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Nizza | Favre bekennen!? Krise an der Côte d’Azur

27. November 2017 | Spotlight | BY 90PLUS Redaktion

Krisenstimmung beim OGC Nizza: Die Mannschaft von Trainer Lucien Favre belegt nach 14 Spieltagen Rang 18 der französischen Ligue 1. In der Vorsaison waren die Aiglons zum gleichen Zeitpunkt Tabellenführer, jetzt drohen Relegation oder Direktabstieg. Im Heimspiel gegen Olympique Lyon am Sonntag setzte es eine herbe 0:5-Packung Die beiden Partien der kommenden englischen Woche dürften nicht zuletzt für den Coach wegweisend sein.

 

„Schlechteste Leistung seit ich hier im Amt bin“

Lucien Favre hatte eine Vorahnung: „Es geht aufwärts, aber wir sind oft noch zu sorglos. Auch heute Abend haben wir zu häufig den Ball verloren und zahlreiche Konter zugelassen“, bremste der Schweizer nach dem 3:1-Sieg des OGC Nizza gegen die Belgier vom SV Zulte Waregem in der Europa League unter der Woche allzu optimistische Zeitgenossen, die nach dem Heimerfolg gegen ein biederes Durchschnittsteam aus dem Nachbarland und dem damit verbundenen sicheren Weiterkommen bereits das Ende der Schwächephase der „jungen Adler“ bejubelten. Die Unkenrufe des Übungsleiters sollten sich in einer Vehemenz bestätigen, die sich Favre selbst vermutlich so nicht hätte ausmalen können. Am Sonntagnachmittag wurden die Südfranzosen von einer nicht einmal in Bestbesetzung angetretenen – der zuletzt überragende Nabil Fekir musste kurz vor Spielbeginn passen – Mannschaft aus Lyon beim 0:5-Heimdebakel förmlich zerlegt.

„Es war unsere schlechteste Leistung seit ich hier im Amt bin“, versuchte Favre nicht einmal, das Desaster schön zu reden. „Unsere Defensivabteilung ist förmlich explodiert. Wir wussten, dass OL extrem stark kontert und haben sie trotzdem permanent dazu eingeladen“ so der 60-Jährige, der an den Mikrofonen von beIN Sports nach dem Abpfiff selbstkritisch die eigene Systemauswahl hinterfragte: „Ich habe auf 3-5-2 umgestellt, um die Räume zwischen den Ketten zu schließen, aber es hat nicht funktioniert. Vermutlich hätte ich die Taktik schon während der ersten Halbzeit ändern sollen. Wenn man mit einem 0:4 in die Pause geht [und nicht FC Schalke 04 heißt, möchte man aus Gründen hinzufügen; Anm. d. Red.], ist es fast unmöglich, noch einmal zurückzukommen.“

(Photo CHARLY TRIBALLEAU/AFP/Getty Images)

 

Trainerwechsel?

Ehrliche, aber auch beunruhigende Aussagen eines Mannes, der bekanntermaßen nicht dazu neigt, sich bei ausbleibendem Erfolg an seinem Trainersessel festzuklammern. Die Art und Weise der Niederlage, bei der Favres Schützlinge phasenweise Auflösungserscheinungen offenbarten, trägt jedenfalls nicht dazu bei, Gerüchte um eine vorzeitige Terminierung der Zusammenarbeit aus der Welt zu schaffen. Momentan hat es den Anschein, als würde eine Initiative in diese Richtung eher vom ehemaligen Gladbacher und Herthaner selbst als von Klubpräsident Jean-Pierre Rivère oder der chinesisch-amerikanischen Investorengruppe, die 80 Prozent der Mannschaftsanteile hält, ausgehen. Rivère beschreibt im Interview mit France Bleu zwar alarmierende Tendenzen („die Spieler wirkten verloren auf dem Feld“), stärkt seinem Angestellten aber gleichzeitig den Rücken: „Ein Trainerwechsel? Das ist nicht unsere Herangehensweise!“ Favre dürfte im Falle eines Abgangs indes keine Schwierigkeiten haben, eine unmittelbare Folgebeschäftigung zu finden. Gerade aus der Bundesliga wird immer wieder Interesse kolportiert. Schon im Sommer hätte Borussia Dortmund ihn gerne als Nachfolger für Thomas Tuchel verpflichtet, war damals aber beim OGC abgeblitzt. Ein neuerliches Werben aus Westfalen könnte zu einer Lösung führen, bei der alle beteiligten Parteien das Gesicht wahren. Auch der SV Werder Bremen zeigt sich nach wie vor nicht abgeneigt.

 

Ursachenforschung

Wie aber konnte es überhaupt zum erstaunlichen Absturz des Vorjahresdritten kommen? Da gab es neben den Abwanderungsgedanken des Übungsleiters die Posse um Mittelfeldmotor Jean Michaël Seri und seinen gescheiterten Wechsel zum FC Barcelona. Der Ivorer ist seither ein Schatten seiner selbst, kein Einzelfall nach solchen Transferdramen. Auch andere Leistungsträger wie Stürmer Alassane Pléa, Innenverteidiger Dante, der gegen Lyon gleich mehrfach patzte, sowie Torhüter Yoann Cardinale, der inzwischen sogar auf die Bank verbannt wurde, schafften es nicht, das Niveau der vergangenen Runde zu konservieren. Die Abgänge von Younès Belhanda und Valentin Eysseric sowie die Kreuzbandverletzung von Wylan Ciprien, der am Samstag zum ersten Mal wieder in der Reserve zum Einsatz kam und sofort traf, wurden nicht adäquat kompensiert und im Mittelfeld mangelt es seither an Kreativität. Zwar hat sich am ballbesitzorientierten Stil nichts geändert und in punkto Passgenauigkeit gehört Nizza noch immer zur Spitze der Ligue 1, doch hält sich der Ertrag bei mageren sechs Treffern aus dem Spiel in engen Grenzen. Auch Standardsituationen schaffen momentan keine Abhilfe. Im Defensivbereich rangiert man in den Kategorien Tacklings und zugelassene Großchancen ligaweit auf dem letzten Platz. Zudem hängt Wohl und Weh des Gym nach wie vor in erheblichem Maße von den Launen eines Mario Balotelli ab. Wenn der kapriziöse Italiener traf, ging man in acht Begegnungen fünfmal als Sieger vom Platz. Leider findet Warum immer ich? nur gelegentlich statt und nimmt sich in Form von Rotsperren, fadenscheinigen Verletzungen oder teilnahmslosen Darbietungen auf dem Rasen immer wieder Auszeiten.

(Photo VALERY HACHE/AFP/Getty Images)

Es weht also ein rauer Wind an der klimatisch sonst so gesegneten Côte d’Azur.  Die Aufgaben beim Vierzehnten aus Toulouse am Mittwoch und gegen das abgeschlagene Schlusslicht FC Metz am kommenden Samstag dürften richtungsweisenden Charakter besitzen. Sollten die Resultate auch gegen auf Papier und Bankkonto deutlich unterlegene Gegner nicht stimmen, könnte sich die Lage für Lucien Favre an der Promenade des Anglais weiter zuspitzen und eine noch im Sommer für undenkbar gehaltene Trennung wäre plötzlich kein Tabuthema mehr. Keine Frage, der OGC Nizza steht vor einer stürmischen Woche und Lucien Favre ist mittendrin im Auge des Orkans.

 

Matthias Haufer


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