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Hertha vor Saisonstart: Aufstiegsfavorit oder Dauergast in Liga 2?

25. Juli 2023 | Trending | BY Lukian Ahrens

Spotlight | Hertha BSC steht vor der ersten Zweitligasaison seit zehn Jahren. Am 29. Juli geht es direkt im Topspiel zur Fortuna nach Düsseldorf. Doch wie gut sind die Berliner für das deutsche Unterhaus gewappnet? Wie liefen Transferfenster und Vorbereitung bislang? Höchste Zeit, einen Blick auf die Alte Dame zu werfen

Nach turbulenten Jahren stieg Hertha BSC vergangene Saison als 18. In die 2. Bundesliga ab. Vorbei sind die Zeiten des „Big City Clubs“ und der großen Ambitionen. Nun soll der Wiederaufbau im deutschen Unterhaus erfolgen. Auf dem Papier gelten die Berliner neben Schalke 04 und dem HSV als die Favoriten auf den Aufstieg. Doch das Erbe der Windhorst-Ära wiegt schwer, weswegen kurz vor dem Saisonstart hinter dem Berliner Kader noch viele Fragezeichen stehen.

Der Kader von Hertha BSC

Schmerzhafte, aber alternativlose Abgänge

Dass Sportdirektor Benjamin Weber (43) keine großen Sprünge auf dem Transfermarkt würde machen können, wurde den meisten Fans von Hertha BSC spätestens mit dem Zittern um die Lizenz klar. Nur mit Mühe konnten die Berliner die nötigen Auflagen der DFL erfüllen und erhielten schließlich als letzter der 36 Vereine die Erlaubnis, auch in der kommenden Saison im Profibereich spielen zu dürfen. In erster Linie war Weber daher gezwungen, Transfereinnahmen zu generieren und Spieler mit hoch dotierten Verträgen von der Gehaltsliste zu streichen.

Stand jetzt hat sich Hertha bereits von 14 (!) Spielern verabschiedet. Aufgrund von auslaufenden Verträgen verließen Stevan Jovetic (33), Marvin Plattenhardt (31), Rune Jarstein (38) und Kevin-Prince Boateng (36) den Verein. Jean-Paul Boëtius (29) nutzte eine Klausel, die es ihm erlaubte, bei einem Abstieg seinen Vertrag aufzulösen. Die ausgeliehenen Spieler Chidera Ejuke (25) und Ivan Sunjic (26) kehrten zu ihren Stammvereinen zurück. Die Verkäufe von Omar Alderete (26), Santiago Ascacíbar (26), Tolga Ciğerci (31), Maximilian Mittelstädt (26), Lucas Tousart (26) und Jessic Ngankam (22) spülten immerhin knapp 15 Millionen Euro in die klammen Berliner Kassen.

(Photo by Maja Hitij/Getty Images)

So schmerzhaft gerade die Abgänge von Ngankam zu Frankfurt und Tousart ausgerechnet zu Stadtrivale Union Berlin waren, so alternativlos waren sie auch. Gleiches gilt für den ablösefreien Transfer von Krzysztof Piątek (28) zu Başakşehir. Immerhin hatte man für den Polen im Winter 2020 noch 24 Millionen Euro bezahlt. Doch gerade bei Tousart und Piątek ging es weniger darum, hohe Ablösesummen zu erhalten, als vielmehr die horrenden Gehälter nicht mehr zahlen zu müssen. Den Verein verlassen sollen darüber hinaus noch Alexander Schwolow (31) Suat Serdar (26), Jonjoe Kenny (26), Myziane Maolida (24), Wilfried Kanga (25) und Dodi Lukébakio (25). Gerade für Letzteren erhofft man sich in Berlin eine Ablösesumme im zweistelligen Millionenbereich.

Neuzugänge mit viel Zweitliga-Erfahrung

Dass Hertha nicht in der Lage ist, von den Millioneneinnahmen viel in den Kader zu investieren, verdeutlichen die bisherigen Zugänge. Fabian Reese (25), Smail Prevljak (28), Jeremy Dudziak (27), Toni Leistner (32) und Gustav Christensen (18) kamen allesamt ablösefrei. Die eingeplanten Marten Winkler (20), Linus Gechter (19) und Deyovaisio Zeefuik (25) kehrten von ihren Leihstationen zurück. Lediglich für Torhüter Marius Gersbeck (28) zahlte man eine geringe Ablösesumme. Auffällig ist, dass man sich mit Leistner, Reese, Dudziak und Gersbeck die Erfahrung von über 500 Zweitligapartien in den Kader geholt hat. Damit hat Weber ein solides Grundgerüst geschaffen, das an einigen Stellen allerdings noch dringend ergänzt werden muss.

Mit Marco Richter (25), Reese, Winkler, Christensen sowie den jungen Eigengewächsen Derry Scherhant (19) und Ibrahim Maza (17), der sich allerdings im Trainingslager verletzte und rund drei Monate ausfallen wird, ist das offensive Mittelfeld das Prunkstück des Hertha Kaders. Mit elf Toren und zehn Vorlagen gehörte Reese zu den Topscorern der vergangenen Zweitligasaison, während Richter mit sechs Toren und fünf Assists noch zu den Lichtblicken der verkorksten Bundesligasaison der Hertha zählte. Winkler konnte bei seiner Leihe zu Waldhof Mannheim mit neun Toren und fünf Assists in der dritten Liga auf sich aufmerksam machen.

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Lediglich auf der rechten Angriffsseite gibt es noch Handlungsbedarf. Palko Dárdai (24) soll jedoch kurz vor einem Wechsel zurück in die Hauptstadt stehen. Damit wären die Planungen in diesem Kaderbereich abgeschlossen und alle Dárdais im Kader von Hertha BSC vereint. Auch die Mittelstürmerposition scheint ausreichend besetzt zu sein. Florian Niederlechner (32) und Neuzugang Prevljak stehen dort bereit.

Großbaustelle defensives Mittelfeld

Ein ähnliches Bild findet man in der Innenverteidigung vor. Marc Oliver Kempf (28) und Leistner bilden ein solides und erfahrenes Duo. Dahinter lauern Filip Uremović (26) und Eigengewächs Gechter. Agustín Rogel (25) wird aufgrund einer Knieoperation erst im Laufe der Saison verfügbar sein. Auf rechts hat man den Vertrag von Musterprofi und dienstältesten Herthaner Peter Pekarík (36) um ein weiteres Jahr verlängert. Davor scheint sich Zeefuik fürs Erste festgespielt zu haben. Auch Talent Julian Eitschberger (19) könnte seine Chance bekommen. Auf links sollte jedoch noch eine Alternative für Dudziak verpflichtet werden. Michał Karbwonik (22) von Brighton gilt als möglicher Kandidat.

Auf der Torhüterposition hat sich die Lage durch die Suspendierung von Gersbeck geändert. Gegen den eigentlich als Identifikationsfigur und möglichen Kapitän eingekauften Keeper wird in Österreich wegen schwerer Körperverletzung ermittelt. Gersbeck soll nach einem Grillfest im Trainingslager einen 22-jährigen Einheimischen geschlagen und ihm Verletzungen im Gesicht zugefügt haben. Die Ermittlungen wurden zwar gerade erst aufgenommen, jedoch scheint es unwahrscheinlich, dass Gersbeck angesichts der schweren Anschuldigungen noch ein Spiel für Hertha absolvieren wird. Somit wird Oliver Christensen (24), der als möglicher Verkaufskandidat galt, als Nummer eins in die Saison gehen. Dahinter ist Torwarttalent Tjark Ernst (20) eingeplant.



Die größte Baustelle im Kader von Hertha stellt jedoch das defensive Mittelfeld dar. Mit Eigengewächs Veit Stange (19) und Verkaufskandidat Serdar hat man lediglich zwei Spieler für diese Position in der Mannschaft. Márton Dárdai (21), eigentlich gelernter Innenverteidiger, ist daher als Ankersechser eingeplant. Dennoch bräuchte es noch mindestens zwei Spieler für die Zentrale. Mit Diego Demme (31) vom SSC Neapel ist sich Hertha bereits seit Wochen einig. Die Verhandlungen mit den Italienern entpuppten sich bislang allerdings als äußerst schwierig.

Die Vorbereitung von Hertha BSC

Klarer Spielstil gegen namhafte Gegner

Wie wichtig ein Transfer im defensiven Mittelfeld wäre, zeigte sich auch in Herthas Vorbereitung. Insgesamt absolvierten die Berliner sechs Testspiele, von denen sie gegen RSV Eintracht (6:0), BFC Dynamo (2:0) und RWD Molenbeek (2:1) drei für sich entscheiden konnten. Gegen den Meister aus der Schweiz Young Boy Bern (2:4) und den aus Belgien Royal Antwerpen (0:1) musste man sich knapp geschlagen geben. Angesichts der hohen Qualität der Gegner konnten die Berliner jedoch erstaunlich gut mithalten.

Beim letzten Testspiel trennte man sich von Standard Lüttich mit 1:1-Unentschieden. Dabei lief die Mannschaft von Trainer Pál Dárdai (47) ausnahmslos im 4-2-3-1-System auf. Das defensive Mittelfeld wurde in den letzten drei Partien von Dárdai und Eigengewächs Pascal Klemens (18) bekleidet. Wie Dárdai ist auch Klemens eigentlich gelernter Innenverteidiger. Zwar präsentierten sich die beiden Youngstars ordentlich – wie auch die gesamte Mannschaft in den Testspielen – allerdings wurde auch deutlich, dass über das Mittelfeld kaum offensive Ansätze zu erwarten sind.

(Photo by Maja Hitij/Getty Images)

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Aus den Testspielen war daher ein sehr klarer Spielstil herauszulesen. Nach Balleroberungen treibt Hertha das Offensivspiel schnell voran und sucht durch lange, vertikale Pässe die Tiefe. Das Mittelfeld wird dabei mehr oder weniger überspielt, um die schnellen Flügelspieler rund um Reese, Winkler und Richter in Szene zu setzen. Das klappte in der Vorbereitung zwar teilweise recht gut – ist aber keine Taktik, die sich über eine gesamte Saison trägt.

Dárdai lobt Mentalität und findet Achse

Dennoch scheint es Dárdai insgesamt gelungen zu sein, aus dem noch lange nicht fertigen Kader eine Einheit zu formen. „Ich bin zufrieden mit der Moral der Mannschaft hier. Letzte Saison waren es 70 Prozent faule Spieler und 30 Prozent gewillte Spieler – und jetzt ist es genau umgekehrt“, sagte der ungarische Trainer zum Mentalitätswechsel seines Kaders. Zu sehen war die Einstellung auch im letzten Testspiel gegen Lüttich, der Generalprobe vor Düsseldorf, in dem die Berliner durchaus engagiert und körperbetont zur Sache gingen.

Auch eine Achse hat der Ungar mittlerweile gefunden. Dabei hob der 47-Jährige vor allem die Neuzugänge Leistner und Reese hervor. „Ich bin hochzufrieden, wie Reese angekommen ist. Fabian kommt und es wirkt, als wäre er schon hundert Jahre hier und funktioniert.“ Beide sind ebenso wie Neuzugang Dudziak fest für die Startelf eingeplant, die gegen Düsseldorf so aussehen könnte: Christensen – Dudziak, Leistner, Kempf, Zeefuik – Dárdai, Klemens – Reese, Richter, Winkler – Niederlechner.

Die Prognose für Hertha BSC

Qualität in der Startelf, Fragezeichen in der Breite

Auf dem Papier müsste Hertha BSC neben Schalke 04 der absolute Topfavorit auf einen direkten Wiederaufstieg sein. Sportdirektor Benjamin Weber ist es gelungen, bereits einige der Großverdiener abzugeben und hat mit Reese, Leistner und Dudziak durchaus gute bis sehr gute Zweitligaqualität verpflichtet. Spieler wie Richter, Kempf und Niederlechner besitzen darüber hinaus nachweislich Erstliganiveau. Hinzukommen spannende Eigengewächse rund um Maza, Dárdai, Klemens, Scherhant und Winkler.

Dennoch klafft gerade im defensiven Mittelfeld noch eine große Lücke, die vor dem Start der Liga wohl nicht mehr geschlossen werden kann. Im Gegensatz zu Schalke oder dem HSV wirkt der Berliner Kader noch unfertig, da es abseits der Startelf noch zu viele Fragezeichen gibt. Stand jetzt geht Hertha daher als Underdog ins Aufstiegsrennen und muss eventuell mit Teams wie Düsseldorf und St. Pauli um den Relegationsplatz kämpfen. Angesichts der großen Konkurrenz erscheint, bei einem schlechten Saisonstart in Düsseldorf und beim HSV am dritten Spieltag, auch ein weiteres Jahr in der 2. Bundesliga möglich.


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