WM 2022 | Argentinien trotzt Deschamps‘ Wechseln – und holt sich den dritten Titel

19. Dezember 2022 | WM-Spotlight | BY Victor Catalina

Spotlight | In einem irren Finale setzte sich Argentinien 7:6 nach Elfmeterschießen durch. Über die gesamte Spielzeit hinweg hatten sie den kohärenteren Spielplan, den sie in den entscheidenden Momenten mit individueller Qualität garnierten. 

Argentinien legt gegen passive Franzosen vor

Es hat etwas Konsequentes, dass diese Winter-WM an ein Land geht, für das Weltmeisterschaften im Winter nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. Als eine der wenigen großen Fußballnationen liegt Argentinien gänzlich auf der Südhalbkugel. Am heutigen Montag sind in Buenos Aires jedoch angenehme 30 Grad angekündigt. Genau jene Bedingungen, die man normalerweise hierzulande mit einer WM verbindet.

 



 

Auch unter rein sportlichen Gesichtspunkten ist der Titel verdient. Argentinien verlor zwar, wie das DFB-Team, die Auftaktpartie. Gegen Saudi-Arabien gab es ein 1:2. Diese Niederlage schien die Mannschaft allerdings umso stärker gemacht zu haben. Angeführt von Lionel Messi kämpfte man sich stückweise an den großen Traum heran. Mit Ausnahme des 2:0 gegen Polen, als ihn Wojciech Szczęsny vom Punkt verneinte, war Messi in jeder Partie am 1:0 direkt beteiligt. Entweder erzielte er es selbst – oder legte es, wie gegen die Niederlande, erstklassig für Nahuel Molina auf.

Im Finale war es jedoch nicht Messi, der Argentinien zwischenzeitlich auf Kurs brachte. Nicht nur. Ángel Di María, der 2014 noch verletzungsbedingt passen musste, holte gegen Ousmane Dembélé den Elfmeter zum 1:0 heraus und vollendete einen wunderbaren Konter zum 2:0. Frankreich war in dieser Phase komplett überfordert mit dem, was Argentinien anbot. Enzo Fernández ergänzte die Robustheit von Rodrigo de Paul und Alexis Mac Allister um die nötige Spielstärke. Messi durfte im rechten Halbraum immer wieder inszenieren – und auch von der Körpersprache war der Titelverteidiger die zweitbeste Mannschaft auf dem Platz.

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Deschamps‘ Wechsel zünden – und Mbappé veredelt sie

Als die Kamera kurz vor der Pause beide Trainer einfing, coachte Lionel Scaloni entschlossen, während Didier Deschamps und Assistent Guy Stephan das Fragezeichen ins Gesicht geschrieben stand. Es war nicht die Situation, die Frankreich haben wollte. Trotzdem mussten sie nun mit ihr zurechtkommen. Noch in der ersten Halbzeit nahm Deschamps personelle Veränderungen vor und brachte Randal Kolo Muani und Marcus Thuram für Ousmane Dembélé sowie Olivier Giroud.

WM 2022 Argentinien Frankreich

Photo by ANNE-CHRISTINE POUJOULAT/AFP via Getty Images

Besonders die Einwechslung des Frankfurters machte sich bezahlt, der wesentlich präsenter und kreativer agierte. Zwar dauerte es gut 70 Minuten, bis sich Frankreich vielversprechend dem gegnerischen Tor annäherte. Dennoch gelang es ihnen nun, zunehmend gefährliche Szenen heraufzubeschwören. Beispielhaft dafür die 79. Minute: Kolo Muani ging einem einfachen, langen Ball energisch nach, während Nicolás Otamendi, der eigentlich positionstechnisch den Vorteil hatte, mit der Situation schon abgeschlossen zu haben schien. So blieb Benficas Innenverteidiger nichts anderes übrig, als Kolo Muani im Strafraum am Arm herunterzureißen – Elfmeter. In der Zwischenzeit kamen bei Frankreich auch Kingsley Coman und Eduardo Camavinga anstelle von Antoine Griezmann sowie Theo Hernández. Die Variante mit Camavinga als Linksverteidiger studierte Frankreich bereits in Testspielen während der Weltmeisterschaft ein. Es war Deschamps‘ zweiter Doppelwechsel, der komplett aufgehen sollte.

Kylian Mbappé trat an und verkürzte auf 2:1. Nur 94 Sekunden später luchste Coman Messi die Kugel ab. Adrien Rabiot verlagerte nach links zu Mbappé, der nochmal für Thuram ablegte, den Ball zurückbekam und volley auf 2:2 stellte! Kolo Muani, Thuram und Coman, die drei Bundesligaakteure, hatten das Spiel komplett zum Kippen gebracht, weil Frankreich nun in der Lage war, auf Argentiniens Dominanz mit effizientem Pressing zu reagieren.

Martinez‘ Mindgames lassen Frankreich verzweifeln

In der Verlängerung erarbeitete sich Argentinien zwar sein spielerisches Übergewicht zurück und ging durch Messi erneut in Führung. Konträr zur ersten Hälfte war die Partie nun ein offener Schlagabtausch. Nach einem Coman-Eckball holte Mbappé gegen Gonzalo Montiel den Elfmeter zum 3:3 heraus und verwandelte ihn selbst. Normalerweise würde man erwarten, dass beide Teams bei einem solchen Spielverlauf spätestens jetzt auf Fehlervermeidung gehen. Davon war in diesem Finale allerdings nichts zu sehen. In Minute 120 sprang Kolo Muani nur knapp unter einer Mbappé-Flanke hindurch. Drei Minuten später scheiterte Frankfurts Stürmer an einem herausragenden Reflex von Emiliano Martínez. Direkt im Gegenzug kam Lautaro Martínez auf der anderen Seite zu einer guten Kopfballchance.

WM 2022 Argentinien Frankreich

Photo by Buda Mendes/Getty Images

Schließlich ging es doch an den Punkt – erstmals in einem WM-Finale seit 2006. Genau hier hatte Argentinien einen klaren Vorteil. Während Hugo Lloris bis jetzt nicht als Elfmeterspezialist bei der französischen Nationalmannschaft auffiel und in Shootouts keinen der neun gegnerischen Versuche abwehren konnte, hat Martínez genau das perfektioniert. Er riecht die Verunsicherung des gegnerischen Schützen und je größer diese ist, desto breiter wird sein Grinsen vor dem Elfmeter. Man ist nicht mehr länger in einem Stadion, sondern in einer abgeschotteten Box, merkt, wie das Tor immer kleiner wird – und Martínez immer größer. Seine Jubel nach den gehaltenen, beziehungsweise vergebenen Elfmetern mögen nicht bei allen ankommen, sind aber Teil seiner Taktik. Er weiß genau, wie man in die Psyche des Gegners gelangt, um ihn komplett zu verunsichern. Das funktionierte bei Virgil van Dijk, bei Steven Berghuis – und nun auch Kingsley Coman sowie Aurélien Tchouaméni.

Argentinien hat die individuell starken Franzosen so bezwungen, wie es ihnen vor acht Jahren gegen das DFB-Team selbst wiederfuhr: als Mannschaft. Dazu zeigten sie in genau den richtigen Momenten ihre individuelle Klasse – von Lionel Messi, von Ángel Di María oder von Emiliano Martínez. Damit haben sie die Gunst der Stunde genutzt und sich den dritten WM-Titel gesichert. Nicht zuletzt dank Lionel Scaloni, der, obwohl er sich zu Beginn seiner Amtszeit viel Kritik ausgesetzt sah, diese Einheit geformt hat. Damit ist die Arbeit für ihn allerdings noch nicht getan. Lionel Messi kündigte bereits an, dass diese Weltmeisterschaft seine letzte sein wird. Di María ist nur ein Jahr jünger. Besonders diese beiden Ausnahmespieler zu ersetzen, wird für Argentinien schwer genug. Zu viel Zeit sollten sie sich nicht lassen. Fürs Erste aber dürfen sie feiern. Ausnahmsweise im Sommer, bei 30 Grad.

Photo by Dan Mullan/Getty Images

Victor Catalina

Victor Catalina

Mit Hitzfelds Bayern aufgewachsen, in Dortmund studiert und Sheffield das eigene Handwerk perfektioniert. Für 90PLUS immer bestens über die Vergangenheit und Gegenwart des europäischen Fußballs sowie seine Statistiken informiert.


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