WM 2018 | Geheimfavoriten, ein Hauch von Gijon und „klein aber fein“

29. Juni 2018 | Nationalelf | BY Chris McCarthy

Die Gruppen-Phase der Weltmeisterschaft 2018 ist bereits Geschichte. Im Fokus standen neben „VAR“ vor allem die enttäuschenden Leistungen der Favoriten. Aber auch die „Kleinen“ haben sich bei unseren 7 Awards eine Trophäe verdient!

 

„Team-Sport“ – Award: Nicht die Favoriten

Die Buchmacher waren sich vor der WM 2018 einig: Brasilien, Spanien, Frankreich und Deutschland, gingen als Top-Favoriten in das Turnier. Leistungstechnisch wusste von diesen großen vier, aber auch von weiteren Mitfavoriten wie Argentinien oder Portugal, in der Gruppenphase der Endrunde bisher keiner vollends zu überzeugen.

Bis auf die Selecao, die erst am letzten Spieltag gegen Serbien ihre Qualität andeuten konnte, wurde keine dieser Fußball-Nationen den Vorschusslorbeeren auch nur ansatzweise gerecht. Im Gegenteil, die deutsche Nationalmannschaft beendete als amtierender Weltmeister die Gruppe F hinter Schweden, Mexiko und Südkorea auf dem letzten Platz. Die defacto trainerlosen Spanier scheiterten ebenso wie Portugal, das ohne Cristiano Ronaldo wohl das Nachsehen gehabt hätte, beinahe an Marokko und dem Iran. Die Franzosen, ohne jeglichen Spielrhythmus, taktischem Faden oder Kader-Homogenität, qualifizierten sich ausschließlich dank ihrer individuellen Klasse in einer schwachen Gruppe souverän, aber insgesamt glanzlos.

Was haben insbesondere die ursprünglichen „Top-4“ dieses Turniers allesamt gemeinsam? Sie verfügen allesamt über hervorragende Einzelspieler, konnten das allerdings nicht auf die Mannschaftsleistung übertragen. Sei es aufgrund eines potentiellen „Hunger-Problems“ der DFB-Elf, eines plötzlichen Trainerwechsels bei den Spaniern, umstrittenen Coachings bei den Franzosen oder womöglich schlechter Form bei den Brasilianern.

Dass diese Teams dabei gegen individuell klar unterlegene, allerdings als Mannschaft funktionierende und hervorragend strukturierte Gegner strauchelten, unterstreicht abermals, was für ein Team-Sport der Fußball ist.

(Photo BENJAMIN CREMEL/AFP/Getty Images)

 

„Jetzt wirklich“ – Award: Belgien

Alle zwei Jahre zählt Belgien zu den Geheimfavoriten der Europa- und Weltmeisterschaften. Alle zwei Jahre enttäuscht die Mannschaft voller Ausnahmekönner und zwei Jahre später heißt es dennoch immer wieder „dieses Mal ist es wirklich so weit“. 2018 könnte es wirklich, wirklich so sein.

Ja die Roten Teufel spielten mit Panama und Tunesien gegen zwei der schwächeren Teams der Endrunde (das bedeutungslose Freundschaftsspiel gegen England klammern wir aus). Unabhängig von der Qualität der Gegner, war es viel mehr die Art und Weise, wie die von Star-Spielern gespickte Offensive (endlich) zusammen harmonierte. Eden Hazard und Kevin De Bruyne, der auf die „Acht“ zurückbeordert wurde, verstehen sich, anders als zuvor befürchtet, hervorragend. Die genialen Kreativposten ergänzen sich perfekt zum Edeltechniker Dries Mertens und dem rohen Vollstrecker im Sturm, Romelu Lukaku. Die Balance, Homogenität, aber viel mehr das blinde Verständnis, die perfekt einstudierten Abläufe und Automatismen im Spiel nach vorne, lassen vermuten, dass bei Belgien dieses Jahr einiges anders ist.

Roberto Martinez hat aus seinen herausragenden Einzelkönnern ein eingespieltes und fokussiertes Kollektiv geformt. Die Defensive offenbart, gerade auf den Außenverteidigerpositionen, noch einige Schwächen, sodass wir hier nicht zwingend vom Weltmeistertitel reden wollen. In einem Jahr, in dem die absoluten Top-Favoriten bisher nicht überzeugen konnten, ist das Finale allerdings alles andere als Utopie.

(Photo by Dan Mullan/Getty Images)

 

„Geheimfavorit“ – Award: Kroatien

Im Gegensatz zu den Top-Favoriten bekamen die Kroaten ihre große Schwäche in den Griff. Viele Experten taten sich schwer, das individuell stark besetzte Team als Geheimfavorit zu bezeichnen. Dazu wusste die Mannschaft von Mladen Kristajic bisher viel zu selten im Kollektiv zu überzeugen. Welches System spielt der Mannschaft in die Karten? Stehen sich Ivan Rakitic und Luka Modric womöglich auf den Füßen? Kann Modric auch auf der „Zehn“ an seine herausragenden Leistungen bei Real Madrid anknüpfen?

All diese Sorgen wurden spätestens nach dem imposanten 3:0 über ein kopfloses Argentinien ad acta gelegt. Kroatien demonstrierte eine beeindruckende Homogenität, mannschaftliche Geschlossenheit, Kampfstärke, Spielverständnis und natürlich individuelle Klasse. Modric und Rakitic ergänzten sich in der neu formierten Schaltzentrale bestens und wurden durch Marcelo Brozović effektiv abgesichert.

Sicher, Siege gegen ein desolates Argentinien, Island und Nigeria sollten jetzt nicht überbewertet werden, doch die zweikampfstarke Verteidigung, das derzeit wohl beste zentrale Mittelfeld des Turniers, die unermüdlichen Perisic und Rebic und der mehr als unbequeme Mario Mandzukic im Sturm machen Kroatien für jeden zu einem der unangenehmsten und ausbalanciertesten Gegner des Turniers. Paart man dies mit der schwachen Form der Top-Favoriten, so könnten auch die Kroaten der Rolle des Geheimfavoriten mehr als gerecht werden.

(Photo by Elsa/Getty Images)

 

„Danke und bis bald“ – Award: Die „Kleinen“

Die Gruppenphase ist vorüber und die Konzentration gilt, wie erwartet, zunehmend den „großen“ Fußballnationen. An dieser Stelle möchten wir uns aber auch von den „Kleinen“ verabschieden und uns dankbar zeigen.

Sicher, für Länder wie Panama oder Saudi-Arabien war mehr oder weniger von Anfang an klar, dass es in der Endrunde nur darum gehen würde, sich gut zu verkaufen. Doch auch sie trugen erheblich zu diesem Turnier bei.

Sei es der Iran, der mit seinem fußballbesessenen Volk im Rücken die großen Schwergewichte Portugal und Spanien an den Rand der Verzweiflung brachte. Sei es Panama, wo die Qualifikation zur ersten WM überhaupt mit einem nationalen Feiertag gefeiert wurde. Sei es Peru, das obwohl man bereits ausgeschieden war, das erste WM-Tor nach 36 Jahren wie einen Sieg zelebrierte oder auch Island, das den Kultstatus auch ohne „Wunder“ weiterlebte. Die Liste könnten wir noch ewig weiterführen.

Es sind jedenfalls genau diese Länder, die unabhängig von den Resultaten, mit ihrer Energie, Motivation und vor allem ihrer Leidenschaft für diesen fabelhaften Sport, die WM genau zu dem machen, was sie ist: Ein wahres Fußballfest für die ganze Welt.

Auf Wiedersehen, wir freuen uns schon auf das nächste Mal!

(Photo by Catherine Ivill/Getty Images)

 

„Gijón“ – Award: Dänemark vs Frankreich / England vs Belgien

Weltmeisterschaft 1982, Deutschland (2:2 Punkte) trifft im letzten Spiel der Gruppe 2 in Gijón auf Österreich (4:0 Punkte). Bereits am Tag zuvor hatte Algerien (4:2 Punkte) das ausgeschiedene Chile (0:6 Punkte) geschlagen. Die Ausgangslage war somit klar: Die DFB-Auswahl käme nur bei einem Sieg weiter. Würde dieser jedoch mit mehr als zwei Toren Unterschied ausfallen, hätte Gegner Österreich gegenüber Algerien das Nachsehen.

Deutschland machte folglich von Anfang an Druck und ging bereits nach elf Minuten verdient 1:0 in Führung. Daraufhin setzte die Mannschaft nach, Österreich dagegen versuchte durch Kontergelegenheiten zum Ausgleich zu kommen. Mit dieser Spielsituation war jedoch schon ziemlich früh Schluss und spätestens als die Teams aus der Halbzeitpause kamen, wurde schnell klar, warum das Spiel als „Nichtangriffspakt von Gijón“ in die Geschichte eingehen würde.

Sowohl Deutschland als auch Österreich wären bei diesem Spielstand garantiert in der nächsten Runde und beschlossen daher scheinbar, keine Risiken mehr einzugehen. Die Partie dümpelte vor sich hin, der Ball wurde jeweils lange in den eigenen Reihen gehalten und die Teams erfreuten sich regelrecht an der Tatsache, dass die Rückpassregel noch nicht eingeführt wurde. Das Spiel endete zur Frustration der Algerier letztendlich mit 1:0. In Folge des weltweiten Aufruhrs wurden die letzten Spiele der Gruppenphase fortan simultan ausgeführt.

36 Jahre später wurden wir, nicht zum ersten Mal, an den Nichtangriffspakt von Gijón erinnert. Am letzten Spieltag der Gruppe C waren die Franzosen bereits für das Achtelfinale qualifiziert und schonten dementsprechend einige Leistungsträger – ihr gutes Recht. Gegner Dänemark benötigte ein Unentschieden, um das Weiterkommen zu garantieren. Das führte zu einem unansehnlichen Fußballspiel, indem die Dänen keine richtigen Risiken einging oder sich die Franzosen übermäßig anstrengten. Frustrierte Fans, die in der Hoffnung auf ein Top-Spiel viel Geld für die Tickets ausgaben, bedankten sich mit einem Pfeifkonzert. Zu Vergleichen mit 1982 kam es allerdings nicht. Die lauernden Australier hatten ihr Spiel gegen Peru ohnehin verloren.

In der Gruppe G gab es 2018 allerdings das kurioseste Szenario. Sowohl England als auch Belgien waren am letzten Spieltag bereits qualifiziert und schonten ebenfalls ihr Stammpersonal. Die Aussage des belgischen Nationaltrainers Roberto Martinez, „Es ist nicht unsere Priorität zu gewinnen“, ließ allerdings Schlimmeres vermuten:

Im Achtelfinale würde der Gruppenerste auf den Zweiten der Gruppe H treffen – Japan. Doch sowohl Martinez als auch Gareth Southgate schienen dabei etwas weiter zu denken: Könnte man das stärkere Kolumbien – Erster der Gruppe H – überwinden, würde der Zweitplatzierte gemäß Turnierbaum im Viertelfinale (wohl) Brasilien aus dem Weg gehen und stattdessen auf die Schweiz oder Schweden treffen. Es kam wie befürchtet. Sowohl England als auch Belgien schienen das Spiel nicht unbedingt gewinnen zu wollen. Es entwickelte sich auch hier ein unansehnliches Fußballspiel, in dem die belgischen Fans hämisch jede Gelbe Karte feierten, da England dank der Fair-Play-Wertung im Falle eines Unentschiedens auf dem ungeliebten ersten Platz landen würde. Adnan Januzaj – womöglich als Ergänzungsspieler „zu motiviert“ – gab jedoch den Spielverderber und markierte in der 52. Minute mit einem herrlichen Schlenzer den 1:0 Endstand. Die Three Lions landeten somit auf dem favorisierten zweiten Platz, treffen also auf Kolumbien und entgehen im Idealfall den Brasilianern. Schade, die Partie hatte auf dem Papier das Potential, der große Kracher der Gruppenphase zu werden.

(Photo KIRILL KUDRYAVTSEV/AFP/Getty Images)

Den Mannschaften, die natürlich jeden möglichen Vorteil nutzen möchten, kann man für ihre Herangehensweisen jedenfalls keinen Vorwurf machen. Die simultane Ansetzung des letzten Spieltags reduziert immerhin die Möglichkeit eines „Nichtangriffspakts“ erheblich, aber warum werden die Achtelfinal-Paarungen nicht einfach nach der Gruppenphase auslost?

Eine Auslosung, Gruppenerste in Topf 1, Gruppenzweite in Topf 2 und womöglich logistische Vorteile für den Erstplatzierten („Heimrecht“ in der Nähe des WM-Lagers), könnte die Anzahl an unansehnlichen, aber womöglich folgenschweren Spielen und die Frustrationen der Fans, weiter reduzieren…Einen Versuch wäre es wert…

 

„Torschützenkönig“ – Award: Mr. Eigentor

Cristiano Ronaldo? Nein…Lionel Messi? Nein…Romelu Lukaku? Nein…Harry Kane? Fast! Aber ebenfalls daneben! Stand heute hat der eigentliche Torschützenkönig der WM 2018 keinen Namen, denn es gibt einen „Torschützen“, der mehr Tore auf dem Konto hat als „Mr. Eigentor“

Bei der Endrunde in Russland traf ganze neun Mal ein Spieler ins eigene Tor – schon jetzt drei Eigentore mehr als die bisherige „Bestmarke“ (6) bei der WM 1998 in Frankreich.
Die tatsächliche Torjägerliste führt übrigens Harry Kane mit fünf Treffern vor Romelu Lukaku und Cristiano Ronaldo (je vier) an.

(Photo FRANCISCO LEONG/AFP/Getty Images)

 

„Geht doch“ – Award: VAR

Während die Einführung des Video Assistent Referee in der Bundesliga eher für Frustrationen sorgte, zeigte die Gruppenphase der WM 2018 eindrucksvoll, dass die neuen technischen Mittel auch ein Gewinn für den traditionellen Sport sein können.

Man kann den traditionellen, „alten“ Fußball, ohne technischen Firlefanz, dafür samt krasser Fehlentscheidungen und hitziger Diskussionen natürlich bevorzugen, aber keiner kann bestreiten, dass durch die Einführung des VAR eine „fairere“ Weltmeisterschaft von Statten geht.

Grund dafür ist vor allem die Art und Weise, wie die Verantwortlichen den Videobeweis in Russland einsetzen. Die Schiedsrichter werden in der Regel nur bei klaren Fehlentscheidungen an die Seitenlinie gerufen. Der Prozess der Entscheidungsfindung ist in den meisten Fällen nachvollziehbar und wird auch den Zuschauern detailliert offengelegt.

Sicher, es bleiben einige Fehler, das ist aufgrund der „Komponente Mensch“, der bekanntlich nicht perfekt ist, auch nicht zu vermeiden. Denkt man aber alleine an das Herzschlagfinale in der Gruppe B, wurden insgesamt eine erhebliche Anzahl an potentiell folgenreichen Fehlentscheidungen aus dem Turnier ausgemerzt. In dieser Form ist VAR, zumindest für uns, in Sachen Gerechtigkeit, aber auch Spannung, ein wahrer Gewinn für den Fußball.

(Photo by Dan Mullan/Getty Images)

Chris McCarthy

Gründer und der Mann für die Insel. Bei Chris dreht sich alles um die Premier League. Wengerball im Herzen, Kick and Rush in den Genen.


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