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Toptorjäger und Schicksalsschläge: So gut war Adriano

26. April 2020 | Wie gut war eigentlich...? | BY Jasper Glänzer

Vom Bordstein zur Skyline und wieder zurück. So oder so ähnlich könnte der Titel der Biografie von Ex-Fußballer Adriano Leite Ribeiro lauten. Einst als einer der besten Stürmer der Welt gefeiert, nahm die Karriere des Brasilianers einen Verlauf, der in der Geschichte des Profifußballs wohl seinesgleichen sucht.

Gleichzeitig steht er wie ein weiteres Warnschild am Himmel, das auch dem Letzten vor Augen führt, dass auch im Fußballgeschäft nicht alles Gold ist, was glänzt.

Ein früher Schicksalsschlag

Doch der Reihe nach. Geboren im Jahr 1982 in den Favelas der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro entdeckte Adriano bereits früh seine Leidenschaft. Sein Weg beginnt wie der so vieler seiner Landsmänner mit Straßenfußball, barfuß mit seinen Freunden im Armenviertel Vila Cru­zeiro. Seine Geschichte aber beginnt abseits des Sports mit einem Schicksalsschlag, der seine volle Gewalt erst Jahre später entfalten sollte.

Die Favelas in Rio sind berüchtigt, Armut, Drogenhandel und Kriminalität stehen an der Tagesordnung. „Europäer können sich gar nicht vorstellen, was dort abgeht. Lehmhäuser mit Pappdächern, keine Kanalisation und Zehnjährige, die mit Revolvern herumlaufen. Das ganze Leben dreht sich nur um Überfälle und Drogen“, beschrieb Adriano selbst einmal den Alltag in seinem Geburtsort. 

Dieser knallharten Realität kann sich auch die Familie Leite Ribeiro nicht entziehen. Im Frühjahr 1992, Adriano ist gerade zehn Jahre alt geworden, kommt es mal wieder zu einem Polizeieinsatz gegen eine ansässige Drogenbande. Nichts neues für die Bewohner des Viertels, doch für Adriano und seine Familie ist diesmal trotzdem alles anders.

Denn eine der umherfliegenden Kugeln trifft in den Kopf von Almir Leite Ribeiro, den Vater des kleinen Adriano, während dieser nur wenige Meter entfernt steht. „Dieser Augen­blick hat mich der­maßen geprägt. Ich bin schlag­artig erwachsen geworden“, erinnert sich der spätere Torjäger Jahre danach. Obwohl Almir die Verletzung wie durch ein Wunder überlebt, fehlt der Familie das Geld, um die Kugel operativ aus seinem Kopf entfernen zu lassen. Sie verbleibt also in seinem Schädel, wie eine Zeitbombe, die jeden Moment explodieren kann.

Doch vorerst lebt Almir Leite Ribeiro und wird Zeuge, wie sein Sohn den Weg in die fußballerische Weltelite beginnt. Ein Weg, der zunächst nicht allzu vielversprechend aussieht. Aufgrund seiner bulligen, „untypisch brasilianischen“ Statur und Spielweise steht der damals in der Jugend von Flamengo noch auf der Innenverteidigerposition spielende Adriano bereits mit 14 Jahren kurz vor dem Aus. Ihm fehlt die Leichtigkeit, die Eleganz, die den brasilianischen Fußballstil schon immer auszeichnete. Es ist sein Jugendtrainer Luiz Antonio Torres, der erkennt, dass Adrianos „ungewöhnliche“ Eigenschaften gleichzeitig sein Stärken sind – wenn sie richtig ausgespielt werden. Er gibt dem 14-Jährigen noch eine Chance und beordert ihn in die Sturmzentrale. Eine wegweisende Idee, denn dort schlägt Adriano voll ein.

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Ein Mix aus Ibrahimovic und Ronaldo 

Nun nimmt alles seinen Lauf. 1999 schießt er die U17 der Seleçao zum WM-Titel, ein Jahr später debütiert er für die erste Mannschaft von Flamengo. Bereits in seinem erstem Spiel trifft er nach nur fünf Minuten und bereitet im Verlauf der Partie noch drei weitere Tore vor. Adriano hat seine Position gefunden. Er ist ein Mittelstürmer, ein Torjäger, hochexplosiv, den unbedingten Zug zum Tor. Am Ende seiner ersten Profisaison kann er insgesamt 16 Treffer verbuchen, längst haben auch die europäischen Topklubs den jungen Angreifer auf dem Schirm. Mit 19 Jahren geht er den nächsten Schritt und entscheidet sich für einen Wechsel zu Inter Mailand. Hier läuft er an der Seite Ronaldos auf, einem der größten Stürmer seiner und aller Zeiten. 

Von seinem neuen Klub wird der Teenager jedoch erst einmal verliehen, zunächst nach Florenz und im Folgejahr nach Parma. Adriano soll reifen und sich an den italienischen Fußball zu gewöhnen. Der Plan geht auf, im Januar 2004 hat er im Trikot des AC Parma bereits acht Tore in neun Partien erzielt und Inter holt den Stürmer vorzeitig zurück nach Mailand. Ronaldo ist mittlerweile in Madrid und spielt für die „Galaktischen“, der Weg ist also frei.

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Was nun beginnt, ist die Glanzzeit Adrianos. Die Lücke, die Ronaldo hinterlassen hat, füllt er voll und ganz aus. Er wirbelt durch die Sturmzentrale der Nerazzurri, vereint seine 1,90 Meter und 90 Kilo Kampfgewicht mit der Leichtigkeit des brasilianischen Fußballs. Durchschlagskraft und Technik. Wucht und Eleganz. „Ein Mix aus Ronaldo und Zlatan Ibrahimovic“, wie Ivan Cordoba seinen damaligen Mannschaftskollegen einst nannte. 

Mit dem Titel in der Copa America 2004 hat Adriano auch endlich den Respekt in seinem Heimatland gewonnen, indem er aufgrund seiner Statur und seiner Spielweise bisher besonders belächelt wurde. Mit sieben Treffern wird er zum besten Torschützen und außerdem zum besten Spieler des Turniers gewählt. Wirklich unsterblich macht er sich in Brasilien allerdings im Finale gegen den Erzrivalen Argentinien. Adriano trifft in der Nachspielzeit zum Ausgleich und sorgt damit dafür, dass die Seleçao bis ins Elfmeterschießen kommt, wo sie sich schließlich den Titel sichern kann. 

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Auch auf nationaler Ebene macht Adriano in dieser Zeit keiner was vor. Mit den Nerazzurri gewinnt er Meisterschaften und Pokale wie am Fließband, mittlerweile gehört er zu den besten Stürmern der Welt. „L’Imperatore“ wird er in Anlehnung an den römischen Kaiser Hadrian (ital.: Adriano) genannt, die Fußballwelt liegt ihm zu Füßen. 2005 wird der bullige Angreifer erneut Torschützenkönig sowie bester Spieler beim Confed-Cup in Deutschland und holt sich außerdem die Trophäe als Welttorjäger. Mit der brasilianischen Auswahl um Ronald­inho, Kaka und Ronaldo ist er die große Hoffnung auf den WM-Titel 2006. Doch dann kommt alles ganz anders.

Adriano: Game over

Der Imperator, der Herrscher über des Gegners Strafraum, verliert mehr und mehr den Fokus. Keine Schlagzeilen mehr über atemberaubende Tore aus allen möglichen und unmöglichen Distanzen, dafür umso mehr über seinen ausschweifenden Lebensstil. Der beste Stürmer der Welt feiert lieber die Nächte durch als pünktlich zum Training zu erscheinen, nimmt 20 Kilo zu, gerät völlig aus der Bahn. Seine Leistungen bei Inter Mailand sinken rapide, 200 Tage lang bleibt er ohne Torerfolg und wird mit der Goldenen Kanne ausgezeichnet, dem Spottpreis für den schlechtesten Spieler der Serie A. 

Im Oktober 2006 erfährt die Öffentlichkeit schließlich den Grund für Adrianos mentalen Breakdown: Vater Almir Leite Ribeiro war bereits 2004 an den Spätfolgen der zwölf Jahre zuvor erlittenen Verletzung gestorben. Nur 17 Jahre trennten die beiden Männer, die sich schon immer sehr nahe standen. Während Adriano in den zwei Jahren nach diesem tragischen Ereignis seine Karriere aufbaute und in enormem Tempo den Fußball-Olymp bestieg, holt es ihn nun wieder ein. 

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„Nach dem Tod meines Vaters und der Trennung von meiner Freundin habe ich Zuflucht im Alkohol gesucht“, sagt Adriano im Rückblick. Er wird zum FC Sao Paolo ausgeliehen, soll sich in seiner Heimat Brasilien wieder erholen und seine Gespenster hinter sich lassen. Dafür erhält er jegliche denkbare Unterstützung, ist in intensiver psychologischer Behandlung und soll von persönlichen Fitnesstrainern körperlich wieder in die Spur geführt werden. Doch auch diese Maßnahmen zeigen nur begrenzt Wirkung und als sich zurück bei Mailand auch unter Trainer José Mourinho keine wirkliche Verbesserung der Lage einstellt, wird Adriano schließlich verkauft. 

Bei Flamengo blüht der Imperator zeitweise wieder auf, schießt seinen Klub mit 19 Toren zum Meistertitel. „Das Trikot von Flamengo zu tragen, hat mir den Spaß zurückgebracht. Die Lebensfreude ist wieder da. Ich habe nie an Rücktritt gedacht. Ich brauchte nur eine Auszeit und wollte meine Familie und meine Freunde wieder in meiner Nähe haben“, beschreibt Adriano diese kurze Phase gegenüber Spox im Jahr 2009. Tatsächlich steht er auch noch einmal kurz vor der Teilnahme an der WM 2010, wird aber kurz vor Beginn doch noch aus dem Kader gekickt. Game Over.

Der „Bad Boy“ Brasiliens?

Es folgen noch einige Gastspiele bei AS Rom, Corinthians und schließlich in den USA bei Miami United. Der große Name trägt noch eine Weile, doch auffallen sollte Adriano nur noch neben dem Platz. Die Medien verbreiten die spektakulärsten Gerüchte über den einstigen Welttorjäger, der unter anderem seine Freundin an einen Baum gefesselt haben und einer anderen Frau in die Hand geschossen haben soll. Immer wieder tauchen Geschichten über Schlägereien, Drogen und Verwicklungen in kriminelle Machenschaften auf, gestützt von Bildern, auf denen der einstige Starstürmer mit Waffen und lokalen Gangstern posiert. Von der Presse wird er zum „Bad Boy Brasiliens“ gekürt. 

Im Spox-Interview 2009 sagt Adriano zu diesen Gerüchten: „Ich habe keinen Kontakt mit Drogendealern oder so, aber ich weiß, dass es Leute gibt, die einen anderen Lebensweg eingeschlagen haben und dennoch gute Menschen sind. Das Entscheidende ist, dass da Leute sind, auf die man sich verlassen kann.“ Menschen, auf die er sich verlassen kann, brauchte der Stürmerstar zur fraglichen Zeit mehr denn je. Denn schon die Tatsache, dass sein sportlicher und persönlicher Absturz erst zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters einsetzte, spricht für die Tatsache, dass diese tragische Erfahrung nicht der alleinige Auslöser war. 

Vom Druck der Öffentlichkeit 

Denn Adriano sagt auch: „Ich stand unter großem Druck. Seit ich 18 Jahre alt bin, bin ich großem Druck ausgesetzt. Viele Menschen verstehen das nicht. Das ist eine böse Situation, da ist eine Leere, das ist nicht so einfach.“

Eine Leere, die sicher viele seiner Kollegen nachvollziehen können, die in Nacherzählungen über den Niedergang des großen Imperator jedoch nur selten Erwähnung findet. Vielleicht, weil sich alle schon so daran gewöhnt haben. Der Druck gehört eben dazu – if you can’t stand the heat, get out auf the kitchen! Solche oder ähnliche Worte bekommen Fußballprofis zu hören, wenn sie Klartext über die enorme emotionale Belastung sprechen, die mit ihrem Job einher geht. Das musste in Deutschland zuletzt Per Mertesacker erfahren, der es wagte, öffentlich zuzugeben, wie sehr er zu seiner aktiven Zeit unter dem Druck der Öffentlichkeit gelitten hat. Ein mutiges Geständnis, dass tief hinter die Fassade des Fußballgeschäfts blicken lässt – und für das er umgehend nicht nur von den Sky-Fußballgranden um Lothar Matthäus und Rainer Calmund zerpflückt wurde. 

Adriano ist kein Einzelfall

Professionell Fußball spielen und damit Millionen verdienen ist ein Privileg, der große Traum vieler Kinder (und auch Erwachsener). Doch eben da liegt der Hund begraben: mit steigender Leistung wachsen auch die Erwartungen, die es zu erfüllen gilt, und gerade in der heutigen Zeit ist das Fußballgeschäft derart schnelllebig, dass eventuelle Schwächephasen innerhalb kürzester Zeit zu Krisen hochgejazzt und Spieler abgeschrieben werden, die gestern noch als große Hoffnungsträger galten. Viele kommen mit diesem Druck klar, sehen ihn sogar als Ansporn, für viele andere wird es irgendwann einfach zu viel. In Extremfällen endet diese Abwärtsspirale wie bei Sebastian Deisler oder gar Robert Enke.

Natürlich, bei all diesen Personen kamen mehr Gründe zusammen als der bloße Druck des Fußballgeschäfts. Jeder dieser Menschen hat seine eigene Historie mit eigenen Schicksalsschlägen, eigenen Problemen und Hindernissen. Jede Geschichte kennt ihre eigene Tragik. 

Doch gerade das wird von Fans und Medien im Alltag noch immer allzu häufig vergessen: Auch Fußballstars, die ganz oben angekommen sind, die das nach außen vermeintlich perfekte Leben haben, sind am Ende des Tages nur Menschen. Menschen, die mit Problemen, Schicksalsschlägen und Hindernissen zu kämpfen haben, wie wir alle. Was im Fußballgeschäft dann noch dazu kommt, das ist der enorme Druck. Ein Druck, dem Adriano Leite Ribeiro nicht gewachsen war. Denn eines ist unzweifelhaft: An Talent und fußballerischer Qualität hat es dem Imperator nicht gemangelt. 

Jüngste Bilder zeigen Adriano zurück in den Favelas, den Armenvierteln, in denen er aufgewachsen ist. Heute ist er 38 Jahre alt und plant, sein Leben zu verfilmen. Genügend Stoff bietet es allemal.

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Jasper Glänzer

Photo by PIERRE-PHILIPPE MARCOU/AFP via Getty Images

Jasper Glänzer

Wegen Ronaldo gekommen und für Asamoah geblieben. Gefangen zwischen Bolzplatz und VAR, dabei stets ein Herz für’s Mittelmaß. Kein Bock auf Bollwerk. Seit 2019 bei 90Plus.


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