Sie umschwirrte die Berichterstattung um Borussia Dortmund über Jahre hinweg wie ein wiederkehrender Virus, der nie richtig verschwinden wollte: Die Mentalitätsfrage. Aber seit einiger Zeit warten Fans vergebens auf die fast schon obligatorische Frage nach jedem BVB-Spiel. Denn es scheint, als hätte Edin Terzic im neuen Jahr und mit viel Anlauf die richtige Medizin gefunden, um die Mentalitätsseuche endgültig abzuschütteln. Hat er dabei auch den künftigen deutschen Meister geschaffen oder verfällt der BVB bald wieder in alte Muster?
Um das zu beantworten, muss besonders die Art und Weise, wie sich Borussia Dortmund physisch und mental auf dem Platz zeigt, berücksichtigt werden. Die fußballerischen Fähigkeiten waren jetzt, wie in den vergangenen Jahren, sicherlich das geringste Problem des Dortmunder Starensembles. Ihre neuste Qualität heißt Reife. Gepaart mit der enormen Spielfreude hat sich Dortmund wieder einem ernsten Titelanwärter entwickelt.
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Der BVB spielt endlich abgezockt
Sinnbildlich für diesen Wandel sind Hin- und Rückspiel gegen Werder Bremen. Im Hinspiel schaffte es Borussia Dortmund einen 2:0-Vorsprung ab der 89. Minute innerhalb von sechs Minuten zu verspielen und am Ende mit leeren Händen dazustehen. Im Rückspiel vor drei Wochen zeigten sie einen konzentrierten Auswärtsauftritt und brachten den 2:0-Vorsprung so ungefährdet wie souverän über die Zeit. Statt sich einzuigeln und nachlässiger zu werden, haben sie Bremen im Rückspiel keine Großchance auf den Anschlusstreffer gegeben. Im Gegenteil: Die Dortmunder spielten sich Angriff um Angriff immer wieder vors Werder-Tor und ließen den Bremern keine Luft zum Atmen, geschweige denn für Rehabilitationsmaßnahmen wie im Hinspiel.
Vor dem Spiel betonte Edin Terzic (40) noch bei der „WAZ„, dass sein Team die Lehren aus dieser historischen Pleite ziehen müsste: „Es darf nicht drei Rückschläge in so kurzer Zeit geben.“ Nach vereinzelten Ausrutschern ist der Lerneffekt nun endgültig in allen Teilen der Mannschaft zu erkennen. Im Jahr 2023 ist „Rückschlag“ ein Fremdwort im Signal Iduna Park.
Borussia Dortmund hat eigene Schwächen in Stärken umgekehrt. Das Team von Terzic tritt mit unfassbar viel Selbstvertrauen auf. Diesen tiefen Glauben in die eigenen Stärken kannte man von den Schwarzgelben in dieser Form schon länger nicht mehr. Auch wenn es kurios klingt: Der BVB hat das „Mia-san-mia-Gen“ adaptiert. Dass der bayrische Rekordmeister genau in dieser Saison vermehrt strauchelt, kommt für die stets aufrechterhaltenen Meisterambitionen der Dortmunder natürlich genau zur richtigen Zeit.
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Brandt in der Form seines Lebens
Am besten ist das plötzlich gewonnene Selbstverständnis zum Siegen an Julian Brandt zu erkennen. Der 26-Jährige war schon immer ein brillanter Techniker, aber Terzic hat es geschafft, ihn zu einem Siegertypen zu machen. In den Vorjahren agierte Brandt schlichtweg zu inkonstant und seine negative Körpersprache sprach Bände. Zuletzt erzielte er den Siegtreffer gegen Hoffenheim mit dem Rücken und beweist regelmäßig puren Kämpferwillen. Mit seiner Kombination aus Technik und der neu gewonnenen Mentalität ist er derzeit einer der komplettesten Spieler der Bundesliga.
Auch Emre Can (29) ist plötzlich kein Fehlermagnet mehr, sondern der Anker im BVB-Spiel. Auch bei ihm war die Konstanz früher immer wieder ein Hauptproblem. Der „Kicker“ zitierte ihn mit seinem Vorsatz an sich selbst wie folgt: „Egal, was ist, Emre – du gibst Gas. Egal, ob du spielst oder nicht, du lässt dich nicht runterziehen, du machst dein Ding.“ Im neuen Jahr geht das bisher voll auf: Egal was ist, der BVB kann sich auf seinen Gladiator im Mittelfeld verlassen. Sinnbildlich dafür war seine Rettungstat auf der Linie im Champions-League-Spiel gegen Chelsea. Aktuell bringt Can in jeder Spielsituation 110% auf den Platz.
Das nötige Spielglück ist plötzlich selbstverständlich
Zugegeben, die Rückschläge vergangener Spielzeiten allein auf fehlende Mentalität und Einstellung zu schieben, wäre zu einfach. Oft fehlte den Schwarz-Gelben auch einfach das nötige Glück, um bis zum Saisonende im Meisterschaftskampf mitzuwirken. In der Rückrunde kann man ansehnlich nachverfolgen, wie sich der BVB langsam das fehlende Matchglück verdiente. Zum Rückrundenauftakt gegen Augsburg erkämpfte sich der BVB viermal die Führung und schlug den FCA letztlich trotz leichtfertiger Fehler. Auch eine Woche später war der Fußballgott auf der Seite der Dortmunder: Reyna rettete der Borussia den Sieg in Mainz per Lucky Punch in der Nachspielzeit. Es folgten Eigentore, strittige Schiedsrichterentscheidungen und zuletzt das kuriose Rücken-Tor zugunsten von Schwarz-Gelb.
So kam die unfassbare Siegesserie von Dortmund letztlich auch zustande. Der BVB hat in diesem Jahr jedes Pflichtspiel gewonnen. In der Bundesliga hat die Mannschaft von Terzic mit 21 gewonnenen Punkten bereits fünf Tabellenplätze aufgeholt und steht nun punktgleich mit dem FC Bayern auf dem zweiten Platz.
Hält die Serie auch gegen Leipzig?
Nun kommt es zur Härteprobe gegen RB Leipzig. Die Sachsen haben seit Oktober nur ein einziges Mal in der Liga verloren. Der BVB muss also mit all seinen Stärken auftrumpfen, um den achten Liga-Sieg in Folge einzufahren. Dass sie auch gegen Top-Teams gewinnen können, haben sie zuletzt eindrucksvoll gegen Chelsea unter Beweis gestellt. Besonders interessant: Mit Marco Rose (46) steht Terzic seinem Vorgänger gegenüber, der die entscheidende Mentalität in seiner Zeit als BVB-Coach aber nie so richtig im Team implementieren konnte, wie Terzic es aktuell schafft. Schickt Terzic Rose dazu auch noch mit leeren Händen nach Leipzig zurück?
(Photo by SASCHA SCHUERMANN/AFP via Getty Images)


