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Weißt du noch? | Als Jens Lehmann ein ganzes Land entzückte – GER vs. ARG 2006

13. April 2020 | Weißt du noch...? | BY Hendrik Wiese

Spotlight | Deutschland gegen Argentinien. Die Duelle beider Nationen werden für immer in die Geschichte des Weltfußballs eingehen. Primär denkt man natürlich an die WM-Finals 1986, 1990 und 2014, die jeweils vor Spannung kaum zu überbieten waren. Aber auch in den KO-Runden gab es mehrere nervenaufreibende und hochklassige Duelle, die für Aufmerksamkeit, Frust und Euphorie sorgten. Eines dieser Begegnungen wurde am 30.06.2006 um 17:00 Uhr ausgetragen.

Deutschland vs. Argentinien – Der Höhepunkt des Sommermärchen

An jenem sonnigen Tage im Berliner Olympiastadion wurden Geschichten für die Ewigkeit geschrieben. Angefangen mit dem Zettel der Nation oder der Umarmung Oliver Kahns mit seinem Konkurrenten Jens Lehmann, als Zeichen des neuen deutschen Zusammenhalts, oder schlichtweg die Geschichte über Regisseur Jürgen Klinsmann, der ein Team formte, das auch in der Lage war große Nationen zu schlagen. Aber mal langsam und ganz von vorne.

In Deutschland versammelte sich nach 1974 wieder einmal die Weltelite des internationalen Fußballs, um die 18. Weltmeisterschaft auszutragen. Zwei Jahre nach der Schmach von Portugal, wo sich das von Rudi Völler trainierte DFB-Team bei der Europameisterschaft bereits in der Vorrunde verabschieden musste, sollte im eigenen Land eine Euphorie-Welle ausgelöst werden. Die Favoriten stammten allerdings eher aus Italien, England, Frankreich, Spanien und eben Argentinien.

Die Ausgangslage

Die DFB-Elf war als Gastgeber in Gruppe A angesiedelt. Mit Ecuador, Polen und Costa Rica erwischte man eine leichte Gruppe, die Zielführung Gruppensieg wurde automatisch als Erwartung vorgegeben. Dennoch war es keine reine Platzierung oder KO-Runde, die Trainer Jürgen Klinsmann und die restliche deutsche Fußballwelt als Mindestziel erwartete. Die Mannschaft sollte kämpfen und für das Land spielen, dann sei jeder deutsche Fußballfan zufrieden.

Neben erfahrenen Leistungsträgern um Michael Ballack, Jens Lehmann oder auch Miroslav Klose, wurde die DFB-Elf mit den Anfangsprodukten der „goldenen Generation“ ergänzt. Für Phillipp Lahm, Bastian Schweinsteiger oder auch Lukas Podolski war es die erste Weltmeisterschaft und auch sie waren es, die der deutschen Mannschaft ein neues, unbekümmertes Gesicht verleihen sollten.

Auf Seiten der Argentinier bekam man es in Gruppe C mit der Niederlande, der Elfenbeinküste und Serbien und Montenegro zutun.
Der Favoritenstatus hat die Ansprüche im eigenen Land noch einmal gestärkt. Der erfahrene Kern rund um Hernan Crespo, Riquelme und Roberto Ayala wurde ebenfalls von einer jungen, spielstarken Garde verstärkt. Neben dem 19-jährigen Messi sind vor allem Javier Mascherano und Carlos Tevez zu nennen.

Messi 2006
(Photo credit should read DANIEL GARCIA/AFP via Getty Images)

Euphorisiertes Deutschland

Für die Klinsmann-Elf war es ein lockerer Ritt durch die Gruppenphase. Costa Rica schlug man 4:2, Polen, aufgrund eines Treffers von Oliver Neuville in der Nachspielzeit, mit 1:0 und die Ecuadorianer fegte man mit einem 3:0 aus dem Berliner Olympiastadion. Im Achtelfinale konnten auch die Schweden Deutschland nichts gegensetzen. Durch einen frühen Doppelschlag von Lukas Podolski zog man in das Achtelfinale ein, das ganze Land strotzte vor Euphorie.

Auch die Argentinier wurden ihrer Favoritenrolle gerecht und standen nach der Gruppenphase mit sieben Punkten und einem Torverhältnis von 7:1 im Achtelfinale. Gegen aufopferungsvolle Mexikaner benötigte man die Verlängerung, ehe Maxi Rodriguez das erlösende 2:1 für die Südamerikaner erzielte.

Im Viertelfinale kam es also zum Duell der beiden Giganten. Die Argentinier sahen sich als Favorit, dennoch warnte Cheftrainer Pekerman vor den „mentalitätsstarken Deutschen“. Auf Seiten des WM-Gastgebers wollte man die Frage: „Ist das DFB-Team gut genug, um große Mannschaften zu schlagen?“ endlich mit „Ja!“ beantworten.

Podolski Schweinsteiger
(Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Die Aufstellungen

Deutschland: (4-2-2-2) Lehmann – Friedrich, Mertesacker, Metzelder, Lahm – Frings, Ballack – Schneider, Schweinsteiger – Podolski, Klose

Argentinien: (4-3-3) Abbondanzieri – Coloccini, Ayala, Heinze, Sorin – Gonzalez, Mascherano, Riquelme – Rodriguez, Crespo, Tevez

Im Vergleich zum Sieg über Schweden vertraute Klinsmann der Floskel „Never change a winning team“. Das eingespielte Abwehr-Pärchen aus Mertesacker und Metzelder wurde von Friedrich und Lahm ergänzt, wobei letzterer mit seinem Offensivdrang die Vorderleute unterstützen sollte. In der Schaltzentrale setzte der Cheftrainer auf den „Haudegen“ Thorsten Frings neben Kapitän Ballack. Auf den Außen war der damalige Flügelspieler Bastian Schweinsteiger zusammen mit Bernd Schneider zu finden. An vorderster Front agierte das eingespielte Stürmerduo aus Lukas Podolski und Miroslav Klose.

Jose Pekerman ließ offensiv in einem 4-3-3 spielen, wobei sich die Formation defensiv auf ein 4-4-2 umformatierte. Der umstrittene Abbondanzieri im Tor, Coloccini, Ayala, Heinze und Sorin davor. Die beiden Außenverteidiger waren besonders im Offensivspiel asymmetrisch angeordnet, da Kapitän Sorin immer wieder die Wege in die Tiefe ging, während der gelernte Innenverteidiger Coloccini absicherte. Im Mittelfeld zogen Javier Mascherano, Luis Gonzalez und Riquelme die Fäden, davor agierten Maxi Rodriguez, Hernan Crespo und Carlos Tevez.

Aufgrund der unterschiedlichen Spielweisen der Außenverteidiger versprühten die „Gauchos“ auf der linken Seite mit dem Duo Tevez/Sorin deutlich mehr Offensivpower als auf dem rechten Flügel.

Systemfußball par excellence

In einem hochmotivierten Berliner Olympiastadion pfiff Schiedsrichter Lobos Michel aus der Slowakei die Partie pünktlich um 17:00 an. Wie es sich für ein WM-Viertelfinale gehört, dominierten defensive Attribute die Partie. Beide Teams waren auf Sicherheit aus, schmissen sich in jeden Zweikampf und suchten nur selten den Weg nach vorne. Die größten Chancen gab es in Halbzeit eins nach Flanken oder Freistößen, wo auf deutscher Seite Podolski (7.), Ballack (16.) und Mertesacker (18.) vergaben. Auf Seiten der Argentinier lag der ganze Fokus auf ihrem Spielmacher, derjenige der den Unterschied ausmachen sollte, aber zunächst nicht konnte: Riquelme.

In den zweiten 45 Minuten bot sich dem Berliner Publikum das gleiche Bild, bis schließlich Maxi Rodriguez im Duell mit Lahm eine Ecke rausholte, jener Riquelme die Flanke in die Mitte brachte und Ayala zum Tor für Argentinien einnickte.

Hatten die Zweifler recht? Sind die Deutschen noch nicht erfahren genug, um solche Spiele gewinnen zu können? Fehlte vielleicht auch einfach ein wenig Qualität, um gegen die Allerbesten mithalten zu können? Wo war eigentlich der bis hierhin hochgelobte Klose?

All diese Fragen wurden knapp zehn Minute vor Ende der regulären Spielzeit beantwortet. Odonkor eroberte die Kugel auf der rechten Seite, verlagerte das Leder unfreiwillig auf Ballack, der nach einem Doppelpass mit Lahm eine weitere von unzähligen Flanken in die Mitte brachte. Dort setzte sich, der kurz vorher eingewechselte, Borowski durch, verlängerte auf Klose, der unhaltbar einköpfte. Die Euphorie war zurück. Klinsmann hatte mit seinen Einwechselspielern Odonkor und Borowski den richtigen Riecher bewiesen, das Spiel war wieder offen.

In den letzten Minuten der regulären Spielzeit, sowie auch in der gesamten Verlängerung, waren beide Teams weiterhin auf Sicherheit aus, weshalb das Elfmeterschießen für eine Entscheidung sorgen musste.

Aus Konkurrenten werden Freunde

Vor Beginn der Weltmeisterschaft beschäftigte eine große Frage den deutschen Fußball: Wem schenkt Klinsmann das Vertrauen im Tor? Dem 37-Jährigen Kahn oder dem gleichaltrigen Lehmann? Die beiden Konkurrenten prägten seit Jahren ein schlechtes Verhältnis zueinander. „In Schulnoten ausgedrückt eine fünf“, so Lehmann. Nach dem letzten Testspiel vor der Weltmeisterschaft erklärte Kahn in einem Interview, dass er davon ausgehe zu spielen. Sein Konkurrent, der fünf Meter neben ihm stand, entgegnete „ich glaube ich habe gut Karten zu spielen.“ Während der Keeper der Bayern im Jahre 2002 den Vorzug erhielt, setzte „Klinsi“ 2006 auf Lehmann.

Doch kurz vor dem Elfmeterschießen ging Kahn auf Lehmann zu und umarmte ihn. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hat wohl auch der letzte begriffen, wie stark der Zusammenhalt in dieser Mannschaft war. Einer war für den anderen da. Die Einzelspieler sind zu einer Mannschaft gewachsen, die das bisher erfolgreiche Turnier fortsetzen wollte.

Gigant Lehmann

Die ersten drei Schützen, namentlich Neuville, Cruz und Ballack, verwandelten allesamt sicher. Daran anschließend trottete Roberto Ayala zum Punkt und vergab gegen den stark-parierenden Lehmann. „Prinz Poldi“ und Tim Borowski auf deutscher Seite und Maxi Rodriguez auf Seiten der Argentinier trafen, ehe Esteban Cambiasso antrat. Sollte Lehmann parieren, wäre Deutschland weiter. Cambiasso visierte die, vom Schützen aus gesehene, linke untere Ecke an, Lehmann ahnte es auch dieses Mal und hielt die Kugel. Der nachweisliche Höhepunkt des Sommermärchen wurde erreicht und Lehmann avancierte zum Helden. Der mittlerweile 50-Jährige entschied sich bei jedem der vier Elfmeter vor 14 Jahren für die richtige Ecke.

Lehmann
(Photo credit should read VALERY HACHE/AFP via Getty Images)

Der Zettel der Nation

Kurz vor Beginn des Elfmeterschießens übergab Torwarttrainer Andreas Köpke seinem Keeper Jens Lehmann den wohl wichtigsten Zettel der deutschen Fußballhistorie. Darauf standen die möglichen Elfmeterschützen der „Gauchos“ mit ihren präferierten Ecken. Vor jedem Schuss der Argentinier holte Lehmann den Zettel aus seinem Stutzen und sprang anschließend in die richtige Ecke. Dieser Trick wurde somit zu einem wichtigen Teil der deutschen Sportgeschichte.

Nach dem Elfmeterschießen präsentierten sich die „Gauchos“ als schlechte Verlierer und waren der Auslöser für eine große Rangelei. Als Folge dieser wurde unter anderem Thorsten Frings für das restliche Turnier gesperrt.

Versöhnender Abschluss

Jener Frings hätte den Deutschen wohl im Halbfinale gegen die Italiener gut getan. Die Klinsi-Elf hielt lange mit, bis Fabio Grosso in der 119. Minute das 0:1 für die „Squadra Azzurra“ erzielte und Deutschland somit in das kleine Finale um Platz drei gegen die Portugiesen schickte. Gegen Cristiano Ronaldo & Co. war der große Zeitpunkt von Bastian Schweinsteiger gekommen, der Portugal mit drei Toren auf Platz vier schickte und die DFB-Elf einen versöhnenden Abschluss auf dem 3. Platz erleben durfte.

Deutschland 2006
(Photo by Vladimir Rys/Bongarts/Getty Images)

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(Photo by Clive Mason/Getty Images)

Hendrik Wiese

Aufgewachsen mit dem Spielstil von Bastian Schweinsteiger bevorzugt Hendrik spielerische Dominanz und technisch ansehnlichen Fußball. Seit Dezember 2019 ist er für 90PLUS unterwegs, bevorzugt im deutschen Oberhaus.


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