WM 2022 | Frankreichs Unberechenbarkeit sticht alles aus: Das Powerranking zum Halbfinale

13. Dezember 2022 | WM-Spotlight | BY Victor Catalina

Spotlight | Am Dienstag und Mittwoch steht das Halbfinale der WM 2022 an. Argentinien, Kroatien, Frankreich und Marokko duellieren sich noch um die Krone der Welt. Wir werfen einen Blick auf das Kräfteverhältnis der jeweiligen Teams.

4. Kroatien

Vergangenen Freitag, um kurz vor 21:00 Uhr Ortszeit im Education City Stadium zu Al-Rayyan hatten es die Kroaten mal wieder geschafft. Marquinhos jagte seinen Elfmeter an den linken Innenpfosten. Damit war das Aus einer der größten Titelfavoriten besiegelt und Kroatien, ein Land mit gut 300.000 Einwohnern mehr als Berlin, zum zweiten Mal in Folge im Halbfinale einer Weltmeisterschaft. Für seine Performance gegen Brasilien bekam Dominik Livaković von der L’Equipe die Note 10. Das zeigt, dass Kroatien sich auf den eigenen Keeper verlassen kann – in dieser Partie allerdings keine andere Wahl hatte. Elf Schüsse gaben die Brasilianer aufs Tor ab, Kroatien lediglich einen. Neymars Führungstreffer in Minute 105’+1 war zu diesem Zeitpunkt nicht nur hochverdient, sondern beinahe schon überfällig. Kroatien hingegen musste den dritten Rückstand im fünften Spiel dieser WM hinnehmen.

 



 

Dass sie die Mentalität besitzen, sich ein ums andere Mal zurückzukämpfen, ist bewundernswert, auf allerhöchstem Niveau aber ein riesiges Vabanquespiel. Wie bereits 2018, als man unter anderem gegen Russland (5:6 n.E.) oder England (2:1 n.V.) Rückstände drehte, bewegt sich Kroatien auch diesmal an der absoluten Grenze. Gerade daran gilt es vor dem Duell gegen Argentinien zu arbeiten, sodass man vielleicht mit einer eigenen Führung den Gegner unter Druck setzen kann. Im bislang letzten Duell dieser beiden funktionierte das bereits, Kroatien setzte sich am 2. Gruppenspieltag 2018 3:0 durch. „Wir haben ihre Spiele verfolgt“, verriet Bruno Petković, der sich nicht nur darauf konzentrieren will, Lionel Messi aus dem Spiel zu nehmen: „Argentinien ist nicht nur Messi. Das Wichtigste ist, dass wir unser Spiel durchziehen.“ Wenn ihnen das, zusammen mit etwas mehr defensiver Stabilität, gelingen sollte, ist auch das nächste Finale möglich.

3. Marokko

Der überraschendste Name unter den Halbfinalisten. Marokko nahm es bis hierhin unter anderem mit Belgien, Kroatien, Spanien und Portugal auf. Dennoch ist man in diesen Duellen bar jedes Gegentreffers. Der Einzige, den die Marokkaner bis hierhin kassierten, gegen Kanada (2:1), war ein Eigentor. Es erinnert ein wenig an Olympique Lyon, die in der Saison 2019/20 Juventus (1:0, 1:2) sowie Manchester City (3:1) eliminierten, um ebenfalls ins Halbfinale einzuziehen.

Vielleicht ist es genau deswegen kein Zufall. Beide Teams verbindet dieselbe Leidenschaft, ein Stück weit auch dieselbe defensive Stabilität – und noch viel mehr. Marokkos Trainer Walid Regragui ist geboren und aufgewachsen in Corbeil-Essonnes, im Pariser Südosten. Seine Karriere begann er beim örtlichen Verein AS Corbeil-Essonnes. 1996 spielte er noch in der dritten Mannschaft, als ein gewisser Rudi Garcia zum Cheftrainer ernannt wurde und ihn in die erste hochzog. „Eines Tages ging ich zufällig zu den Junioren, zur dritten Mannschaft, und dort sah ich diesen langbeinigen, schnellen, geschickten und temperamentvollen Spieler. Ich nahm ihn mit zur ersten Mannschaft, wo er zwei Jahre blieb. Dann ging er seinen eigenen Weg“, erinnerte sich Garcia einige Jahre später in Le Parisien.

WM 2022 Marokko Portugal

Photo by Michael Steele/Getty Images

Auch heute noch bezeichnet Regragui Garcia als Inspiration. Wie Garcia, der inmitten der Saison 2019/20 vom entlassenen Sylvinho übernahm, formte auch Regragui als Nachfolger Vahid Halilhodžićs durch klare Hierarchiestrukturen binnen kürzester Zeit eine Einheit. Die Methoden Garcias habe Regragui allerdings „ein wenig angepasst“. So sehr, dass in der Schlussphase gegen Portugal auch die Ausfälle von Leistungsträgern wie Nayef Aguerd, Romain Saïss oder Noussair Mazraoui nicht weiter ins Gewicht fielen. Hakim Ziyech, Youssef En-Nesyri und Sofiane Boufal waren zu diesem Zeitpunkt bereits ausgewechselt. Walid Cheddira wurde des Feldes verwiesen. Dennoch ließ Marokko über 90 Minuten lediglich drei Schüsse aufs Tor zu – und hatte selbst genauso viele. Diese defensive Stabilität gibt ihnen vorerst die Oberhand über Kroatien. 2019/20 musste sich Lehrmeister Garcia im Halbfinale dem späteren Titelgewinner FC Bayern 0:3 geschlagen geben. Nun kann sich Regragui, teilweise gegen dieselben Spieler, beweisen.

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2. Argentinien

Peter Drury ist einer der bekanntesten und beliebtesten englischen Fernsehkommentatoren. Aufgrund seiner sonoren, dramatischen Stimme. Nicht zuletzt aber zeichnet er sich durch seine poetischen Kommentare aus – wie auch dem vor Argentiniens Duell mit Mexiko am 2. Spieltag: „Perhaps Argentina’s motto, it is not how you start, it is how you finish. Not often in the World Cup’s stellar environment has one so mighty being rendered so vulnerable so soon. Lose – and Argentina are out. Argentina and Messi the Great, marching here to stay alive, feeling the heat, feeling the obligation, the unforgiving scrutiny. Every lens, every eye on every touch and turn and wince and smile. There is nowhere to hide.“

WM 2022 Argentinien Mexiko

Photo by Stuart Franklin/Getty Images

Damit ist eigentlich alles gesagt. Man könnte beinahe das Gefühl bekommen, die Niederlage gegen Saudi-Arabien und der Blick in den Abgrund vor dem Spiel gegen Mexiko, hätten Argentinien noch ein Stück stärker gemacht. Die Mexikaner und Polen wurden jeweils souverän 2:0 bezwungen, Australien im Achtelfinale 2:1 niedergerungen. Aber keine dieser Partien drohte auch nur ansatzweise zu Argentiniens Ungunsten zu kippen. Gegen die Niederlande gab man zwar zwischenzeitlich ein 2:0 aus der Hand. Die bessere Spielanlage, die besseren fußballerischen Lösungen und das Gros an Durchschlagskraft hatte allerdings zu jedem Zeitpunkt Argentinien. Gegen Ende der Verlängerung konnte man sogar ein Powerplay aufziehen. Virgil van Dijk musste in allerhöchster Not gegen Lautaro Martínez blocken (114′), bevor Andries Noppert einen abgefälschten Schuss Enzo Fernández‘ gerade noch über den Querbalken lenkte (115′). Mit Ablauf der Nachspielzeit traf Benficas Mittelfeldspieler aus gut 20 Metern den linken Pfosten (120’+1).

Nach Jahren der Instabilität ist es Lionel Scaloni und seinem Team gelungen, eine Einheit zu formen, die für das große gemeinsame Ziel, den dritten Weltmeistertitel, kämpft und in der Lionel Messis individuelle Weltklasse auf dieser Basis den Unterschied macht, anstatt die Mannschaft komplett tragen zu müssen. Argentinien spielt nicht immer schön. Aber das ist in K.O.-Duellen nur zweitrangig.

1. Frankreich

Italien 1934 und 1938, Brasilien 1958 und 1962 – Frankreich 2018 und 2022? Den Fluch des Titelverteidigers haben die Franzosen mit zwei Siegen aus den ersten beiden Partien souverän gebrochen und auch Polen (3:1) im Achtelfinale kaum eine Chance gelassen. Zwar stehen sie defensiv nicht so kompakt wie Marokko oder Argentinien und kassierten bislang in jedem Spiel einen Gegentreffer. Dafür verfügt Frankreich im Angriff über eine umso größere Wucht und Unberechenbarkeit. Im Vorfeld des Viertelfinals kam heraus, dass Gareth Southgate seit langer Zeit an einem Plan arbeitet, um Kylian Mbappé zu neutralisieren. Allein, es brauchte keine seiner Torbeteiligungen, um England zu eliminieren. Zwei Vorlagen Antoine Griezmanns mit sehr viel Übersicht, ein platzierter Distanzschuss von Aurélien Tchouaméni sowie der Siegtreffer durch Olivier Giroud reichten.

Egal ob souverän und ungefährdet, wie gegen Australien (4:1), beziehungsweise Polen (3:1) oder extrem abgezockt und effizient, wie in den Duellen mit Dänemark (2:1) und England (2:1). Frankreich hat bewiesen, dass sie die gesamte Klaviatur des Turnierfußballs beherrschen. Dazu moderiert Didier Deschamps die einzelnen Charaktere herausragend, sodass Frankreich mit den besten Voraussetzungen aller vier Teams ins Halbfinale geht.

Photo by ANNE-CHRISTINE POUJOULAT/AFP via Getty Images

Victor Catalina

Victor Catalina

Mit Hitzfelds Bayern aufgewachsen, in Dortmund studiert und Sheffield das eigene Handwerk perfektioniert. Für 90PLUS immer bestens über die Vergangenheit und Gegenwart des europäischen Fußballs sowie seine Statistiken informiert.


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