen jedoch nach einem souveränen Gruppensieg. Die Italiener überzeugten ebenfalls und erreichten das Halbfinale ohne Zitterpartien.

In der Runde der letzten Vier gewann die Azzurri nach dramatischem Spielverlauf mit 0:2 nach Verlängerung. Die Klinsmann-Elf spielte in den vorhergehenden Turnierpartien attraktiven Fußball und sorgte für Euphorie im ganzen Land. Umso schmerzhafter war die Niederlage im Halbfinale des Turniers. Zum damaligen Zeitpunkt gab es 35 Aufeinandertreffen zwischen den beiden Nationalteams, von den die Deutschen lediglich sieben Partien für sich entscheiden konnten. Was die Bilanz aus deutscher Perspektive noch bedrückender machte, war die Tatsache, dass kein Pflichtspiel gewonnen wurde. Am Abend des 28. Juni 2012 sollte der Fluch gebrochen werden, hofften die Fans der deutschen Nationalelf, die sich bei bestem Wetter auf den Fanmeilen versammelten.

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Stabilisierte Azzurri gegen titelhungrige DFB-Elf

Die Italiener durchlebten im Jahr 2006 einen Höhenflug, der mit dem Gewinn des WM-Titels in Deutschland gekrönt wurde. Vier Jahre später folgte mit dem Gruppenphasen-Aus bei der Weltmeisterschaft in Südafrika ein Tiefpunkt. Anschließend übernahm Cesare Prandelli übernahm den Trainerposten und stabilisierte das Team bis zur EM 2012 nachhaltig. Ruhe herrschte vor der Europameisterschaft im Land des viermaligen Weltmeisters jedoch nicht. Ein Wettskandal, in den mehrere Nationalspieler involviert waren, erschütterte Italien.

Nach der Halbfinalniederlage gegen Italien bei der WM 2006 trat Jürgen Klinsmann zurück, Joachim Löw folgte. Für ihn war es das dritte Turnier als Nationaltrainer. Bei den letzten beiden Anläufen beendeten die Spanier die Titelträume der Deutschen. Um die La Furia Roja zur Revanche zu fordern, musste im Halbfinale der Angstgegner Italien geschlagen werden.

Prandelli wählte ein 4-1-3-2 als Grundordnung. Diese Formation bewährte sich bereits in den vorherigen Partien. Eine Alternative wäre eine Formation mit Fünferkette gewesen, mit der man in der Gruppenphase gegen den amtierenden Welt- und Europameister Spanien 1:1 spielte. Die Mannschaft Italiens war gespickt mit Routiniers wie Daniele de Rossi, Giorgio Chiellini und Gianluigi Buffon, die bereits bei WM 2006 triumphierten. Andrea Pirlo, der 2006 ebenfalls dem Nationalkader angehörte, spielte als Dreh- und Angelpunkt vor der Viererkette eine Schlüsselrolle im italienischen System. Die Sturmspitze bildete mit Mario Balotelli und Antonio Cassano ein Duo, das sowohl auf, als auch neben dem Platz immer wieder für Unruhe sorgte.

Löw ernennt Kroos zum Pirlo-Manndecker

Die deutsche Nationalmannschaft spielte im 4-2-3-1 mit drei Änderungen im Vergleich zum Viertelfinale. Für André Schürrle, Miroslav Klose und Marco Reus rückten Lukas Podolski, Mario Goméz und Toni Kroos in die Startelf. Eine Sonderrolle hatte sich Joachim Löw für Kroos ausgedacht. Der damalige Münchener sollte bei gegnerischem Ballbesitz Pirlo in Manndeckung nehmen und so sabotierenden Einfluss auf das Aufbauspiel nehmen.

Unmittelbar vor dem Halbfinale mutmaßten einige Experten, dass das Momentum dieses Mal auf der Seite der Deutschen liegen könnte. Die DFB-Elf reiste nach einem 4:2-Sieg gegen Griechenland im Viertelfinale mit Selbstvertrauen nach Warschau und war seit 15 Spielen ungeschlagen. Die Italiener gewannen im Viertelfinale ebenfalls mit 4:2. Das jedoch deutlich weniger souverän. Gegen die englische Nationalmannschaft zitterten sich die Italiener bis ins Elfmeterschießen.

Aufstellung und Statistiken:


Deutschland: Neuer – Boateng (71. Müller), Hummels, Badstuber, Lahm – Khedira, Schweinsteiger – Özil, Kroos, Podolski (46. Reus) – Goméz (46. Klose)

Bank: Wiese, Zieler, L. Bender, Höwedes, Mertesacker, Schmelzer, Götze, Gündogan, Schürrle

Trainer: Joachim Löw


Italien: Buffon – Balzaretti, Barzagli, Bonucci, Chiellini – Pirlo – Marchisio , Montolivo (64. Motta) , de Rossi – Balotelli (70. Di Natale) , Cassano (58. Diamanti)

Bank: de Sanctis, Sirigu, Abate, Ogbonna, Giaccherini, Nocerino, Borini, Giovinco

Trainer: Cesare Prandelli


Tore: 1:0 Balotelli (20.), 2:0 Balotelli (36.), 2:1 Özil (90.+2)

Gelbe Karten:  Balotelli (37.), Bonucci (61.), de Rossi (84.), Motta (89.)

EM 2012: Italiener gehen nach intensiver Anfangsphase in Führung

In den Minuten nach dem Anpfiff trat die DFB-Auswahl im ausverkauften Stadion Narodowy mutig und mit einem selbstbewussten Offensivdrang auf. Das Italien-Trauma sollte überwunden werden, der Finaleinzug war das definierte Ziel. Der Weltmeister von 2006 agierte hingegen eher etwas abwartend, zeigte in Zweikämpfen Präsenz und verteidigte diszipliniert. Zu Chancen kamen die Deutschen dennoch. Nach fünf gespielten Minuten kam Mats Hummels nach einem Eckball erstmals zu einem Abschluss, den Pirlo auf der Torlinie blocken konnte. Weitere Torschüsse folgten von Kroos und Boateng. Buffon konnte parieren.

Eine gefährliche Torchance konnte die Squadra Azzurra in der Anfangsphase nicht vorweisen. In der 20. Spielminute sollte sich das ändern. Der zum damaligen Zeitpunkt 33-jährige Pirlo ließ sich bis auf die Höhe der Innenverteidiger zurückfallen und spielte einen Diagonalball auf den vorgerückten Chiellini, der den Ball zu Cassano weiterleitete. Italiens Nummer 10 setzte zur Drehung an und ließ mit Leichtigkeit gleich zwei DFB-Profis aussteigen. Cassano schlug eine Flanke und fand Balotelli an der Ecke des Fünfmeterraums. Der großgewachsene Stürmer positionierte sich bereits in den Sekunden vor dem Zuspiel optimal und setzte sich im anschließenden Luftzweikampf gegen Badstuber durch. Balotelli köpfte ein, Neuer blieb chancenlos.

Mario Balotelli wird 2012 zum EM-Schreckgespenst für Deutschland

In der 36. Minute schlug der bullige Stürmer ein zweites Mal zu. Nachdem es Buffon gelang einen Eckball zu entschärfen, gingen die Italiener direkt zum Gegenangriff über. Riccardo Montolivo führte den Ball kurz in der eigenen Hälfte, richtete den Blick nach oben und suchte Balotelli mit einem langen Ball. Lahm verschätzte sich und hatte infolgedessen das Nachsehen beim Laufduell mit dem bulligen Stürmer. Italiens Nummer 9 sprintete auf das Tor zu und traf mit einem wuchtigen Abschluss aus 18 Metern zum 2:0. Neuer war erneut chancenlos.

Es folgten Aufnahmen, die um die Welt gingen. Unmittelbar nach dem Treffer zog Balotelli sein Trikot aus und posierte mit angespanntem Oberkörper, sowie versteinerter Mine in der Hälfte der DFB-Elf. Innerhalb kürzester Zeit erlangte der Jubel Kultstatus und wurde unzählige Male in den sozialen Medien geteilt.

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In den zehn Minuten vor dem Halbzeitpfiff wirkte die DFB-Elf sichtlich geschockt von der Effizienz der Italiener. Die Prandelli-Elf bestrafte Fehler gnadenlos und präsentierte sich der Defensive hochkonzentriert. Nachdem Stéphanne Lannoy die erste Hälfte beendete, gingen die Deutschen sichtbar enttäuscht in die Kabine. Auch auf den Rängen und den zahlreichen Fanmeilen herrschte beim deutschen Publikum Stille und Enttäuschung. Zur zweiten Halbzeit wechselte Löw mit Miroslav Klose und Marco Reus zwei Spieler ein, die das Offensivspiel beleben sollten.

Özils später Anschlusstreffer reicht nicht

Im zweiten Durchgang legten die Italiener den Fokus auf das Verteidigen. Die defensive Stabilität weckte Erinnerungen an das italienische Catenaccio, das in den 1970er-Jahren weltweite Berühmtheit erlangte. Die Bemühungen lagen auf der Verdichtung des Zentrums, so wurde die deutsche Mannschaft während ihrer Ballbesitzphasen auf die Flügel gedrängt. Von den Außenbahnen folgten häufig Flanken, die nur in den seltensten Fällen zu gefährlichen Abschlussaktionen führten. Die Einbindung von Gomez und Klose gelang über die gesamte Partie nicht.

Die in der ersten Halbzeit noch so effizienten Italiener kamen im Verlauf der zweiten Halbzeit zu mehreren hochkarätige Konterchancen, die ungenutzt blieben. Trotz des Rückstands und der schier unüberwindbaren italienischen Defensive gaben die DFB-Profis nicht auf. Zwei Minuten vor Abpfiff der Partie entschied Unparteiische nach einem Handspiel von Federico Balzaretti auf Handelfmeter, den Mesut Özil zum 2:1 verwandelte. Große Spannung kam jedoch nicht mehr auf. Der Elfmeter war die letzte Tormöglichkeit vor dem Schlusspfiff.

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Fazit: Kompaktheit, Effizienz und Reife sind der Schlüssel zum Erfolg

Im Laufe des Spiels stellte sich heraus, dass Prandelli den wesentlich clevereren taktischen Ansatz wählte. Die italienische Mannschaft war bestens eingestellt und überzeugte mit bewährten Stärken. DFB-Trainer Löw musste sich nach dem Ausscheiden mit unangenehmen Fragen auseinandersetzen. Mit Kroos wurde auf eine zuverlässige und passsichere Variante gesetzt, die im Offensivdrittel nur wenig Kreativität bot. Der Plan Pirlo zu isolieren ging phasenweise auf, beeinflusste das Aufbauspiel der Squadra Azzurra jedoch nicht entscheidend. Zudem verzichte Löw mit Thomas Müller über 70 Minuten auf einen Spieler, der für seine Unberechenbarkeit berüchtigt ist und möglicherweise für mehr Gefahr in der Offensive gesorgt hätte. Überraschungsmomente in der Hälfte der Italiener gab es nur allzu selten.

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Die DFB-Offensive wirkte ideenlos und konnte die Verteidigung des Weltmeisters von 2006 nur selten aus der Ruhe bringen. Nach Spielende zählten die Statistiker von WhoScored.com 14 Ecken, 20 Schüsse und 45 Flanken (!) von deutscher Seite. Nur ein Bruchteil der Offensivaktionen sorgte für Torgefahr. Das lag auch daran, dass die Italiener stets die Lufthoheit im eigenen Drittel bewahrten. Obwohl die Südeuropäer über die gesamte Spielzeit weniger Ballbesitz hatten, verloren sie die Spielkontrolle nur selten. Bei den Deutschen fehlte in den Schlüsselszenen hingegen der Zugriff und die Konsequenz, die das Ausscheiden war besiegelt.

Schlussendlich zogen deutlich reifere und clevere Italiener ins Finale ein, während die Deutschen die Heimreise antreten mussten. Der Titelwunsch von Joachim Löw sollte im Jahr 2012 unerfüllt bleiben. Selbiges galt für Cesare Prandelli und sein Team. Im Finale unterlagen die Italiener der spanischen Nationalmannschaft mit 4:0. Die Mannschaft von Vicente del Bosque damals auf kontinentaler Ebene das Maß aller Dinge war.

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