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Hannover 96 | Glanzzeit mit Slomka: Die Kunst des Einfachen

22. März 2020 | Spotlight | BY Manuel Behlert

Fußball kann manchmal sehr einfach sein. Ihn einfach aussehen zu lassen ist hingegen oft sehr kompliziert. Akribische und vor allem sehr gute Arbeit und Spieler, die ein Konzept nicht nur ausführen, sondern es verinnerlichen, sind die Basis. So wie bei Mirko Slomka und Hannover 96 Anfang der 2010er-Jahre.

Blickt man dieser Tage auf Hannover 96, so bleibt festzuhalten, dass die Niedersachsen nicht nur weit von einem klaren Konzept entfernt sind, sondern auch von den sportlichen Erfolgen vergangener Tage. Die Negativentwicklung und der Gang in Liga 2 laden dazu ein, auf diese vergangenen Zeiten zurück zu blicken.

19. Januar 2010: Mirko Slomka unterschreibt in Hannover

Nach nur gut fünf Monaten trennten sich im Januar 2010 die Wege von Hannover 96 und Cheftrainer Andreas Bergmann. Der neue Übungsleiter hieß fortan Mirko Slomka, der die Aufgabe hatte, die Mannschaft vor dem Abstieg zu bewahren. Nach 18 Spieltagen standen die 96er mit 17 Punkten auf dem 16. Tabellenplatz, verloren gerade mit 0:3 gegen Schlusslicht Hertha BSC. Die Situation war zwar noch nicht dramatisch, weil sich viele Klubs in Reichweite befanden, der Auftritt gegen Hertha sorgte aber für ein Umdenken. 

Die Situation für den neuen Trainer stellte sich nicht gerade einfach dar, zumal die gesamte Mannschaft noch unter dem tragischen Selbstmord von Robert Enke im November 2009 litt. Die Einflussnahme durch eine wochenlange Vorbereitung war nicht möglich, Slomka musste eine geknickte Mannschaft wieder aufbauen. Mentale Elemente waren gefordert, der „Trainereffekt“ versandete aber. Fünf Niederlagen zum Auftakt ließen keinen Zweifel an der Größe der Aufgabe für Mirko Slomka.

Am 25. Spieltag – beim SC Freiburg – konnte der erste Sieg bejubelt werden. Hannover 96 legte eine Woche später gegen Frankfurt nach, die weitere Saison verlief aber sehr zäh. Es ging einzig und allein um das Überleben in Liga 1, am Ende reichten 33 Punkte und Platz 15 für den Klassenerhalt. Der folgende Sommer sollte genutzt werden, um einen Neuanfang zu starten. Und Mirko Slomka hatte nicht nur entsprechende Pläne, sondern mit Jörg Schmadtke im Hintergrund auch einen cleveren Unterstützer.

Slomka und Schmadtke: Basisarbeit

Der Sommer 2010 war ein enorm wichtiger für Hannover 96, obwohl auf dem Transfermarkt nur eine Million Euro ausgegeben wurde. Mohammed Abdellaoue, Lars Stindl und Ron Robert-Zieler sind einige Beispiele für Neuzugänge, die keine finanzielle Belastung, aber eine nachhaltige Verstärkung darstellten. Zudem stand der ein oder andere Protagonist der kommenden Jahre schon im Aufgebot. Didier Ya Konan, Jan Schlaudraff oder Konstantin Rausch beispielsweise blühten in der Folgesaison auf. 

(Photo by Joern Pollex/Bongarts/Getty Images)

Das Scouting der Niedersachsen, die gute Vernetzung von Jörg Schmadtke und die Weitsicht von Mirko Slomka in Sachen Kaderplanung sollten sich auszahlen. Hannover gab auch in den darauffolgenden Transferperioden wenig Geld aus, lotste aber Spieler an den Maschsee, die ideal zum Konzept passten. Auch Artur Sobiech oder Mame Diouf, die zusammen nicht einmal drei Millionen Euro kosteten, verstärkten in der Spitze und in der Breite. 

Und: Endlich hatte Mirko Slomka die Chance seinen Spielstil in einer strukturierten und langen Vorbereitung zu implementieren. Elemente wie Kompaktheit oder typische Abstiegskampftugenden wie Kampf, Leidenschaft und Wille standen nicht im Vordergrund. Hannover 96 wollte vielmehr gut pressen, zielstrebig und schnörkellos nach vorne Spielen und Angriffsmuster einarbeiten, die jeder im Team verstehen und ausführen kann.

Der Schlüsselmoment Sevilla

Gut ein Jahr nach dem Fast-Abstieg wurde Hannover 96 sensationell Vierter. Mit 19 Siegen gewann die Slomka-Elf genauso häufig wie der FC Bayern, Schritt Nummer eins der sukzessiven Entwicklung unter Mirko Slomka wurde erfolgreich absolviert. Hannover spielte keinen Champagnerfußball, die Mannschaft zeichnete sich durch ein sehr gefestigtes Spielsystem und eine sehr gute Effizienz aus. Vor allem Instinktstürmer Didier Ya Konan mit 14 Toren und sechs Vorlagen wurde zum Sinnbild des Aufschwungs. Die Belohnung für Platz vier: Hannover 96 konnte an den Playoff-Spielen um die Europa League teilnehmen. 

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

Doch dort wartete der FC Sevilla, ein großer Klub aus Spanien. War die Saison 2010/11 nur ein Höhenflug, der ein jähes Ende finden wird? Diese Frage konnte schon in den ersten 45 Minuten des Hinspiels beantwortet werden. Hannover 96 führte zur Halbzeit durch einen Doppelpack des überragenden Jan Schlaudraff mit 2:1, ließ die Andalusier in einigen Spielszenen sehr alt aussehen. Hannover versuchte wenn möglich schnell umzuschalten, den Ball direkt in die Spitze zu spielen und schnell den Abschluss zu suchen.

Die „10-Sekunden-Regel“, die besagt, dass zehn Sekunden nach der Balleroberung eine zielführende Offensivaktion angeführt werden soll, entwickelte sich schnell zu einem unverwechselbaren Merkmal von Hannover 96. Wieder und wieder ließ Slomka solche Angriffe im Training proben. Das Ziel war klar: Der Gegner sollte in seiner Unordnung, wenn er nach einem Ballverlust verwundbar ist, getroffen werden. Und das funktionierte häufig sehr gut, auch gegen den FC Sevilla. 

Hannover kann Mehrfachbelastung

Dem 2:1-Sieg im Hinspiel folgte ein 1:1 im Estadio Ramon Sanchez Pizjuan. Der FC Sevilla war geschockt, Hannover 96 feierte einen Coup und wusste nicht, dass es einer von vielen sein wird. Doch schon stellten sich neue Fragen. Wie wird Hannover mit der Mehrfachbelastung klarkommen? Die Antwort: Gut! In der Bundesliga zeigten sich durch die ungewohnten Zusatzspiele auf europäischem Parkett zwar partielle Leistungsdellen, am Ende der Saison 2011/12 standen die Niedersachsen aber auf einem guten siebten Platz, ließen Klubs wie Werder Bremen oder den VfL Wolfsburg hinter sich.

 (Photo by Joern Pollex/Bongarts/Getty Images)

Und in der Europa League musste die Slomka-Elf nur eine Niederlage in der Gruppenphase hinnehmen. Sinnbildlich für die von einer ungeheuren Euphorie geprägten Europareise war der Treffer von Lars Stindl am vierten Spieltag in Kopenhagen. Beim Stand von 1:1 schaltete Hannover – quelle surprise – schnell um, spielte einen langen Ball in die Spitze. Stindl verwertete ihn brillant, legte ihn mit rechts gegen den Laufweg am Verteidiger vorbei, nahm den Ball mit dem linken Fuß direkt, traf ihn ideal und versenkte die Kugel zum 2:1-Siegtreffer.

In der K.O.-Runde schaltete Hannover 96 schließlich den Club Brügge (2:1, 1:0) mit zwei Siegen aus, ehe Standard Lüttich bezwungen wurde. Das 4:0 im Rückspiel war eines der besten Spiele der 96er, auch hier glänzte die Mannschaft durch schnelles Umschalten, sehr gut einstudierte Angriffsmuster und Effizienz im Angriffsdrittel. Erst im Viertelfinale, gegen den späteren Titelgewinner Atlético Madrid um einen überragenden Falcao und mit Spielern wie Godín, Diego oder Filipe Luís, endete die Reise. Beide Spiele wurden knapp mit 1:2 verloren, Hannover 96 hatte sich aber einen Namen in Europa gemacht.

Europareise 2.0 und wiederkehrende Defensivprobleme

Es waren aber längst nicht nur die schnellen Gegenangriffe, die Hannover 96 auszeichneten. Auch das situative und aggressive Gegenpressing, das den Gegner teils schon am eigenen Strafraum an einem kontrollierten Spielaufbau hinderte, war ein Markenzeichen. Auch im Mittelfeld wurden Ballgewinne erzwungen. Die Devise: Überzahl in Ballnähe. So wurden gegnerische Kreativspieler isoliert, Pressingfallen gestellt und Fehler oder Ungenauigkeiten ausgenutzt. Hannover verstand es sehr gut, den Gegner mal kommen zu lassen, aber ihm gleichzeitig jederzeit das Gefühl zu geben, dass es schnell ungemütlich werden kann.

Die Mannschaft war gefestigt, fegte in der Qualifikation zur Europa League über St. Patricks Athletic und Slask Wroclaw hinweg, erzielte in den vier Partien 15 Treffer. Die anschließende Gruppenphase überstanden die Niedersachsen sogar ohne Niederlage, wurden vor Levante, Helsingborg und Twente Gruppensieger. 

In der ersten K.O.-Runde endete die Reise allerdings – gegen die neureichen Russen von Anzhi. Die Mannschaft um Eto’o, Boussoufa, Willian und Lacina Traore beendete die Träume von einer erneuten Reise bis in die letzten Runden des Wettbewerbs. Das Hinspiel ging mit 3:1 an Anzhi, im Rückspiel sorgte Traore mit dem 1:1 in der 98. Minute für das Ende aller Hoffnungen.

(Photo by PATRIK STOLLARZ/AFP via Getty Images)

Auch in der Bundesliga lief es nicht ganz so gut wie in den beiden Spielzeiten zuvor. Zwar erzielte Hannover 96, angetrieben von einem überragenden Huszti, der an 28 Treffern direkt beteiligt war, 60 Tore in der Saison 2012/13, die Defensive zeigte sich aber mitunter wackelig, sodass am Ende „nur“ Platz neun das Resultat war.

Hannover und Slomka: Das schleichende Ende

Im Sommer 2013 wechselten dann unter anderem Edgar Prib, Salif Sané und Hoffnungsträger Leonardo Bittencourt nach Hannover. Bittencourt, der in Dortmund zuvor sein Potenzial andeutete, hatte allerdings Anlaufprobleme, kam bis zum Winter lediglich auf vier Scorerpunkte. Auch die 31 Gegentore in der Hinrunde waren ein Problem, zumal die Offensive eben nicht mehr die zuvor gezeigte Effizienz an den Tag legte. Mit Abdellaoue, Rausch und Pinto verließen drei Spieler den Klub, die unter Mirko Slomka eine wichtige Rolle einnahmen, auch der erfahrene Cherundolo, der seine Karriere beendete, sollte eine Lücke hinterlassen.

In der Winterpause trennten sich der Klub dann von Mirko Slomka, auf Platz 13 stehend. Die Ansprüche waren gestiegen, die Leistungen zu unkonstant. Die Strategie wirkte entschlüsselt, die neuen Ideen fehlten und im Transfersommer gelang es eben nicht, Volltreffer zu landen. Das Ende von Mirko Slomka kam schleichend, war die Folge eines langen Prozesses.

Nun, etwas mehr als sechs Jahre später, würden die Fans von Hannover 96 Platz 13 in der Bundesliga gerne annehmen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine Phase in der jüngeren Vereinsgeschichte, als man mit guter Arbeit, einem klaren Plan und einem sehr guten Spielsystem auf nationaler und internationaler Ebene überrascht und begeistert hat. Der dazugehörige Fußball sah einfach aus, war es aber nicht. Und das ist die wohl größte Errungenschaft von Mirko Slomka während seiner Zeit bei den Niedersachsen.

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(Photo by Oliver Vosshage/Bongarts/Getty Images)

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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