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Als der FC Chelsea fast Geschichte wurde

5. April 2020 | Spotlight | BY Chris McCarthy

Bald 17 Jahre ist es her, dass Roman Abramovich für 140 Millionen Pfund den FC Chelsea übernahm. Der Londoner Klub verwandelte sich in einen der erfolgreichsten der Welt. Doch in der Saison, bevor das Geld kam, standen die Blues am Abgrund.

Wenn der FC Liverpool auf den FC Chelsea trifft, darf ein Gesang nicht fehlen:„ F*ck Off Chelsea FC, You ain’t got no history“. Ob zuhause oder auswärts, speziell Ende der 2000er, als die Blues begannen, sich als eine der erfolgreichsten Mannschaften Englands zu etablieren, wurde der Gesang von den Fans der Reds besonders laut angestimmt.

Denn die traditionsbewussten Scousers wollten keine Gelegenheit auslassen, um daran zu erinnern, wo der jüngste Erfolg der neureichen Londoner herkam, nämlich primär aus dem Geldbeutel eines russischen Oligarchen mit dem Erscheinungsbild eines James-Bond-Bösewichts: Roman Abramovich.

Nichtsdestotrotz ist der Inhalt des Gesangs ein Mythos. Der Verein aus dem Westen Londons blickt heute auf 115 Jahre Geschichte zurück, erfreute sich schon vor der Ankunft des Besitzers, speziell in den 20ern, 60ern, Anfang der 70er sowie Ende der 90er, großer Beliebtheit und feierte einige Erfolge.

Am 11. Mai 2003 drohte die Geschichte des FC Chelsea jedoch ein und für alle Male beendet zu werden. Die Zukunft des Londoner Klubs stand auf dem Spiel, ausgerechnet gegen den FC Liverpool. Ein Rückblick.

Neue Ära unter Gullit

Als Geschäftsmann Kevin Bates den schwerverschuldeten FC Chelsea 1982 für die obligatorische Summe von nur einem Pfund übernahm, war der Klub in die zweite Liga abgestürzt. Die Blues erholten sich allmählich, aber erst als sich Ballon-d‘Or-Sieger Ruud Gullit dazu entschloss, seine Weltkarriere im Westen Londons ausklingen zu lassen und 1996 als Spielertrainer übernahm, kam der Erfolg zurück.

Photo Credit: Mike Hewitt /Allsport

Gullits Dreadlocks waren geschrumpft, seine Strahlkraft war unverändert. Der Niederländer, einer der wenigen ausländischen Trainer zu diesem Zeitpunkt, zog namhafte Neuzugänge an, die den Blues ein neues und plötzlich wieder gefürchtetes Gesicht verliehen.

Die Offensive hatte allerdings seinen Preis. Für klangvolle Namen wie Gianfranco Zola, Marcel Desailly, Jimmy Floyd Hasselbaink oder später Frank Lampard musste man eben tief in die Taschen greifen. Zwischen 1996 und 2001 hatte auf der Insel einzig Leeds United, wo die Ausgaben letztendlich zur Insolvenz führten, einen größeren Transferverlust vorzuweisen als der FC Chelsea (-110 Millionen Euro).

Während die Londoner unter Gullit und anschließend unter Nachfolger Gianluca Vialli die ersten Titel seit 1971 sammelten und in die Champions League zurückkehrten, braute sich im Hintergrund ein bedrohlicher Sturm zusammen.

Kevin Bates: Zwischen Genie und Wahnsinn

Im Mittelpunkt der Probleme stand Besitzer Bates. Er hatte Chelsea saniert und nach jahrelangen Disputen mit Immobilienunternehmen dafür gesorgt, dass die einst gemietete Stamford Bridge nicht in Hotels umgewandelt wurde, sondern letztendlich in den Besitz der Fans überging. Die Organisation Chelsea Pitch Owners wurde ins Leben gerufen und verwaltet die Rechte.

Doch der ergraute Brillenträger mit dem kurz gestutzten Bart sorgte nicht nur für positive Schlagzeilen. Bates schroffen Aussagen und Ideen – beispielsweise, das Hooliganproblem durch elektrische Zäune anzugehen – wurden kritisch beäugt. So auch seine eigenen Immobilienprojekte, die Anfang 2000 begannen, sich negativ auf die Finanzkraft des Klubs auszuwirken. Der blaue Schuldenberg wuchs an, was Bates damals lachend herunterspielte.

2001 sagte allerdings Jeremy Batstone vom Kreditinstitut NatWest Stockbrokers im Guardian: „Sie versuchen, ein positives Bild zu malen, aber die Tatsache ist, dass die Firma dabei gescheitert ist, ihre Kosten zu kontrollieren.

Photo Credit: Graham Chadwick/ALLSPORT

Das begann sich auf die Mannschaft auszuwirken. Nachdem Chelsea unter Vialli-Nachfolger Claudio Ranieri zwei Mal in Folge die Champions League verpasste, kam im Sommer 2002 erstmals seit 37 Jahren kein ablösepflichtiger Neuzugang. Die Lage war ernst, wie ernst, stellte sich erst im Nachhinein heraus.

Das Spiel um die Existenz

Trotz des ungewohnt stillen Transfersommers hatte der FC Chelsea am letzten Spieltag der Saison 2002/2003 die Chance, sich im direkten Duell mit dem FC Liverpool wieder für die Champions League zu qualifizieren. Die Presse betitelte den Showdown angesichts der winkenden Einnahmen durch die Königsklasse als das „10-Millionen-Pfund-Spiel“.

Was damals keiner ahnte: Für den FC Chelsea ging es um weitaus mehr, es ging um die Existenz. In seiner Autobiographie „Totally Frank“ blickt Chelsea-Legende Frank Lampard auf ein Teammeeting vor dem Spiel gegen die Reds zurück. Der Mittelfeldallorunder mit dem tödlichen Schuss befand sich nach seiner Ankunft von West Ham damals in seinem zweiten Jahr bei den Blues. Heute ist er der Trainer des Klubs. Die glatte Haut, das kurze, schwarze Haar: Er würde noch immer als Spieler durchgehen.

„Es war seltsam“, beschreibt Lampard den Abend vor dem richtungsweisenden Spiel. Nachdem die Motivationsrede eines ehemaligen Soldaten die Mannschaft so verwundert wie eingeheizt hatte, betrat Geschäftsführer Trevor Birch den Raum. Lampard erinnert sich an seine Worte: „Ich muss euch etwas sehr Wichtiges sagen. Der Klub befindet sich in einer finanziellen Krise. Damit der FC Chelsea in der nächsten Saison noch existiert, müsst ihr euch für die Champions League qualifizieren. Kurz gesagt: Wenn ihr Liverpool nicht schlagt, wird der Klub Pleite gehen.“

Dem Tod von der Schippe gesprungen

Als die Spieler des FC Chelsea und des FC Liverpool am nächsten Tag das Feld der Stamford Bridge betraten, war die Stimmung aufgeladen. „Es war wie ein Pokalfinale in der Liga, der Gewinner nimmt alles“, blickt Lampard zurück.

Chelsea ging früh in Rückstand. Lampard, der in dieser Saison dabei war, endgültig durchzustarten, war geschockt: „Ich konnte nicht glauben, dass es so endet, wir durften das nicht zulassen.“

Mandatory Credit: Ben Radford /Allsport

Die Mannschaft von Claudio Ranieri kämpfte sich zurück und drehte noch vor der Halbzeit das Spiel. Flügelspieler Jesper Gronkjaer, der optische Prototyp eines Dänen, legte das 1:1 durch Abwehrturm Marcel Desailly vor, ehe er selbst per gefühlvollem Schlenzer auf 2:1 erhöhte. Die Blues brachten den Sieg über die Zeit und sprangen dem Tod von der Schippe.

„Der Schlusspfiff ertönte und ich war leer, physisch und mental“, erinnert sich Lampard und ergänzt: „Wenn die 41.911 Fans an dem Tag gewusst hätten, was wir wussten.“

FC Chelsea: Eine neue Ära

Was allerdings selbst die Spieler nicht wussten, war, dass der Sieg und der Einzug in die Königsklasse die komplette Zukunft des Vereins verändern würden.

Chelsea machte sich damit attraktiv genug, um einen Milliardär an Land zu ziehen. Im Juli 2003 erwarb Roman Abramovich für 60 Millionen Pfund über 50 Prozent des Klubs, inklusive der 80 Millionen Pfund an Schulden.

(Photo AFP via Getty Images)

Mit seiner schier endlosen Finanzkraft wurden die Londoner einer der erfolgreichsten Vereine unserer Zeit. In den folgenden 16 Jahren hat der FC Chelsea rund 2 Milliarden Euro auf dem Transfermarkt investiert – mehr als jeder andere Klub auf der Insel – dabei die begehrtesten Spieler und Trainer der Welt an Land gezogen sowie insgesamt 18 Titel gewonnen. Einzig 2019/2020 tanzt aufgrund einer Transfersperre aus der Reihe.

„Ich schaue heute zurück und frage mich, was passiert wäre, wenn wir verloren hätten. Ich kann es mir gar nicht vorstellen“, erinnert sich Lampard, nachdem er in elf weiteren Jahren für den Verein alles von Pokal bis Champions League gewann und ergänzt: „Ich traue mich nicht mal daran zu denken.“

Denn hätte der FC Liverpool an diesem 11. Mai 2003 gewonnen, hätte der FC Chelsea wohl zwar seine Geschichte, dafür aber womöglich keine Zukunft, so umstritten sie auch ist…

Chris McCarthy

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Mandatory Picture Credit: Ben Radford/Getty Images

Chris McCarthy

Gründer und der Mann für die Insel. Bei Chris dreht sich alles um die Premier League. Wengerball im Herzen, Kick and Rush in den Genen.


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