Claudio Ranieri – der beeindruckende Charakter des schüchternen Meistertrainers

28. Oktober 2016 | News | BY Chris McCarthy


Es war die Sensation im europäischen Fußball. Leicester City holt völlig unerwartet den Meistertitel 2015/2016. Der Macher des außergewöhnlichen Erfolgs? Ein zurückhaltender und schüchterner Fußballromantiker.   Die Times gibt heute in einem hervorragendem Interview Einblicke in das Leben eines außergewöhnlichen Mannes…

 

 

Es war für Leicester der erste bedeutsame Titel in 132 Jahren Vereinsgeschichte und die Sensation des Jahres. Entgegen aller Prognosen, die meisten trauten den Foxes bestenfalls den Nichtabstieg zu, setzte man sich gegen die finanziellen Schwergewichte aus London und Manchester durch! Während eine ganze Stadt am 2. Mai 2016 das Unentschieden zwischen Chelsea und Tottenham (damit den gesicherten Meistertitel) feierte und den größten Stau der Stadtgeschichte verursachte saß der Vater des Erfolgs zuhause mit seiner Frau, die er vor 40 Jahren heiratete:

„Ich war zuhause, mit meiner Frau und zwei italienischen Assistenten. Als das Spiel zu Ende war gingen meine Assistenten nach Hause und meine Frau und ich schauten Fern. Wir hielten uns aus den Feierlichkeiten der Spieler und der Stadt raus. Wir sind die Meister und wir blieben daheim. Am nächsten Tag fragten uns unsere Freunde wir wir feierten und wir sagten ‚wir sind schlafen gegangen, sonst nichts‘ „

 

Das war schon immer so…

„Wir sind eigenartig. Als ich ein junger Mann war, führte ich  Cagliari zum Serie C Titel [es folgte ein Durchmarsch in die Serie A], die ganze Stadt feierte. Aber ich gehe nie zu Feierlichkeiten. Ich halte mich immer raus. An diesem Tag war meine Tochter fünf Jahre alt. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und nahm meine Tochter auf die Schultern, sodass ich den Leuten beim Feiern zusehen konnte. Ich mag es dabei distanziert zu sein, es ist seltsam. Ich fühle Freude, ich bin glücklich aber es ist schwer Emotionen zu zeigen. Ich bin nach einer Stunde gegangen, weil mich jemand erkannte, also bin ich heim.“

 

Wie sieht es nach einer Niederlage aus?

„Es ist unglaublich. Wenn wir verlieren, gehe ich nach einem Spiel nach Hause und schlafe sofort ein. Meine Augen gehen einfach zu. Wenn du mich umbringst, kommt kein Blut raus, da ich mit den Spielern zusammen so traurig bin. Eigentlich ist es nicht so krass wenn wir verlieren. Ich habe mit einer Niederlage kein Problem, wenn die Spieler kämpfen. Als wir letzte Saison gegen Arsenal verloren, spielten wir fantastisch. Es war nicht wichtig, dass wir verloren hatten. Ich sagte ‚keine Sorge, macht so weiter‘. Was ich überhaupt nicht abhaben kann ist wenn die Spieler nicht zusammen kämpfen, alles geben. Das bringt mich um.“

 

(Photo FRANCISCO LEONG/AFP/Getty Images)

Im Vorjahr spielte Leicester gegen den Abstieg, konnte sich nur spät retten. Nach einigen Missverständnissen abseits des Platzes, unter anderem aufgrund seines Sohns, wurde Nigel Pearson am 30. Juni 2015 entlassen. Eine eher suboptimale Vorbereitung auf die neue Saison. Was veränderte Claudio Ranieri in der relativ kurzen Zeit?

 

Das Geheimnis?

„Als ich bei Leicester ankam, schaute ich einfach zu. Ich muss Sachen nicht verändern, um schlichtweg etwas verändert zu haben. Das ist mein Charakter, mein Art zu sagen: ‚zeigt es mir‘. Das Team arbeitete so gut und ich veränderte sehr wenig. Ich brachte meine Assistenten mit, aber ich behielt das Personal, das bereits hier war. Manchmal zeigen Leute ihre Autorität, in dem sie viel verändern. Ich muss keine Sachen verändern, wenn sie bereits funktionieren. Das gab den Spielern Selbstbewusstsein.“ 

 

Ein weiterer Schlüssel: Angst besiegen

„Als wir uns unserem Ziel näherten [das letzte Drittel der Saison] beobachtete ich die Spieler um zu sehen wie sie reagierten. Im Tennis, wenn du dich dem Match-Ball näherst, kann dein Arm versteifen. Das hätte bei uns auch passieren können. Ich sagte zu den Spielern: ‚Das ist das Jahr. Dieses Jahr, nie wieder. Keine Bedauern. Wenn du verlierst, verlierst du, aber wir müssen daran glauben. Es ist nicht wichtig, wenn man Fehler macht. Jeder macht Fehler. Ich mache Fehler…aber du musst es versuchen.'“

 

Geld – das Problem des modernen Fußballs! 

„Im menschlichen Charakter ist jeder anders. Geld ist nicht meine Motivation, glaubt mir. Das mit dem Geld könnte jetzt aufhören. Meine Motivation ist die Liebe zum Fußball, meine Liebe zu den Spielern. Versuchen das beste zu schaffen. Ich weiß gar nicht wie viel ich jedes Jahr verdiene. Ich gehe nicht jeden Tag die Spieler trainieren weil ich Geld verdiene. Ich gehe auf den Platz weil ich ein glücklicher Mann bin und ich tue das, was ich schon immer tun wollte.“

 

„Wie viele großartige Champions verdienen viel Geld, kämpfen aber weiterhin, gewinnen weiterhin? Es geht nicht um das Geld. Es ist die Leidenschaft, es ist die Liebe. Es ist die Ambition. Das ist es. Ich treffe so viele talentierte Spieler und sie verdienen gutes Geld für ein oder zwei Jahre und dann fallen sie. Runter! Wieso? Weil es ihnen nur um das Geld geht, um den Ruhm! Das ist nicht woher die Kraft eines Mannes stammt!“

 

Eine kleine Anekdote, die uns die Times in diesem Kontext liefert: Ranieri stürmte zu seiner Zeit bei Chelsea einst in das Hotelzimmer von Jimmy Floyd Hasselbaink und zog das TV-Kabel, da er befürchtete, sein Stürmer würde zu lange auf bleiben. Eine Ausnahme und eine letzte Instanz des Trainers. Seine Herangehensweise beruht vielmehr auf moderne Psychologie – ganz im Gegensatz zu den diktatorischen Methoden, die so viele andere Trainer ausleben.

 

Welchen Teil seiner Arbeit hasst Claudio Ranieri am meisten?

Die Aufstellung!

„Es ist nicht einfach. Natürlich bin ich jedes mal sehr traurig, wenn ich die Startelf wählen und jemanden auf die Bank oder die Tribüne setzen muss. Wenn du eine fantastische Gruppe hast, die so schwer arbeitet und verdient zu spielen, willst du nicht auswählen müssen. Aber es muss sein, es ist Teil deines Jobs.“

 

Eine Leistung für die Ewigkeit

Diese Spielzeit läuft für Leicester, wie erwartet, natürlich nicht so eindrucksvoll wie in der Vorsaison. Doch die Saison 2015/2016 ist für die Ewigkeit

(Photo by Laurence Griffiths/Getty Images)

 

„Als ich kam fühlte ich die Elektrizität hier. Der Besitzer ist fantastisch. Ich gab die Energie den Spielen. Sie gaben mir die Energie zurück. Langsam wurden sie immer besser. Langsam begannen sie meinen Worten immer mehr Glauben zu schenken. Etwas magisches passierte. Ich gab ihnen Liebe und sie gaben mir Liebe.“

Gab es seit diesem bedeutsamen Tag, dem 2. Mai 2016, einen Moment, in dem Claudio Ranieri tatsächlich klar wurde, was er und sein Team außergewöhnliches geleistet hatten?

„Ich erhielt in Italien einen Trainer-Award. Sie zeigten auf einem großen Bildschirm was wir leisteten, die Highlights der Saison. Und ich weinte, ich weinte. Ohh f***ing hell…was wir vollbrachten…was wir vollbrachten!“

 

Zitate aus dem hervorragenden Interview durch Matthew Syed aus der Times.

Chris McCarthy

Gründer und der Mann für die Insel. Bei Chris dreht sich alles um die Premier League. Wengerball im Herzen, Kick and Rush in den Genen.


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