Berauschendes Fest oder Verbrechen am Fußball: War die EM 2024 ein Erfolg?
17. Juli 2024 | Spotlight | BY Philipp Overhoff
Wenige Tage nach dem Ende der EM 2024 ist es an der Zeit für ein großes Fazit: War das Turnier in Deutschland das größte Fußball-Fest seit langer Zeit? Oder doch viel mehr der Sargnagel für alle Liebhaber eines schönen Spiels? Wir ziehen Bilanz.
EM 2024: Fan-Fest und spielerische Regression
War die Europameisterschaft 2024 in Deutschland ein Erfolg? Noch im Laufe der Gruppenphase hätte man diese Frage wohl mit dem klarsten „Ja!“ beantwortet, das ein Fußball-Fan über die Lippen bringen kann. Satte 34 Treffer fielen alleine am ersten Spieltag – so viele wie noch nie zuvor bei einer EM-Endrunde. Das torreiche Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und Schottland oder das Spektakel zwischen der Türkei und Georgien versetzten einen ganzen Kontinent in Fußballstimmung und tanzende wie singende Fans auf den Straßen der Bundesrepublik sorgten für eine Euphorie, die es so schon seit vielen Jahren bei keinem Turnier mehr gegeben hat.
Doch nur wenige Wochen später fällt die Antwort auf unsere Ausgangsfrage nicht mehr ganz so eindeutig aus. Klar, die Bilder und Videos der begeisternden Anhängerschaften sind geblieben. Die Stadien waren durch die Bank weg gut gefüllt und die außergewöhnliche Stimmung konnte trotz einiger Ausnahmen bis zum Ende aufrecht erhalten werden. Alleine das sind Tatsachen, die man über die vergangenen Nationalmannschaftswettbewerbe in der Form nicht sagen kann. Teils standort- und teils pandemiebedingt.
Dennoch wäre es natürlich wesentlich zu kurz gegriffen, wenn man ein großes Turnier, das nur alle vier Jahre stattfindet, alleine an seiner Stimmung und dem Auftreten der Fans messen würde. Welt- und Europameisterschaften ziehen Millionen Menschen an die Fernsehbildschirme, die das aktuelle Tagesgeschäft des Vereinsfußballs gar nicht oder nur aus der Ferne verfolgen. Die Aufgabe eines solchen Turniers muss es daher immer auch sein, Werbung für unseren aller Lieblingssport zu betreiben und die große öffentliche Bühne zu nutzen, die sich verhältnismäßig nur so selten bietet.
Ein fußballerischer Offenbarungseid
Und wenn wir ganz ehrlich mit uns selbst sind, dann hat die EM 2024 ihren Bildungsauftrag in dieser Hinsicht klar verfehlt. Mit einigen wenigen Ausnahmen natürlich. Wir haben mit Spanien einen Europameister gesehen, der in allen sieben Spielen durch mutigen und lebensbejahenden Fußball zu gefallen wusste, und den Southgates und Deschamps dieser Welt zeigte, dass Erfolg und biederer Pragmatismus nicht zwingend Hand in Hand gehen müssen.
Luis de la Fuente hat in den letzten vier Wochen bewiesen, dass man auch mit begrenzter Vorbereitungszeit, womit Nationalmannschaften nun einmal seit jeher zurecht kommen müssen, einen fußballerischen Ansatz entwickeln kann, der zwar risikobehaftet ist, die Chancen auf den eigenen Erfolg jedoch weniger dem Zufall überlässt und den Zuschauer an den Endgeräten zeitgleich auf maximale Art und Weise unterhält. In dieser Hinsicht kann man die EM definitiv als Erfolg bewerten.
Jedoch darf uns der spanische Triumph nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass ein absoluter Großteil der europäischen Elite das offenbar anders zu sehen scheint. Mit 2,4 Toren pro Spiel hat es zwar schon K.o.-Runden gegeben, in denen weniger Treffer gefallen sind, doch gerade ab dem Achtelfinale fielen viele Partien eher durch gähnende Langeweile auf und wurden dem Fußball-Fest, das zeitgleich auf den Straßen und Rängen stattfand, so keinesfalls gerecht.
Exemplarisch seien hier die Franzosen genannt, die sich mit vier erzielten Treffern – davon zwei gegnerischen Eigentoren und einem Elfmeter – bis ins Halbfinale mogelten. Oder die Portugiesen, die vor ihrem Viertelfinal-Aus gegen eben jenes Frankreich satte 365 Minuten auf ein Erfolgserlebnis warteten. Oder die Engländer, die uns einen noch viel grausameren Fußball boten, aber sich stets darauf verlassen konnten, dass einer ihrer Weltklasse-Einzelkönner einen lichten Moment pro Spiel erwischte. Die Tatsache, dass Teams, die schon nach der Gruppenphase ausgeschieden waren, lange einen besseren xG-Wert hatten als der Vize-Europameister, kommt nicht von ungefähr.
All diese Mannschaften haben mit ihren Leistungen nichts dafür getan, dass Gelegenheitszuschauer auch über diesen Sommer hinaus weiter am Fußball teilhaben wollen. Sie haben nichts dafür getan, ihr durch die Bank weg überragendes Spielermaterial zugunsten der Begeisterung ihrer eigenen Fans zu nutzen. Letztendlich gibt Erfolg natürlich immer Recht – das bewies Didier Deschmaps nicht zuletzt mit dem WM-Titel 2018. Doch wenn dieser ausbleibt, ist ein solch destruktives, um nicht zu sagen verschwenderisches Auftreten nur sehr schwer zu rechtfertigen.
Die aufmüpfigen Kleinen
Zu unser aller Glück wurde die Europameisterschaft in Deutschland nicht nur durch den Angsthasenfußball einiger Top-Nationen geprägt. Tolle Cinderella-Storys und Außenseiter-Geschichten prägten insbesondere die ersten vierzehn Tage dieser EURO. Georgien verdiente sich den Achtelfinal-Einzug bei der ersten EM-Teilnahme mit forschen Leistungen redlich und zauberte eigenen wie gegnerischen Fans regelmäßig ein Lächeln auf das Gesicht. Auch Nationen wie Rumänien, Slowenien oder die Slowakei spielten sich durch leidenschaftliche Auftritte in die K.o.-Runde, wo insbesondere Slowenien und die Slowakei mit einem Bein schon im Viertelfinale standen.
Großes Lob verdienen ebenso die Schweiz und die Türkei. Mit einem ballbesitzorientierten Spiel schalteten die Eidgenossen zunächst Titelverteidiger Italien aus und waren auch gegen England die bessere Mannschaft. Die Türkei dagegen war definitiv eines der spektakulärsten Teams dieses Turniers und sorgte durch späte Treffer, Traumtore und leidenschaftlichen Kampf regelmäßig für Momente der Ekstase. Über das Verhalten eines Spielers sowie das einiger Fans vor und während des Viertelfinals gegen die Niederlande hüllen wir an dieser Stelle mal lieber den Mantel des Schweigens.
Darum war die EM doch ein Erfolg
Letztendlich wird die Europameisterschaft 2024 aber vor allem als das Turnier in Erinnerung bleiben, das viele Fans verschiedener Kulturen oder Religionen miteinander vereinte und zum ersten Mal seit einiger Zeit wieder eine einmonatige Fußball-Euphorie über zahlreiche Ländergrenzen hinweg verbreitete. Zusammen genommen mit tollen Überraschungen und inspirierenden Außenseiter-Storys reichen alleine diese Tatsachen schon, um die Endrunde in Deutschland als einen Erfolg zu bezeichnen.
Alle News rund um die Europameisterschaft 2024
Wenn der spanische Titelgewinn dann noch zu der Erkenntnis geführt hat, dass ein offensiv ausgerichteter Spielansatz auch im Nationalmannschaftsfußball belohnt werden kann, dann waren die vergangenen vier Wochen auch in dieser Hinsicht ein absoluter Gewinn für unseren Sport. Es wäre o jogo bonito, The Beautiful Game, „dem schönen Spiel“ auf jeden Fall nur zu wünschen.
(Photo by Dan Mullan/Getty Images)