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Hamburger Stadtderby: FC St. Pauli vor Machtübernahme?

1. Dezember 2023 | Spotlight | BY Yannick Lassmann

Das Fußballwochenende startet am Freitagabend mit einem Highlight, dem Hamburger Stadtderby. Bisher hielt der Hamburger SV stets die Vorherrschaft in der Hansestadt inne. Vor dem Spitzenspiel der 2. Bundesliga muss allerdings der FC St. Pauli als zumindest leichter Favorit bezeichnet werden – und auch auf lange Sicht könnte der Stadtteilklub die Nase vorn haben.

FC St. Pauli: Immer noch ungeschlagen

Am 29.01.2023 starteten der FC St. Pauli und der Hamburger SV in die Rückserie der abgelaufenen Spielzeit. Damals trennten beide Vereine satte 17 Punkte. Am Millerntor herrschte schlechte Stimmung, da Vereinsikone Timo Schultz (46) nach einer Ansammlung von enttäuschenden Resultaten während der Winterpause von seinen Aufgaben als Cheftrainer entbunden wurde. Sein vorheriger Assistent Fabian Hürzeler (30) übernahm die Nachfolge und wurde mit großer Skepsis betrachtet.



Rund zehn Monate später hat sich der Wind vollends gedreht. Denn die Entwicklung unter Hürzeler ist beeindruckend. Die ersten zehn Ligaspiele wurden allesamt gewonnen. Am Ende einer begeisternden Rückrunde mit satten 41 Punkten aus 17 Spielen stand Rang fünf – eine bemerkenswerte Platzierung angesichts der Abstiegssorgen zum Winter. Ohne die dramatische 3:4-Derbyniederlage beim HSV wäre womöglich sogar noch mehr drin gewesen.

Den nächsten Schritt geht der FC St. Pauli in der laufenden Spielzeit, obwohl im Sommer Leistungsträger wie Leart Paqarada (29/1. FC Köln), Lukas Daschner (25/VfL Bochum) oder Jakov Medic (25/Ajax) weiterzogen und von den Neuzugängen bislang lediglich der Zweitliga-erfahrene Hauke Wahl (29) eine tragende Rolle einnimmt. Aktuell führt der Hamburger Stadtteilklub die 2. Bundesliga die Tabelle mit 30 Punkten aus 14 Spielen an und blieb dabei sogar ungeschlagen.

Zur Tabelle der 2. Bundesliga

Es hätte noch deutlich mehr Zählbares herausspringen können. Bei den Nullnummern gegen Düsseldorf, Magdeburg und Hannover war St. Pauli jeweils dem Sieg ein ganzes Stück näher. Auch in diesen Partien brachte die Auswahl von Hürzeler nämlich ihre Qualitäten aufs Spielfeld. Die Basis bildet weiterhin die Defensive. So setzte es bislang nur elf Gegentore, bei einem X-Goals-against-Wert von 0,94 pro Partie. Oftmals geriet das Gehäuse von Nikola Vasilj (27) gar nicht erst in Gefahr, denn St. Pauli hält dem Gegner durch ein aggressives Gegenpressing und eine gute Konterabsicherung weit vom eigenen Tor fern.

Darüber hinaus weiß der FC im eigenen Ballbesitz zu überzeugen, erspielt sich nahezu in jedem Spiele eine Reihe an guten Möglichkeiten. Bei der Verwertung haperte es gerade zum Anfang der Saison. Der aus Regensburg gekommene Andreas Albers (33) blieb bisher glücklos, während der als Stammkraft eingeplante Simon Zoller (32) verletzungsbedingt noch keine wirkliche Rolle spielte.

In die Bresche sprangen Marcel Hartel (27), der seiner fußballerischen Klasse, die fünf Torvorlagen unterstreichen, und Laufstärke nun auch noch Abschlusstärke hinzufügte, sowie der einst als großes Talent geltende, aber erst unter Hürzeler aufblühende Johannes Eggestein (25). Das Duo war für 13 der 27 Saisontoren verantwortlich – und soll auch im Stadtderby, dessen letzten vier Auflagen am Millerntor der FC St. Pauli für sich entschied, eine tragende Rolle einnehmen.

(Photo by Andreas Schlichter/Getty Images)

HSV: Zweifel vor dem Derby

Ebenfalls an einem herausragenden offensiven Duo erfreut sich der Hamburger SV. Robert Glatzel (29) und László Bénes (26), der wohl beste Fußballer der 2. Bundesliga, bringen es zusammengerechnet auf beachtliche 27 Scorerpunkte. Und doch herrscht am Volkspark eine durchaus angespannte Atmosphäre. Dabei begann der sechste Anlauf zur Bundesliga-Rückkehr überaus vielversprechend. Nach fünf Spieltagen mit furiosen Auftritten gegen Schalke (5:3) oder Hertha (3:0) standen schon 13 Punkte zu Buche.

Die daraus resultierende Euphorie ist allerdings verflogen. Zu inkonstant treten die Rothosen auf. Die Heimbilanz ist angesichts der Maximalpunkzahl von 21 Punkten aufstiegsreif. Zwischenzeitlich blieb der einen sensationellen Zuschauerschnitt von 56.511 aufweisende HSV im Volksparkstadion fünfmal hintereinander ohne Gegentor. Auf fremden Platz lässt sich davon allerdings rein gar nichts bemerken. Hier gab es trotz ebenfalls bemerkenswerter Fanunterstützung für einen Aufstiegsaspiranten desaströse sechs Punkte aus sieben Spielen. Als bezeichnend gilt der magere eine Zähler aus den Auftritten bei den Aufsteigern Elversverg, Osnabrück und Wehen Wiesbaden.

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Die Spiele haben oftmals ein ähnliches Muster. Der HSV besitzt deutlich mehr Feldanteile, erspielt sich gegen tief stehende Gegner allerdings nur wenige klare Chancen. Darüber hinaus zeigt er sich überaus anfällig bei gegnerischen Kontern, was nicht alleine der Qualität der Spieler, sondern auch dem Ansatz von Trainer Tim Walter (48) zuzuschreiben ist. Dieser ist genauso wie Hürzeler ebenfalls ein Freund des Ballbesitzspiels, geht dabei aber wesentlich riskanter vor – sowohl im Spielaufbau als auch bei der Restverteidigung.

Die Innenverteidiger müssen immer wieder an der Mittellinie in Laufduelle mit gegnerischen Stürmern. Teils hatten Dennis Hadzikadunic (25) und Guilherme Ramos (26), die den schmerzlich vermissten Abwehrchef Sebastian Schonlau (29) nicht vollständig ersetzen können, trotz ordentlicher Geschwindigkeit das Nachsehen. Zudem leisteten sie beide Akteure bereits den ein oder anderen üblen Fehler, der Konsequenzen besaß. Daher musste Schlussmann Daniel Heuer Fernandes (31), ligaintern einer der besten seines Metiers, bereits 18-mal hinter sich greifen. 14 Gegentore kassierte er auswärts.

(Photo by Selim Sudheimer/Getty Images)

Den letzten Sieg außerhalb des Volksparks fuhr der HSV am 26. August (1:0 in Hannover) ein. Die Leistungskurve schaut negativ aus. Denn auch die jüngsten Heimdarbietungen gegen die nicht besonders formstarken Mannschaften des 1. FC Magdeburg (2:0) und Eintracht Braunschweig (2:1) fielen nicht besonders überzeugend aus.

Die Kritik an Trainer Walter, dessen Verbleib schon im Sommer nicht von allen Beobachtern begrüßt wurde, mehrte sich in den vergangenen Wochen. Das Stadtderby beim FC St. Pauli besitzt auch für ihn wegweisenden Charakter. Noch mehr allerdings für den Verein selbst. Bei einer Niederlage würde der Rückstand auf den Stadtrivalen auf sechs Punkte anwachsen – und der sich anbahnende Machtwechsel innerhalb Hamburgs weiter voranschreiten.

(Photo by Stuart Franklin/Getty Images)

Yannick Lassmann

Rafael van der Vaart begeisterte ihn für den HSV. Durchlebte wenig Höhen sowie zahlreiche Tiefen mit seinem Verein und lernte den internationalen Fußball lieben. Dem VAR steht er mit tiefer Abneigung gegenüber. Seit 2021 bei 90Plus.


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