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Heidenheim spielt Moreyball: Die besondere Strategie des Aufsteigers

8. Oktober 2023 | Spotlight | BY 90PLUS Redaktion

Der 1. FC Heidenheim ist kein besonderer Bundesliga-Aufsteiger. Das war vor der Saison 2023/24 bereits klar und zeigt sich in den ersten Wochen der neuen Saison. Bei genauerer Betrachtung der Spielweise ergeben sich Parallelen zum Moreyball, einem bestimmten Spielstil im Basketball. 
In rasender Geschwindigkeit soll dabei ein Angriff auf eine der zwei folgenden Weisen abgeschlossen werden: Entweder mit einem Wurf aus der Distanz, oder einem Korbleger. Während der Drei-Punkte-Wurf die höchstmögliche Punktzahl einbringt, ist der Korbleger der potenziell einfachste Abschluss in diesem Sport. Der Weg zum Korbleger hat einen weiteren Vorteil: Oft führt er zu Freiwürfen, einer Standardsituation. Ob gewollt oder nicht, Heidenheim scheint sich diese Philosophie zum Vorbild zu nehmen.

Schnell, schneller, 1. FC Heidenheim

Aufsteiger setzen in ihrer ersten Saison mit großer Vorliebe auf das Umschaltspiel. Nach einem Ballgewinn soll die eigene Mannschaft in kürzester Zeit das gegnerische Tor attackieren. Der Gegner hat in diesen Momenten keine Zeit, eine geordnete Defensive aufzubauen, wodurch eine gerechtfertigte Hoffnung auf freie Räume und Lücken in der Hintermannschaft besteht. Beim Moreyball wird durch schnelle Abschlüsse ebenfalls versucht, das erhoffte Chaos zielstrebig auszunutzen.
Zieht sich eine Mannschaft in der Verteidigung weit zurück, muss nach einem Ballgewinn eine weite Strecke zurückgelegt werden. Dafür müssen schnelle Spieler auf dem Feld stehen, die mit ihrer hohen Geschwindigkeit eben jene Räume attackieren. Zur Zeit lässt Heidenheim 15,58 Pässe pro Defensivaktion zu, was dem höchsten Wert der Liga entspricht. An dieser Stelle kommt ein Neuzugang ins Spiel: Eren Dinkci (21). Der junge Offensivspieler wurde vor dieser Saison von Werder Bremen ausgeliehen, nachdem er sich dort nicht nachhaltig durchsetzen konnte. Im Trikot des Aufsteigers ist er mit seinen Stärken zu einer Waffe geworden. [caption id="attachment_563562" align="alignnone" width="1024"]Dinkci Heidenheim (Photo by Daniel Kopatsch/Getty Images)[/caption]
Sechs Spieltage stehen mittlerweile in den Büchern und die Sample-Size ist groß genug, um die verschiedenen Tendenzen der Teams herauszuarbeiten. Wie es sich für einen vorbildlichen Aufsteiger gehört, spielt das schnelle Umschalten in der Mannschaft von Frank Schmidt eine wichtige Rolle. Kein anderes Team legt im eigenen Angriff mehr Meter pro Sekunde zurück als Heidenheim (2,35). Und genau das spielt Eren Dinkci in die Karten, der mit 35,15 km/h (8.) zu den zehn schnellsten Spielern der Liga gehört. Wenig überraschend laufen viele Angriffe über den jungen Flügelspieler. Die erzielte Ausbeute kann sich sehen lassen: Die 21-jährige Leihgabe von Werder ist mit vier Treffern der erfolgreichste Torschütze der Schmidt-Elf.

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Klare Muster im Abschluss als essenzielles Element

In der vergangenen Saison hat der 1. FC Heidenheim erstmals in der Vereinsgeschichte den Aufstieg in die Bundesliga geschafft. Anders als viele andere Zweitligameister zuvor hat der FCH bereits im deutschen Unterhaus ein spannendes Muster im Abschluss gezeigt. Bis zu einem gewissen Grad gilt im Fußball die Faustregel: Je dichter und zentraler die Schussposition, desto einfacher  ist der Abschluss. Da erscheint es nur logisch, dass der Bundesliga-Neuling in seiner Aufstiegssaison elf Prozent seiner Abschlüsse im Fünfmeterraum genommen hat. Wir erinnern uns an den Moreyball, wo der Korbleger, das einfachste Finish, eine hohe Priorität genießt. Allerdings bleibt ein Tor beim Fußball einfach nur ein Tor, egal aus welcher Entfernung der Ball nun die Torlinie überquert. [sc name="bundesliga_video" ][/sc]
Warum sollte eine Mannschaft also auf Fernschüsse zurückgreifen? Weil es unter gewissen Umständen absolut sinnvoll ist! Genau das hat das Team von Frank Schmidt im letzten Jahr mit größtmöglichem Erfolg vorgemacht. Unglaubliche 15 Tore der Heidenheimer wurden von außerhalb des Strafraums erzielt - natürlich der beste Wert der ganzen Liga. Nach sechs Begegnungen der neuen Saison rangiert der Aufsteiger in diesem Ranking erneut an der Spitze der Liga. Vier Tore nach einem Fernschuss werden im deutschen Oberhaus von keiner anderen Mannschaft übertroffen. Der einfachste Abschluss ist ebenfalls beliebt geblieben. Heidenheim gibt 13 Prozent seiner Torschüsse aus dem Fünfmeterraum ab - Bestwert in Liga 1.

Jan-Niklas Beste im Fokus: Auch die Standards sind gut

Um den Heidenheimer Ansatz vollumfänglich zu erklären, bedarf es weiterer Statistiken. Aus dem Spiel heraus gibt es derzeit nur zwei Vereine (vor dem 7. Spieltag), die weniger erwartbare Tore als Heidenheim (4,04 xG) erzielt haben: Köln (2,57 xG) und Mainz (3,51 xG). Beide Mannschaften haben erst einen Punkt auf dem Konto und zählen mit vier erzielten Toren zu den schwächsten Offensivreihen der Liga. Heidenheim hingegen durfte bereits zehnmal jubeln und hat sich mit sieben Punkten im Mittelfeld der Tabelle platziert. Doch wie funktioniert das? Des Rätsels Lösung heißt Standardsituationen!
Für einen guten Standard braucht ein Team einen guten Schützen. Und den haben sie in Heidenheim. Jan-Niklas Beste ist ein unersetzlicher Bestandteil in der Elf von Frank Schmidt. Anfang Oktober sind in der Beletage des deutschen Fußballs vier direkte Freistoßtore gefallen. Die Hälfte dieser Treffer gehen auf das Konto von Beste. Der FCH holt das Maximum aus seinen Fähigkeiten heraus und hat genau 50 Prozent der eigenen Tore nach einem ruhenden Ball erzielt (fünf von zehn). Das ist eindeutig der höchste Anteil unter allen Mannschaften der Bundesliga.

Die Verbindung der einzelnen Elemente ist entscheidend

Korbleger oder Distanzwurf, Abschluss im Fünfmeterraum oder Distanzschuss: Die Parallelen sind klar zu erkennen. Wie bereits angedeutet sinkt mit einem Schuss aus größerer Entfernung statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit auf einen Torerfolg. Die hohe Qualität bei Abschlüssen aus großer Entfernung sind beim FCH aber nur ein Teil der Gleichung, denn Fernschüsse haben einen weiteren Vorteil, der alles miteinander verbindet: Nicht selten entsteht ein Eckball nach einer Parade oder einem geblockten Versuch. Und genau hier kommt wieder der angesprochene Beste ins Spiel. [caption id="attachment_563573" align="alignnone" width="1024"]Heidenheim (Photo by Daniel Kopatsch/Getty Images)[/caption] Nun ist es für einen Aufsteiger eher untypisch, viele Eckbälle treten zu dürfen. Das liegt in der Regel am geringen Anteil, den ein Underdog in der Offensive verbringt und Heidenheim gehört als Bundesliga-Frischling definitiv zu dieser Kategorie.   Das schnörkellose Spiel ermöglicht es dem Schmidt-Team aber, das Spielfeld schnell zu überbrücken und trotz der klaren Rolle immer wieder in Abschlusssituationen zu kommen. Heidenheim spielt unkompliziert, direkt, weiß, wie man sich die nötigen Freiräume schafft.

Heidenheim Ein letztes Puzzleteil für den Klassenerhalt

Aber es gibt auch noch Dinge, die nicht so gut funktionieren. Wollen Frank Schmidt und seine Spieler die Klasse halten, muss die Hintermannschaft wieder auf Vordermann gebracht werden. In der Aufstiegssaison hatte Heidenheim mit 36 Gegentoren (2. Rang) und 40,45 erwartbaren Gegentoren (2.) eine fantastische Abwehr auf dem Feld. In der Folge ging Torhüter Kevin Müller nach 15 Partien mit einer "weißen Weste" vom Feld - der beste Wert im deutschen Unterhaus. Aktuell hat die Schmidt-Elf 13 Gegentore kassiert (13. Rang) und die meisten erwartbaren Gegentore der Bundesliga zugelassen (18,78 xGA). Zumindest deutete sich zuletzt ein Trend in die richtige Richtung an. Gegen Union Berlin hielt Heidenheim erstmals die Null. Zudem wächst Kevin Müller derzeit über sich hinaus. Mit 1,4 verhinderten Gegentoren ist er in dieser Hinsicht der viertbeste Schlussmann der Liga. Kurzum: Heidenheim hat die nötigen Qualitäten im Team, um sich in der ersten Liga zu halten. Zuletzt blieb der Aufsteiger in drei von vier Ligaspielen ungeschlagen. Dieser Trend könnte sich in den nächsten Wochen festigen, denn mit Frankfurt, Augsburg und Gladbach warten drei schlagbare Gegner. Das Rezept für den Erfolg ist klar: Moreyball, oder besser gesagt: Schmidt-Ball.

(Photo by Daniel Kopatsch/Getty Images)

Text: Steffen Wilkens


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