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Sarri und Chelsea – Das Ende der kollektiven Ungeduld

19. Juni 2019 | Spotlight | BY Chris McCarthy

Spotlight | Nach nur einem Jahr, einer zwischenzeitlich nicht für möglich gehaltenen Top-Four-Platzierung, dem Gewinn der Europa League und unzähligen zerkauten Zigarettenfiltern ist er weg. Maurizio Sarri verlässt den FC Chelsea und kehrt zurück nach Italien, wo er den Trainerposten bei Juventus Turin übernimmt. Die Saisonziele wurden erreicht, der Abschied war dennoch unvermeidbar. Wieso eigentlich?

Suboptimale Voraussetzungen und übertriebene Erwartungen

Schon der Auftakt der Sarri-Ära an der Stamford Bridge war holprig. Nach zähen Verhandlungen mit dem SSC Neapel wurde der Italiener erst am 14.07.2018 als neuer Trainer des FC Chelsea präsentiert. Die Vorbereitung hatte bereits begonnen, das Transferfenster die letzten Wochen erreicht.

Eine komplizierte Voraussetzung für den Sarri-Ball, denn auch bei Napoli brauchte der ehemalige Banker einige Jahre und Neuzugänge, um seine Spielweise mit den Azzurri zu perfektionieren. Auch bei Chelsea würde dieser Fußball nicht über Nacht funktionieren. Immerhin bekam Sarri ein Willkommensgeschenk. Sein langjähriger und unverzichtbarer Taktgeber Jorginho begleitete ihn mit nach London.

(Photo BEN STANSALL/AFP/Getty Images

Dem Mittelfeldspieler war es wohl auch zu verdanken, dass Chelsea trotz suboptimaler Vorbereitung einen optimalen Auftakt hinlegte. Die Blues dominierten den Ballbesitz und gewannen die ersten fünf Spiele in Serie, blieben bis zum 13. Spieltag sogar ungeschlagen. Die Bilanz in diesem Zeitraum: 2,33 Punkte pro Spiel bei 2,25 Toren und nur 0,67 Gegentoren – die Fans waren begeistert.

Die Erwartungen stiegen und somit wurde die Aufgabe des neuen Trainers plötzlich noch schwerer. In diesem frühen Stadium des Sarri-Balls und ohne einen dafür abgestimmten Kader war eine derartige Form nämlich unmöglich aufrechtzuerhalten.

Kollektive Ungeduld

Mauricio Pochettino war der erste, der die Fragilität des unvollendeten Sarri-Systems mit Erfolg entblößte. Am 13. Spieltag nahm Tottenham Jorginho – das Herz des Chelsea-Spiels – gezielt aus der Partie. Damit brachte der Stadtrivale die Blues komplett aus dem Rhythmus. Das Offensivspiel stockte, der Ballbesitz litt und die personell fraglich besetzte, hoch stehende Verteidigung wurde plötzlich entblößt. Chelsea verlor 1:3.

Andere Teams machten es den Spurs nach, doch Sarri fehlte ein Plan B. Dieser fehlte eigentlich auch bei Napoli. Anders als in Italien hatte der Trainer in England jedoch keinen für seine Philosophie „herangezüchteten“ Kader, der der unweigerlichen Transparenz seiner Ausrichtung zu trotzen wusste.

Das Spiel der Blues begann zwangsmäßig heftig zu kränkeln. Zwischen dem 13. und 26. Spieltag verschlechterten sich die entscheidenden Zahlen dramatisch: Nur noch 1,3 Tore, dafür aber 1,5 Gegentore bedeuteten lediglich 1,6 Punkte pro Partie.

(Photo by Shaun Botterill/Getty Images)

Sarris Herangehensweisen und personellen Entscheidungen (bspw. den defensivanfälligen Jorginho auf der Sechs und dafür Kanté auf der Acht) wurden von Fans und Medien lautstark hinterfragt. Für die vor der Saison noch zu erwartenden Anpassungsprobleme gab es nach dem überragenden Saisonauftakt plötzlich kein Verständnis mehr. Ungeduld machte sich breit. Die ersten „Sarri Out“ Sprechchöre waren an der Stamford Bridge zu vernehmen. Am 23. Spieltag, in Mitten des Negativtrends und nach einem schwachen 0:2 bei Arsenal, lief das Fass letztendlich auch bei Sarri über.

Der aufgebrachte Trainer betonte, dass die Niederlage nicht seinem System, sondern „mehr als alles andere unserer Mentalität geschuldet“ war. Damit nicht genug, Sarri holte aus:

“Ich bevorzuge es, […]über Taktik zu reden und warum wir aus strategischer Sicht verloren haben. Aber die Tatsache ist, dass es so scheint, als wäre diese Gruppe von Spielern extrem schwer zu motivieren” 

Sky

Erfolgreicher Pragmatismus

Das Team nahm die „Mourinho-esque“ Kritik nicht gut auf. Neben der Form sanken auch Laufbereitschaft und Intensität. Ein 0:4 gegen Bournemouth und 0:6 gegen Manchester City rundeten einen Negativtrend von nur 22 Punkten aus 14 Spielen eindrucksvoll ab. Sarri wurde angezählt, von den Fans, der Presse und Medienberichten zufolge auch von der Vereinsführung.

Der Italiener stand folglich unter Druck, musste nur 14 Tage nach der 0:6 Schmach in der Premier League nun im Ligapokalfinale gegen Manchester City eine Trotzreaktion zeigen, um seinen Job zu behalten. In der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen und so wich der als stur geltende Sarri etwas von seiner Spielphilosophie ab. Er verzichtete auf Ballbesitz (38%), wählte eine tiefere Verteidigungslinie und ließ deutlich defensiver agieren. Offensive Akzente sollten vor allem in Form von Kontern und in Person von Eden Hazard gesetzt werden. Die Blues verloren zwar knapp im Elfmeterschießen, doch der Ansatz zeigte Wirkung, auch wenn das durch Kepas Verweigerung, sich auswechseln zu lassen, überschattet wurde.

Sarri erkannte, dass sein Team – gerade nach den jüngsten Nackenschlägen – deutlicher stabiler auftrat. Folglich hielt er an der pragmatischeren Ausrichtung fest. Die Offensive würde nicht mehr an den Output des Auftakts herankommen und die Attraktivität des Spiels litt. Es war nicht der erwartete Sarri-Ball, der mittlerweile an der Stamford Bridge zynisch belächelt wurde, aber die Defensive stabilisierte sich und kassierte deutlich weniger Gegentore. Durchschnittlich 0,67 Gegentreffer – weniger als die Hälfte im Vergleich zum Negativtrend – bei weiterhin 1,5 erzielten Toren bedeuteten eine gestiegene Ausbeute von 1,83 Punkten pro Spiel. Fas war genug, um das Schneckenrennen um die Top-Four in den letzten Wochen für sich zu entscheiden. Das versönliche Saisonende wurde sogar noch gekrönt. Durch ein erschreckend bequemes 4:1 über ein desolates Arsenal im Finale der Europa League konnte Sarri noch einen signifikanten Titel einfahren.

Es war zwischenzeitlich alles andere als glamourös und es brauchte durchaus die individuelle Brillanz eines Eden Hazard, doch unter dem Strich erfüllte Maurizio Sarri seine Aufgabe. Dass der Sarri-Ball nicht über Nacht funktionieren würde, war absehbar, insbesondere aufgrund der Kader-Limitationen. Nichts desto trotz holte der Italiener das sportliche Maximum heraus und erreichte die Saisonziele.

(Photo by Shaun Botterill/Getty Images)

Unvermeidbarer Abschied

Sarris Abschied war dennoch unvermeidbar. Dieser war nicht dem Sportlichen, sondern eher der Ungeduld geschuldet. Nicht alleine der Ungeduld der Fans, der Medien oder der erfahrungsgemäß impulsiven Vereinsführung – Dieser Druck herrscht bei so ziemlich jedem Fußballverein, insbesondere bei einem mit den Ambitionen des FC Chelsea.

Ausschlaggebend für das Aus nach nur einem Jahr war viel eher die Ungeduld Sarris und zwar in Bezug auf seine Heimat. Der Italiener schien in England nie wirklich angekommen zu sein, wirkte das gesamte Jahr über noch gereizter als sonst. Folglich überraschte es nur wenige, als er nach der Saison auf seinen Abschied deutete.

„Für uns Italiener ist das Verlangen nach Hause zu gehen sehr stark. Du spürst, das etwas fehlt“

Vanity Fair

„Maurizio machte es klar, wie groß sein Verlangen ist, in sein Heimatland zurückkehren zu wollen“, erklärte Chelsea-Direktorin Marina Granovskaia nach der Auflösung seines Vertrags. Diesem Verlangen wollte man nicht im Wege stehen.

Dieses Verlangen hatte sich nämlich ebenfalls von der kollektiven Ungeduld im Westen Londons anstecken lassen. So weit, dass eine Harmonie zwischen Trainer, Umfeld und Mannschaft niemals möglich war. So weit, dass Sarri die Rückkehr nach Italien irgendwann so sehr herbeisehnte, wie eine echte Zigarette nach 90 Minuten an der Seitenlinie.

Chris McCarthy

(Main Photo by Catherine Ivill/Getty Images)

Chris McCarthy

Gründer und der Mann für die Insel. Bei Chris dreht sich alles um die Premier League. Wengerball im Herzen, Kick and Rush in den Genen.


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