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U21 EM | Sandro Tonali im Porträt: Auf den Spuren Andrea Pirlos

13. Juni 2019 | Spotlight | BY Sascha Baharian

Spotlight | Wir sind im Stadio Mario Rigamonti, der Heimspielstätte des Brescia Calcio. Ein elegant wirkender „Regista“ mit langen Haaren verzaubert die Fans im Stadion mit seinem magischen Passspiel. Diese Szene ist jedoch nicht aus den 90ern und handelt auch nicht vom jungen Andrea Pirlo. Nein, es geht um dessen legitimen Erben, ein Talent, nach dem sich sämtliche Topklubs in Italien die Finger lecken – Sandro Tonali!

Der Vergleich mit der ehemaligen Milan-Legende geht jedoch über die Haarfrisur des 19-jährigen Talents hinaus. Ähnlich wie der Weltmeister von 2006 startete Tonali seine Karriere in der Lombardei, wurde wie der Altmeister aus einem Offensivmann zu einem aus der Tiefe agierenden Spielmacher umgeschult. Im August 2017 debütierte der damals gerade mal 17-jährige Italiener im Serie-B-Spiel gegen Avellino und überzeugte bei seinen anschließenden Profiauftritten dermaßen, dass er auf Anhieb zum Stammspieler avancierte.

Reife sein großes Plus

Ab dem folgenden Sommer 2018 sorgte der in Lodi geborene Italiener dann so richtig für Furore. Im Rahmen der U19-Europameisterschaft führte der Mittelfeld-Dirigent mit exzellenten Leistungen die „Azzurini“ bis ins Endspiel und demonstrierte dabei eine wesentlich reifere Spielanlage als andere Talente seines Alters.

Dieser Hype wurde durch die anschließende Berufung in die „Squadra Azzura“ durch Italiens Nationaltrainer Roberto Mancini befeuert, welcher sich persönlich von den ungeheuren Fähigkeiten des Ausnahmekickers beeindrucken lassen wollte.

Sandro Tonali im Kreise der A-Nationalmannschaft (Photo by Claudio Villa/Getty Images)

Diese positiven Eindrücke transportierte Tonali mit in die Serie B-Saison. In Italiens zweiter Liga hatte er ganz entscheidenden Anteil daran, dass der Traditionsverein Brescia Calcio nach Jahrzehnten wieder in der Serie A vertreten sein wird. Zehn direkte Torbeteiligen (3 Tore, 7 Vorlagen) standen am Ende der Spielzeit auf Tonalis Konto, für einen defensiven Mittelfeldspieler durchaus beeindruckende Werte, vor allem für einen U19-Spieler!

Eine „Beruhigungstablette“ für Mitspieler

Ein Spieler seiner Art wirkt mit seiner lässigen Art am Ball enorm beruhigend auf seine Teamkollegen. Man könnte ihn als eine Art „Beruhigungstablette“ bezeichnen, die selbst in intensiven Pressing-Phasen des Gegners nie aus der Fassung gerät. Diese Eigenschaft ist sehr untypisch für Spieler seines Alters und unterstreichen die mentale Reife des Youngsters ungemein.

Tonalis ungewöhnliche Technik gepaart mit seiner Übersicht, ermöglichen ihm Schnittstellen-Pässe a la Pirlo auszuführen. Ob es darum geht in Ballbesitz zu bleiben, das Spiel aufzubauen, oder einen langen Diagonalball über den halben Platz zu schlagen – das Juwel besitzt alle technischen Attribute um diese Aufgaben mit Bravour zu meistern.

(Photo by Emilio Andreoli/Getty Images for Lega B)

Der aggressive Edeltechniker

Doch es wäre zu einfach Tonali nur auf sein exzellentes Passspiel zu beschränken, denn seine Fähigkeiten im Dribbling sind gleichermaßen erwähnenswert. In 1-gegen-1-Duellen lässt er dem Gegner dank seiner engen Ballführung und dem geschickten Einsetzen seines Körpers kaum eine Chance. Diese Fähigkeiten sorgen dafür, dass Tonali auch unter Druck die Lücken des Gegners ausmachen und bespielen kann.

„Ich möchte eine Mischung aus der Klasse Andrea Pirlos und der „Boßhaftigkeit“ Gattusos sein.“ Diese Aussage beschreibt am besten die Ambivalenz seiner Spielweise. Denn gegen den Ball geht Tonali keinem Zweikampf aus dem Weg und „haut“ gerne mal ordentlich dazwischen.

Behebbare Defizite

Gelegentlich hält der junge Lombarde noch zu lange den Ball und überschätzt dabei seine Fähigkeiten. Doch zusammen mit seinem ausbaufähigen Positionsspiel sind das eher Defizite, die er im Laufe seiner Karriere durchaus korrigieren kann.

Bei all den Lobeshymnen um das italienische Supertalent, sollte der „Tifoso“ nicht zu schnell in Ekstase verfallen. Denn bis dato konnte das Juwel von Brescia Calcio seine Qualitäten ausschließlich in der zweiten italienischen Liga nachweisen und hat daher noch keine Erfahrungspunkte in höheren Ligen sammeln können. Möglicherweise auftretende Krisen und der Umgang mit eben jenen werden also auch eine Rolle in der Entwicklung des 19-jährigen spielen.

Lieber Konsole als Partys

Doch das Potenzial bleibt unbestritten immens hoch und die mentale Reife Tonalis beeindruckt gleichermaßen. „Ohne die Opfer, die meine Eltern für mich gebracht haben, wäre ich nicht hier“, zeigte sich das italienische Supertalent zuletzt in einem Interview reflektiert und dankbar.

Außerhalb des Platzes gilt Tonali als Familienmensch, welcher lieber zu Hause seine Zeit vor der Spielekonsole verbringt, als sich im Nachtleben auszutoben. Alles in allem sind alle Vorraussetzungen gegeben, dass das Ausnahmetalent vor einer großen Karriere steht und vielleicht sogar dafür sorgt, dass bald niemand mehr über den Vergleich mit Andrea Pirlo spricht, sondern er, Sandro Tonali, seine eigene Geschichte schreibt.

Sascha Baharian

(Photo by Paolo Bruno/Getty Images)


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