Spotlight

Weißt du noch? | CZE vs NED 2004 – das beste EM-Spiel aller Zeiten?

26. März 2020 | Spotlight | BY Marius Merck

Spotlight | Das Coronavirus sorgt für eine Verschiebung der diesjährigen Europameisterschaft. Welche Spiele den Anhängern dadurch entgehen, verdeutlicht ein Blick zurück zur Endrunde vor 16 Jahren in Portugal. Damals duellierten sich Tschechien und die Niederlande in der Vorrunde – und lieferten in einem unglaublichen Thriller das beste Spiel der EM 2004 und auch in der ewigen Historie der Europameisterschaften ab.

(Photo by Bongarts/Getty Images)

Die Ausgangslage

In der Gruppe D tummelten sich neben den beiden erwähnten Teams noch das von Rudi Völler trainierte Deutschland sowie der Außenseiter Lettland. Zum Auftakt erkämpfte sich die „Elftal“ mit viel Mühe ein Remis gegen das DFB-Team. Superstar Ruud van Nistelrooy sorgte erst kurz vor Schluss in seiner typischen Manier per Abstauber für einen Zähler, zuvor hatte Torsten Frings für die Führung gesorgt. Auch Tschechien vermochte im ersten Spiel nicht wirklich zu glänzen. Gegen das eigentliche „Kanonenfutter“ aus Lettland ging man sogar mit 0:1 in Rückstand, Milan Baros und Marek Heinz sicherten der Mannschaft von Trainer Karel Brückner dann doch noch den Pflichtsieg. Somit deutete vor dem direkten Duell im zweiten Spiel nicht unbedingt viel auf ein Spektakel hin.

Die Holländer mit Bondcoach Dick Advocaat gingen natürlich etwas favorisiert in diese Partie, doch der vermeintliche Außenseiter hatte der Niederlande bereits in der Qualifikation für dieses Turnier das Leben schwer gemacht: Tschechien belegte am Ende in der Gruppe 3 ungeschlagen den ersten Platz. Der überhaupt einzige Punktverlust kam bei dem 1:1 in Amsterdam zustande, der Gruppensieg wurde dann durch ein 3:1 über die „Oranje“ in Prag perfekt gemacht. Die Niederlande musste somit den Weg nach Portugal über die Relegationsspiele beschreiten, wo man Berti Vogts Schotten mit 6:0 abschoss.

(Photo by Christof Koepsel/Bongarts/Getty Images)

Zwei Teams mit der perfekten Mischung

So wenig spektakulär bis dahin die Gegebenheiten geschildert wurden, wird den beiden Kadern eigentlich nicht gerecht. Sowohl Tschechien wie auch die Niederlande hatten zu jenem Zeitpunkt eigentlich eine optimale Mischung aus Talenten und erfahrenen Spielern zur Verfügung. Bei der „Elftal“ waren noch einige Akteure wie Jaap Stam (Lazio), Clarence Seedorf (AC Milan), Edgar Davids (Juventus) oder Edwin van der Sar (Fulham) aus der „goldenen (Ajax-)Generation“ der 1990er Jahre vorhanden, die sich nun im perfekten Fußballalter befanden. Diese Routiniers sollten die damals aufstrebende junge Garde im Kader um Talente wie Arjen Robben (PSV), Wesley Sneijder oder Rafael van der Vaart (beide Ajax) führen.

(Photo by FRANCOIS GUILLOT/AFP via Getty Images)

Eine ähnlich vielversprechende Konstellation lag in personeller Hinsicht auch bei den „Kockasti“ vor: Die verbliebenen Vize-Europameister von 1996 wie Pavel Nedved (Juventus), Vladimir Smicer (Liverpool) oder Karel Poborsky (Sparta Prag) gaben den Ton an, aufstrebende Youngster wie Torhüter Peter Cech (Stade Rennes), Milan Baros (Liverpool) oder CL-Finalist Jaroslav Plasil (AS Monaco) bildeten dazu einen jungen Gegenpol. Dazwischen tummelten sich mit Tomas Rosicky, Jan Koller (beide Borussia Dortmund) oder Marek Jankulovski (Udinese) Akteure im besten Fußballalter. Insofern kann man vor allem bei der Brückner-Elf wahrhaftig von einer „goldenen Generation“ sprechen.

(Photo by Christof Koepsel/Bongarts/Getty Images)

Typisch „holländische Schule“ vs „en-vogue“-Raute

Durch die Ausgangslage ging es in dem zweiten Gruppenspiel schon um sehr viel: Die Niederländer durften keinesfalls erneut Punkte liegen lassen, vor allem da Deutschland in seinem Aufeinandertreffen mit Lettland scheinbar einen Freifahrtschein hatte. Dem Mitfavoriten auf den Gesamtsieg drohte somit schon nach zwei Spielen das Aus. Ebenso wollten die Tschechen trotz des Auftaktsieges nachlegen, sonst musste man im letzten Gruppenspiel gegen das DFB-Team ein Endspiel fürchten. Das spielerisch armselige Deutschland versprühte unter Völler, obwohl amtierender Vize-Weltmeister, nicht wirklich Angst und Schrecken. Auf ein solches Szenario waren Brückner & Co. dennoch nicht erpicht.

Advocaat optierte für dieses Spiel zu dem für die Niederlande typischen 4-3-3. Vor van der Sar verteidigten um Abwehrchef Stam im Zentrum von rechts nach links Johnny Heitinga (Ajax), Wilfried Bouma (PSV) und Giovanni van Bronckhorst (FC Barcelona). Das Mittelfeld wurde neben den Weltstars Seedorf und Davids von Kapitän Philipp Cocu (FC Barcelona) komplettiert. Robben kam damals noch etwas untypisch über den linken Flügel, während auf der rechten Seite Andy van der Meyde (Inter) das Vertrauen erhielt. Beide sollten van Nistelrooy (Manchester United), in dieser Zeit fraglos der beste Strafraumstürmer der Welt, mit Hereingaben füttern.

(Photo by FRANCOIS GUILLOT/AFP via Getty Images)

Der Gegner wählte einen anderen taktischen Ansatz, bewegte sich dabei aber zeitgemäß in der damaligen Lieblingsvariante der meisten Übungsleiter: Die Verwendung der Raute im Mittelfeld. Kapitän Tomas Galasek (Ajax) sicherte vor der Viererkette aus Zdenek Grygera (Ajax), Tomas Ujfalusi (Hamburger SV), Martin Jiranek (Reggina) und dem bereits erwähnten Jankulovski ab. Vor dem späteren Nürnberger agierten auf den Halbpositionen Poborsky und Nedved, beides Shootingstars der Endrunde von 1996. Noch etwas versetzt vor diesem Duo zog Spielmacher Rosicky die Fäden. Im Sturm vereinte Brückner mit dem „Schlachttross“ Koller sowie dem beweglicheren und technisch versierten Baros verschiedene Komponenten.

(Photo by FRANCK FIFE/AFP via Getty Images)

Erste Halbzeit: Furioser Auftakt der „Elftal“

Für ein erstes Ausrufezeichen im Estadio Muncipal de Aveiro sorgte zwar direkt der Außenseiter, als Koller nach einem herrlichen Zuspiel von Rosicky in aussichtsreicher Position völlig verzog, danach dominierte vor den rund 30.000 Zuschauern aber erwartungsgemäß der Favorit. Schon nach vier Minuten stand Bouma nach einem ruhenden Ball von Robben im Strafraum völlig blank und nickte zur Führung ein. Im Anschluss zeichnete sich vor allem Seedorf aus: Zunächst setzte er einen Freistoß an den Außenpfosten, kurz darauf flog ein weiterer Distanzschuss von ihm knapp am Pfosten vorbei.

Nach zwanzig Minuten sollte dann das Unvermeidliche eintreffen: Davids spielte einen fantastischen Ball durch die Schnittstelle, Robben war Grygera wiederholt im Rücken davongeeilt und gab scharf in die Mitte, wo van Nistelrooy mutterseelenallein lauerte. Mit einem einzigen Kontakt erhöhte der Stürmer auf 2:0. Nach nicht einmal einem Viertel des Spiels sah es bereits nach einer Vorentscheidung aus.

(Photo by Laurence Griffiths/Getty Images)

Allzu lange bestand diese Annahme wiederum auch nicht, weil Baros etwas dagegen hatte. Der Youngster drängte in einem harten Zweikampf mit Stam (!) diesen gut ab und konnte damit den Ball behaupten, während der Abwehrspieler ganz schlecht aussah. Mit letzter Kraft spitzelte er den Ball zu Koller, welcher im Gegensatz zu Beginn des Spiels die Nerven behielt und van der Sar keine Chance ließ. Der Anschluss war somit nur fünf Minuten nach dem zweiten Treffer wiederhergestellt.

Die „Oranje“ begann daraufhin etwas wütender zu werden, maßgeblich in der Person von Heitinga. Der Verteidiger senste erst auf äußerst rüde Nedved um, dann feuerte er einee Gewaltschuss aus rund 30 Metern ab. Der Niederländer traf den Ball perfekt, das Leder zischte direkt auf den Torwinkel zu. Doch Cech zeigte, wieso Chelsea ihn in diesem Sommer zum Antrittsgeschenk für den neuen Trainer José Mourinho machte, und lenkte den Ball noch gerade so über die Latte.

Die Niederlande wollte unbedingt wieder den alten Abstand: Abermals fiel Seedorf mit einem Gewaltschuss auf. Sein Partner Davids schien von dessen Schusswut inspiriert zu werden, doch sein Versuch sorgte für größere Gefahr: Nach einer Ablage von Robben, einem weiteren zukünftigen Chelsea-Spieler, traf der „Pitbull“ mit einem Flachschuss nur den Pfosten. Damit hätte Robben fast seinen dritten Treffer vorbereitet. Mit einer 2:1 Führung für den Favoriten pfiff Schiedsrichter Manuel Enrique Mejuto Gonzalez dann zur Halbzeit.

(Photo by Andreas Rentz/Bongarts/Getty Images)

Nedved & Baros überragen bei Aufholjagd

Personelle Veränderungen nahmen weder Brückner noch Advocaat während dem Pausentee vor. Der tschechische Trainer hatte allerdings bereits nach 23 Minuten den von Robben vorgeführten Grygera erlöst, für ihn war der erfahrene Smicer in das Spiel gekommen. Dieser Wechsel sollte noch wichtig werden, doch zunächst prüfte mit Poborsky ein anderer Routinier van der Sar direkt nach dem Wiederanpfiff. Auf der Gegenseite drang der überragende Robben abermals zur Grundlinie durch und flankte auf van Nistelrooy, welcher völlig frei seinen zweiten Treffer machen muss, doch Cech verhinderte dies mit einer weiteren Weltklasse-Parade.

Dass auch die „Elftal“ einen überragenden Keeper hat, zeigte sein Gegenüber kurz darauf: Der eingewechselte Marek Heinz bediente Smicer, welcher an der Strafraumgrenze ungestört abschließen konnte. Der Ball kam perfekt auf die lange Ecke, doch van der Sar lenkte die Kugel mit dem ganzen Einsatz seiner Körpergröße von fast zwei Metern doch noch um den Pfosten. Die Tschechen drängten angetrieben von einem fantastischen Nedved nun vehement auf den Ausgleich.

(Photo by Andreas Rentz/Bongarts/Getty Images)

Der amtierende Ballon-d´Or-Gewinner flankte bald darauf den Ball gefühlvoll auf die Brust Kollers im Strafraum, welcher für Baros abprallen ließ. Sein Sturmpartner nahm diese Ablage direkt und ließ van der Sar mit diesem Volley keine Chance – der Ausgleich! Doch gerade Nedved wollte noch mehr. Zunächst scheiterte er mit einem Freistoß aus großer Entfernung. Daraufhin nahm er sich aus vollem Lauf aus der fast gleichen Position erneut ein Herz. Sein Vollspannschuss flog über van der Sar hinweg, knallte aber nur an das Gebälk. Fraglos wäre dieser Versuch zum „Tor des Turniers“ gewählt worden, hätte Nedved nur um wenige Zentimeter genauer gezielt.

Die Niederländer konnten sich zu diesem Zeitpunkt kaum noch befreien, dazu gesellte sich erschwerend, dass Heitinga mit seiner zweiten gelben Karte vorzeitig unter die Dusche musste. Zwei Minuten vor dem Abpfiff schoss Heinz aus der Distanz, van der Sar konnte den Ball noch etwas seitlich abwehren, wo nun Poborsky in etwas ungünstigeren Winkel völlig blank vor ihm stand. Doch der erfahrene Spieler täuschte den Nachschuss nur an und legte stattdessen quer auf Smicer, welcher problemlos in das freie Tor einschieben konnte. Die Holländer konnten dem nichts mehr entgegensetzen.

(Photo by Andreas Rentz/Bongarts/Getty Images)

Fünf Tore und eine Aufholjagd, zahlreiche Glanzpararden, ein Platzverweis, mehrere Aluminium-Treffer auf beiden Seiten – somit fand eines der besten Spiele der EM-Geschichte sein Ende. Die Tschechen hatten sich mit der Maximalausbeute von sechs Punkten schon den Gruppensieg gesichert und galten nun als ernsthafter Anwärter auf den Gesamtsieg, während der Kontrahent mit nur einem Punkt auf zwei Spielen ernsthaft um das Weiterkommen bangen musste.

Der weitere Verlauf: „Nur“ zwei Halbfinalisten

Eine Chance darauf bestand allerdings auch noch nach dieser Enttäuschung, da ein ganz schwaches Deutschland im Parallelspiel gegen den „Exoten“ Lettland nicht über ein torloses Remis hinauskam. Somit musste man am letzten Spieltag die eigenen Aufgabe gegen den Turnier-Neuling erledigen und dabei auf die bereits qualifizierten Tschechen gegen die DFB-Elf hoffen. Diese sollten die Niederländer nicht enttäuschen: Baros und Heinz sorgten für einen 2:1 Sieg gegen die Völler-Elf mit einer besseren B-Mannschaft. Dank van Nistelrooy und Roy Makaay (wie gut dieser Stürmer eigentlich war, lest ihr hier!) gelang auf diese Weise doch noch der Einzug in das Viertelfinale.

Dort setzten sich die beiden Teams gegen ihre jeweiligen Gegner durch. Die Niederlande schaltete die Schweden mit dem jungen Zlatan Ibrahimovic im Elfmeterschießen aus. Deutlich weniger Probleme hatten die „Kockasti“ bei dem souveränen 3:0 über Dänemark, wo Baros mit einem Doppelpack abermals besonders hervorstach. Spätestens nach dieser Begegnung konnten sich die Tschechen dem Favoritenstatus nicht mehr entziehen – vor allem wegen dem vermeintlich leichten Kontrahenten Griechenland im Halbfinale.

(Photo by Jamie McDonald/Getty Images)

Doch an diesem Tag lief wirklich alles gegen die Truppe von Brückner. Trotz bester Gelegenheiten ging es torlos in die Verlängerung, ferner wurde die Mannschaft hart von dem verletzungsbedingten Ausfall von Rosicky (wie gut dieser Mittelfeldspieler eigentlich war, lest ihr hier!) getroffen. Die Mauertaktik von Otto Rehhagel sollte sich bezahlt machen, als der fast 40-jährige Libero (!) Traianos Dellas den Außenseiter und späteren Europameister mit dem ersten „Silver Goal“ der Fußballgeschichte in das Endspiel köpfte.

Die Niederlande zog dagegen in einem deutlich spannenderen Spiel gegen Gastgeber Portugal bei der (verdienten) 1:2 Niederlage den Kürzeren. Die hochveranlagte Elf von Advocaat konnte insgesamt mit eigentlich nur einem Sieg in fünf Auftritten nicht überzeugen. Das Erreichen der letzten Vier ging für den Gewinner von 1988 somit völlig in Ordnung.

Tschechien: Die große Chance liegen lassen

Über diese verpasste Gelegenheit dürften sich sämtliche Mitglieder des tschechischen Kaders noch lange geärgert haben. Über das ganze Turnier spielte keine andere Mannschaft einen besseren Fußball als das Team von Brückner oder trat annähernd so souverän auf. Als einziger Teilnehmer gewann man bis zum Semifinale alle Spiele und war zudem ebenso als einzige Mannschaft noch ohne Niederlage. Die „goldene Generation“ sollte bei den kommenden Turnieren nie wieder solche Sphären erreichen, somit stellte diese Endrunde rückblickend die letzte große Chance auf einen großen Titel dar.

Cristiano Ronaldo, Wayne Rooney, Zlatan Ibrahimovic oder der bereits erwähnte Robben – von zahlreichen späteren Weltstars ging der Stern bei dieser Europameisterschaft auf, kein anderer Youngster glänzte aber in diesen Wochen wie Baros. Der junge Angreifer sicherte sich mit fünf Toren den Titel des Torschützenkönig. Im Vergleich zu den anderen Talenten hielt er dieses Level aber bei weitem nicht über einen so langen Zeitraum. Er und Smicer erlebten zwar nur ein Jahr später im CL-Finale mit Liverpool gegen Milan noch eine verrücktere Aufholjagd. Danach sollten dem verheißungsvollen Start von Baros´ Karriere aber nicht mehr viele Highlights auf der allergrößten Bühne (auch wegen vieler Verletzungen) hinzugefügt werden.

(Photo by JOHN D MCHUGH/AFP via Getty Images)

Im Gegensatz zu ihm hatte Nedved seinen Status als absoluter Weltklassespieler schon damals zementiert. Hätte er tatsächlich Tschechien zum Gesamtsieg geführt, dann wäre seine Titelverteidigung bei der „Ballon-d´Or“-Wahl 2004 wahrscheinlich reine Formsache gewesen. In solche Sphären stiegen mit Robben, Cech oder dem eingewechselten Sneijder jedoch noch weitere junge Teilnehmer aus dem besagten Thriller auf, welcher in seiner Intensität und der Fülle seiner Torchancen bis zum heutigen Tag in der ewigen Historie von Europameisterschaften einen Ausnahmestellung genießt – und aus einem Geheimfavoriten einen Topfavoriten machte, der letztendlich knapp vor dem großen Ziel scheitern sollte.

Mehr ausgewählte Themen-Artikel aus unserer Spotlight-Kategorie.

(Photo by Jamie McDonald/Getty Images)

Marius Merck

Eine Autogrammstunde von Fritz Walter weckte die Leidenschaft für diese Sportart, die über eine (“herausragende”) Amateurkarriere bis zur Gründung von 90PLUS führte. Bei seinem erklärten Ziel, endlich ein “Erfolgsfan” zu werden, weiter erfolglos.


Ähnliche Artikel