Hamburger Stadtderby | Alles eine Frage der Perspektive

17. September 2019 | Nachspielzeit | BY Christoph Albers

Der FC St. Pauli geht als Sieger aus dem ersten Hamburger Stadtderby der Saison und darf diesen Triumph durchaus als verdient bezeichnen. Trotzdem war auch eine gehörige Portion Glück erforderlich, was diese Niederlage für den Hamburger SV noch wesentlich unerträglicher machen dürfte. Wir haben uns das äußerst unterhaltsame Top-Spiel der 2. Bundesliga nochmals etwas genauer angesehen und versuchen das Spiel aus beiden Perspektiven zu betrachten.

Perspektive Hamburger SV

Für den HSV, der das letzte Derby am Millerntor noch mit 4:0 gewinnen konnte, steht unter dem Strich nicht nur die ärgerliche Derby-Niederlage, sondern auch ein erster Rückschlag im Kampf um den Aufstieg. Die Tabellenführung wurde an den VfB Stuttgart abgegeben und auch die übrigen Verfolger, wie zum Beispiel die Bielefelder Arminia, sind wieder näher herangekommen. Diese Erkenntnis dürfte womöglich sogar schwerer wiegen, da in diesem Jahr der Aufstieg zwingend erforderlich und im Grunde unverzichtbar ist. Daher wird man sich im Volksparkstadion vor allem die Frage stellen müssen, warum man es nicht geschafft hat gegen ein Team aus dem unteren Mittelfeld der Tabelle zu gewinnen, ob es nun aus Hamburg kommt oder aus einer anderen Stadt.

Never change a winning team?

Wenn wir uns auf Ursachenforschung begeben, müssen wir wohl mit der Aufstellung beginnen. Trainer Dieter Hecking entschied sich dafür weitestgehend auf die Mannschaft zu vertrauen, die vor der Länderspielpause Hannover 96 mit 3:0 besiegen konnte. Einzig Josha Vagnoman rückte für den Gyamerah, der sich im Training schwer verletzt hatte, in die Startelf. Der erfahrene Coach entschied sich damit auch gegen den Ex-Paulianer Jeremy Dudziak, der die Position auch hätte bekleiden können, den er aber vor allem im Mittelfeld sieht. Auch Neuzugang Martin Harnik, der gegenüber Khaled Narey das Nachsehen hatte, und der wiedergenesene Aaron Hunt mussten zunächst auf der Bank Platz nehmen. Rückblickend wäre vor allem Hunts Ballsicherheit und Kreativität hilfreich gewesen, weshalb der Routinier auch schon zur Halbzeit eingewechselt wurde. Lektion: Manchmal sollte man auch ein siegreiches Team verändern.

Doch auch abgesehen von der Aufstellung, wirkte der HSV nicht optimal auf das Spiel eingestellt. In den Anfangsminuten wirkten die „Rothosen“, mit Ausnahme von Adrian Fein, extrem nervös im Spielaufbau. Einfache Ballverluste und völlig unnötige Fehlpässe waren die Folge und brachten den FC St. Pauli ins Spiel. Die ersten Abschlüsse für St. Pauli durch Östigard und Knoll verstärkten den Eindruck. Dabei hatte der HSV durchaus die Mittel, um sich aus dem Druck der Gastgeber zu befreien. Vor allem die Innenverteidiger, van Drongelen und Jung, die immer wieder mit beherzten Antritten die erste Reihe St. Paulis, die sehr mannorientiert agierte, durchbrachen hätten die Möglichkeiten gehabt das Spiel weiter in die Hälfte der „Kiezkicker“ zu verlagern. Da sie anschließend aber zu häufig Fehlpässe produzierten, wurden diese Chancen verpasst.

Mit Fehlern und Pech

Das 0:1 aus HSV-Sicht in der 18. Spielminute war zu dem Zeitpunkt dann auch fast schon folgerichtig. Und auch hier zeigte sich, dass die „Rothosen“ nicht richtig da waren. Zunächst bekommt Flankengeber Möller Daehli zu wenig Druck bei seiner Hereingabe (Narey und Vagnoman), dann verliert Sonny Kittel seinen Gegenspieler Knoll vollkommen aus den Augen, sodass dieser völlig frei an den Pfosten köpfen kann, und schließlich reagiert Rick van Drongelen viel zu langsam und muss zusehen, wie der wesentlich wachere Diamantakos einköpfen kann.

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

Die beiden letztgenannten Akteure sind ohnehin auch im weiteren Spielverlauf sehr entscheidend. Der griechische Stürmer St. Paulis zog anschließend im Jubel sein Trikot aus und sah dafür selbstverständlich die gelbe Karte. So weit, so normal. Doch in der 36. Spielminute setzte er zu einem harten Foulspiel gegen Tim Leibold an, das auch gut und gerne mit einer gelben Karte hätte geahndet werden können. Die Situation ereignete sich nahe der Eckfahne, der Ball war weg und er trifft Leibold hart. Über eine gelb-rote Karte hätte sich St. Pauli also nicht beschweren dürfen. Nicht die letzte Schiedsrichter-Entscheidung, die für den HSV eher unglücklich ausfiel.

Denn unmittelbar vor dem Halbzeitpfiff erzielte Lukas Hinterseer das vermeintliche 1:1 für den HSV, das anschließend aber aberkannt worden ist, da der Ball im Tor-Aus gewesen sein soll. Die Fernsehbilder können die Situation nicht ansatzweise auflösen, sodass der VAR nicht helfen konnte (hier fehlte das „HawkEye“ als Hilfsmittel) und die Entscheidung des Linienrichters, der auf der anderen Seite des Tores, also mind. 50 Meter entfernt, postiert war, Bestand hatte. Sehr ärgerlich für die Gäste, vor allem mit der Situation am Freitag in Düsseldorf im Kopf.

Mit der Veränderung kam die Verbesserung

Was zu dem Zeitpunkt allerdings durchaus Hoffnung machen durfte war, dass der HSV gegen Ende der ersten Halbzeit immer stärker wurde und St. Pauli vor große Probleme stellte. Dieser Trend setzte sich in der zweiten Halbzeit dann auch weiter fort, u.a. auch weil Hecking Hunt für Narey brachte. Dieser Wechsel brachte drei Effekte mit sich: 1. Hunt war konsequent anspielbar und machte es St. Pauli, das Fein durch eine engere, mannorientierte Deckung besser in den Griff bekam, schwerer den Flow der Gäste zu unterbinden. 2. Kittel rückte eine Reihe weiter vor und schien sich dort deutlich wohl zu fühlen und konnte seine Torgefährlichkeit besser einbringen. 3. Der insgesamt sehr unglücklich (schwere technische Schwächen) agierende Bakery Jatta konnte von der linken auf die rechte Seite wechseln, wo er sich zumindest zeitweise besser einfand, bevor er ausgewechselt wurde.

Diese positiven Veränderungen sorgten dafür, dass sich der HSV Chance um Chance erspielte und eigentlich hätte ausgleichen müssen, doch insbesondere Lukas Hinterseer, der einen völlig gebrauchten Tag erwischte, ließ auch die größten Chancen liegen. Und so kam es, wie es kommen musste, St. Pauli stellte aus dem Nichts auf 2:0. Wobei St. Pauli hier gar nicht unbedingt zutreffend ist, denn es war Unglücksrabe Rick van Drongelen, der den Ball, beim Klärungsversuch, unglücklich ins eigene Tor beförderte. Der junge Niederländer, der an diesem Abend die Kapitänsbinde trug, spielte also bei beiden Toren eine durchaus große Rolle und wird sicherlich ungern an diesen Abend zurückdenken. Trotzdem machte er über weite Strecken, wie auch Nebenmann Jung, ein ordentliches Spiel. Vor allem seine guten, weiten Pässe in der Spieleröffnung stellten St. Pauli immer wieder vor große Probleme und zeigten seine Qualitäten. Auch hier war einfach viel Pech dabei, so ärgerlich es auch ist.

Mangelnde Effizienz

Aus diesem Grund muss man dem Schlussmann des HSV, Daniel Heuer Fernandes, auch Recht geben, wenn es folgendes sagt: „Es gibt einfach solche Spiele. Mit Mentalität hat das nichts zu tun.“ (Kicker). Und auch die Statistiken – 14:10 Torschüsse, 63:37% Ballbesitz, 53:47% Zweikämpfe, 8:4 Ecken, 85:74% Passquote jeweils pro HSV – unterstreichen den Eindruck, dass die „Rothosen“ dieses Spiel keineswegs hätten verlieren müssen. Fernandes‘ Ausführung, dass der HSV das Spiel in den ersten 30 Minuten verloren hätte sind daher nicht wirklich zutreffend, schließlich gab es noch ausreichend Gelegenheiten das Ergebnis anders zu gestalten. Heckings Feststellung, dass die fehlende Durchschlagskraft und mangelnde Effizienz ursächlich für die Niederlage seien, ist dagegen unbestreitbar.

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

Letztlich darf man aber konstatieren, dass der HSV sicherlich keine tiefgreifenden Probleme offenbart hat. Vielmehr war es eine Mischung aus Unkonzentriertheit, die womöglich auch auf Nervosität zurückzuführen ist, Pech bzw. unglücklichen Entscheidungen (hätten nämlich auch ohne Weiteres anders ausfallen können) und einem sehr engagierten Gegner, zudem wir jetzt kommen.

Perspektive FC St. Pauli

Für den FC St. Pauli war dieses Derby in erster Linie eine ganz große Chance. 1. Um den schwachen Start mit nur fünf Punkten aus den ersten fünf Spielen mit einem einzigen Spiel vergessen zu machen. 2. Um die schwachen Ergebnisse der Konkurrenz auszunutzen und den Tabellenkeller (zumindest vorerst) in Richtung gesichertes Mittelfeld zu verlassen.

Unbekümmertheit als Trumpf

Trainer Luhukay setzte dabei vor allem auf Unbekümmertheit und brachte mit Ohlsson, Östigard und Lawrence gleich drei Neuzugänge in der Viererkette und mit Becker und Conteh zwei sehr junge Spieler im Mittelfeld. Und diese Maßnahme schien zu fruchten. St. Pauli agierte von der ersten Minute an sehr mutig und extrem engagiert. Die Verteidiger hielten ihr Spiel vorwiegend simpel und wählten häufig auch den sicheren, langen Ball, während die Mittelfeldspieler und Angreifer den Spielaufbau der Gäste mit großer Hingabe und vollem Einsatz zu unterbinden versuchten – anfangs mit großem Erfolg.

Angeführt von den beiden herausragenden Akteuren Knoll und Möller Daehli, versuchten die Gastgeber immer wieder schnell umzuschalten, was des Öfteren aber an den eigenen technischen Schwächen (Conteh, Miyaichi) scheiterte. Ohnehin wurde deutlich, dass St. Pauli auch nach diesem Spiel sicherlich nicht zu den besseren Mannschaften der zweiten Liga gehört. Etliche Konterchancen wurden am Ende der Partie leichtfertig liegen gelassen, was sich in anderen Situationen (und wenn der Gegner etwas glücklicher agiert) durchaus rächen kann. Und auch sonst waren die spielerischen Schwächen mitunter unübersehbar, weshalb man sich auf dem Kiez auch nicht von diesem Ergebnis blenden lassen sollte.

Die Lust aufs Gewinnen

Es war klar zu erkennen, dass St. Pauli von dieser Gelegenheit und der Besonderheit des Abends lebte und vor allem über die Gier, den Willen, der Lust aufs Gewinnen kam, während der „große HSV“ womöglich eher mit der Angst vor dem Verlieren kämpfte. Dieser Unterschied war über die vollen 90 Minuten wahrnehmbar.

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

In der Nachbetrachtung sollte Jos Luhukay aber nicht über die taktischen Schwächen (wenige Ideen in der Spielauslösung, nicht immer optimales Verhalten im Pressing, …) hinwegsehen. Denn gerade gegen Gegner aus den hinteren Gefilden der Tabelle, die womöglich eher die direkte Konkurrenz darstellen, sind auch andere Qualitäten gefragt, als im Derby. Trotzdem hat dieser Sieg aber natürlich auch viel Positives mit sich gebracht: Diamantakos trifft weiterhin gut, Möller Daehli ist in Top-Form, Marvin Knoll sowieso, die Neuzugänge, auch die eingewechselten Penney und Diarra, fügen sich gut ein und die Stimmung ist jetzt eine ganz andere.

Derby-Sieg als schwere Bürde?

Und diese Stimmung, diese Euphorie, die nach dem Spiel spürbar war, kann einen extrem positiven Effekt auf den weiteren Saisonverlauf haben. Dieser Sieg könnte die Mannschaft enger zusammen schmeißen, die Fans mit an Bord holen, das Vertrauen in Trainer und Mitspieler stärken und dem ganzen Verein Sicherheit verleihen. Er könnte aber auch schädlich wirken, Probleme überdecken, eine falsche Sicherheit vorgaukeln und zu Selbstzufriedenheit führen. In der Vergangenheit waren Derby-Siege oft eine schwere Bürde, wie der HSV es in der letzten Saison und St. Pauli in der Abstiegssaison 2010/11 schmerzhaften erleben mussten. Die „Kiezkicker“ sollten diese Beispiele als Mahnung sehen…

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

Christoph Albers

Cruyff-Jünger und Taktik-Liebhaber. Mag präzise Schnittstellen-Pässe, schwarze Leder-Fußballschuhe, Retro-Trikots und hat einen unerklärlichen Hang zu Fußball-Finanzen. Seit 2016 bei 90PLUS.


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