WM-Geheimfavoriten – Uruguay: Gespickt mit Topspielern

11. Juni 2018 | Global News | BY Manuel Behlert

Eine herausragende Platzierung bei der Weltmeisterschaft 2010, ein Kader, in dem einige Schlüsselspieler wohl ihre letzte WM auf Topniveau spielen und eine Mischung aus Superstars und jungen, interessanten Ergänzungen machen die Mannschaft von Uruguay zu einem spannenden Team. Doch es gibt auch den ein oder anderen Haken. Die Möglichkeit zur „Überraschung“ haben sie dennoch, denn insbesondere bei großen Turnieren kann die individuelle Klasse häufig kleinere Probleme kaschieren. 

Und weil das so ist muss man Uruguay auch bei dem Turnier in Russland auf dem Zettel habe. Und das ist nicht der einzige Grund – bei näherer Betrachtung ist der zweimalige Weltmeister durchaus in der Lage auch diesmal en gutes Resultat einzufahren. Wie gut, das hängt von vielen Faktoren ab.

Weltklasse im Sturm – aber Abhängigkeit

Besitzt man zwei Spieler im Sturm, die die Qualität eines Luis Suarez und Edinson Cavani besitzen, dann muss man diese Spieler auch gewinnbringend einsetzen. Uruguay-Coach Oscar Tabarez schneidet das Spielsystem auf diese beiden Spitzen zu, da er außerdem im Mittelfeldverbund ohnehin nicht über diese enorme Qualität verfügt. Cavani und Suarez dürfen sich Freiheiten genehmigen, auf die Außen ausweichen, sich zurückfallen lassen und aus allen möglichen Positionen den Abschluss suchen. Sie dürfen einen gesunden Egoismus an den Tag legen, weil man weiß, dass diese Spieler es sich auch erlauben können.

(Photo by Claudio Villa/Getty Images)

Klar ist also, dass beide Spieler extrem gefährlich sind und teilweise auch aus einer vermeintlichen ungefährlichen Situation Tore erzielen können, dementsprechend folgerichtig ist es, das System auf diese Spieler auszurichten. Doch natürlich hat eine solche Ausrichtung auch eine Kehrseite – und die heißt „Abhängigkeit“. Einerseits fehlt es an ähnlich starken Alternativen, die als Joker eingewechselt werden können, obwohl sowohl Stuani als auch LaLiga-Knipser Gomez keine schlechten Stürmer sind, andererseits wäre ein Ausfall eines Spielers dieses Duos von Beginn an eine Katastrophe. Denn Tabarez stellt dann aller Voraussicht nach das System um, stellt auf eine Art 4-1-4-1-System und beraubt sich damit der Stärken dieses Teams. Spielt nur Suarez oder Cavani fehlt es an Durchschlagskraft und an Präsenz im Offensivdrittel. Damit Uruguay Erfolg haben kann, müssen beide Spieler das Turnier ohne Sperre oder Verletzung überstehen.

Wenig Erfahrung im zentralen Mittelfeld

Im zentralen Mittelfeld der Mannschaft aus Uruguay fehlt es ein wenig an der nötigen Erfahrung. Zudem bleiben trotz interessanten Spielertypen Fragen offen. Das 4-4-2 von Trainer Oscar Tabarez ist insgesamt recht unspektakukär, auch weil er Suarez und Cavani, wie bereits angesprochen, nicht in ein zu detailliert anmutendes System zwingen will. Das bedeutet natürlich, dass die Abläufe insgesamt nicht wahnsinnig kompliziert sein dürfen. Mit Matias Vecino (26) von Inter steht ein guter, aber eben nicht überragender Spieler im Aufgebot, der eigentlich über eine Stammplatzgarantie verfügt. Er lässt sich gerne zwischen die Innenverteidiger zurückfallen, schaltet sich verhältnismäßig selten in die Offensive ein, was im System Tabarez‘ aber auch nicht nötig ist.

(Photo by MIGUEL ROJO / AFP)

Die weiteren, als interessant zu bewertenden Spieler: Lucas Torreira (22) und Rodrigo Bentancur (20). Bentancur steht bei Juventus unter Vertrag und wird dort langsam aufgebaut, Torreira spielt bei Sampdoria und wird unter anderem mit Neapel und Arsenal in Verbindung gebracht. Beide sind keine dominanten Mittelfeldspieler, aber beide sind sehr gut. Bentancur arbeitet viel gegen den Ball, gewinnt Zweikämpfe, während sich Torreira auch im technischen/dynamischen Bereich sehr gut einbringen kann, viele Bälle abfängt und über eine sehr gute Antizipation verfügt. Auch hier wird die Frage sein mit welchem Spieler Tabarez neben Vecino plant und wie die beiden Talente bei ihrem ersten großen Turnier agieren.

Godin/Gimenez und der Schlüssel Nandez

Ein weiterer Mannschaftsteil, der individuell herausragend besetzt ist, ist die Innenverteidigung. Diego Godin und José Gimenez sind nicht nur zwei brillante Spieler, sie laufen auch noch für den gleichen Verein, nämlich Atletico Madrid, auf. Dadurch ergibt sich eine Eingespieltheit, die auf Nationalmannschaftsebene von entscheidender Bedeutung sein kann. Mit einem Innenverteidiger-Duo, das definitiv zu den besseren bei diesem Turnier zählt, schaffen sich die Südamerikaner eine hervorragende Basis. Defensive Stabilität ist ein wichtiger Mosaikstein auf dem Weg zu einem starken Turnier – und auch Innenverteidiger Nummer 3, Sebastian Coates, ist ein absolut zuverlässiger und stabiler Mann.

(Photo by Miguel ROJO / AFP)

Entscheidend dürfte auch die Rolle eines Spielers sein, den man bei der Betrachtung des Kaders nicht sofort im Blick hat: Nahitan Nandez. Der 22-jährige spielt im Verein eher auf der zentralen Mittelfeldspielerposition, dort ist die Nationalmannschaft Uruguays aber gut besetzt. Dementsprechend nimmt er im System Tabarez die Rolle im rechten Mittelfeld ein – und interpretiert diese absolut herausragend. Gegen den Ball kann er sowohl zu Cavani und Suarez aufschließen und das Pressing verstärken, als auch zurückgezogen vor der Abwehr agieren. In der Offensivbewegung hält er zunächst die Außenbahn, zieht aber dann gerne in die Mitte, schafft Räume für einen herausrückenden Stürmer und sorgt gleichzeitig dafür, dass die Raumaufteilung stets sinnvoll ist. Von seiner Performance wird also auch enorm viel abhängen.

Standards als Waffe

Neben den individuellen Möglichkeiten in einem wie erwähnt nicht sonderlich raffinierten System gibt es noch ein weiteres Element, durch das Uruguay Gefahr ausstrahlen kann: ruhende Bälle. Cavani und Suarez verfügen über einen präzisen und wuchtigen Schuss und können Freistöße in Strafraumnähe sehr gefährlich auf das Tor bringen, auch etwaige Abpraller können dann verwertet werden. Aber auch Freistöße aus dem Halbfeld und Eckbälle sind eine Gefahr. Suarez und Cavani strahlen eine große Präsenz aus, sind kopfballstark und binden überdies noch einige Gegenspieler.

Doch nicht nur die Angreifer können nach ruhenden Bällen in Erscheinung treten, auch Diego Godin und José Gimenez respektive Sebastian Coates sind exzellente Kopfballspieler. Standards können also ein entscheidendes Mittel sein, gerade weil abgesehen von der Two-Man-Show im Sturmzentrum die Raffinesse fehlt. Uruguay ist nicht in der Lage ein Spiel zu dominieren, schafft es selten überraschende Tempowechsel zu forcieren und legt Wer auf eine solide, kompakte Verteidigung. Das sind Stilmittel, die insgesamt dafür sorgen, dass man die Voraussetzungen schafft, die es braucht, um die individuelle Klasse so gut wie möglich einzusetzen. Ob das allerdings ausreicht, wird sich im Turnierverlauf zeigen.

Fazit: Für den ganz großen Wurf reicht es nicht

Wie viel „Geheimfavorit“ ist Uruguay wirklich? Die Europameisterschaft 2016 hat gezeigt, dass man mit Kompaktheit, einer klaren Struktur und individueller Klasse viel erreichen kann, dafür muss man noch nicht einmal viele Spiele nach 90 Minuten für sich entscheiden. Dass ein solches Modell auch bei einer Weltmeisterschaft funktionieren kann und dass die Mannschaft von Trainer Oscar Tabarez die notwendige Klasse mitbringt, um so ziemlich jeden Gegner vor Probleme zu stellen, ist ebenfalls unstrittig. Die im Vergleich relativ leichte Gruppe tut außerdem ihr übriges.  Es kann also durchaus sein, dass Uruguay plötzlich im Viertelfinale steht ohne auf ganzer Linie überzeugt zu haben. Der Titel „Geheimfavorit“ ist vielleicht nicht unbedingt in Relation mit dem Titelgewinn bei dieser Weltmeisterschaft zu setzen, aber eine Mannschaft, die über zwei derart torhungrige Stürmer verfügt, die auch noch gut miteinander harmonieren können, muss man respektieren. Trotzdem: Gegen die Topmannschaften wird schon vieles nötig sein, damit Uruguay sich durchsetzen kann.

 

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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