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Neuer Bayer-Coach Xabi Alonso: Mehr Pep Guardiola oder José Mourinho?

12. Oktober 2022 | Spotlight | BY Florian Weber

Xabi Alonso ist ein schillernder Name, als Trainer aber noch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Wie denkt er über Fußball, wie spielte Real Sociedad B in den drei Jahren unter ihm und was ist von Bayer Leverkusen unter Xabi Alonso zu erwarten?

Unweigerlich erinnerte Xabi Alonso am Samstagnachmittag an Pep Guardiola. Stilvoll, ganz in schwarz gekleidet, stand Alonso fast während des gesamten Spiels gegen den FC Schalke 04 dicht an der Seitenlinie. Immer wieder beorderte er Spieler zu sich, auf die er im Zwiegespräch wild gestikulierend einredete. So, wie Guardiola von 2013 bis 2016 beim FC Bayern München, der vor Alonso der bisher einzige spanische Trainer der Bundesligageschichte war.

Als Schiedsrichter Tobias Reichel Alonsos erstes Bundesligaspiel als Trainer abpfiff, stand 4:0 auf der Anzeigetafel der BayArena. Ein Traumauftakt. Die Sportschau titelte gar: „Xabi Alonso küsst die Werkself wach“. Doch, so groß die Euphorie nach dem ersten Spiel ist, Leverkusen spielte gegen eine der harmlosesten Mannschaften der Bundesliga. In fast allen relevanten statistischen Kategorien (Torschüsse pro Spiel, expected Goals, Passquote und Ballbesitz) gehört Schalke zu den schwächsten drei Teams der Saison. Nicht umsonst stehen die Königblauen auf dem 16. Tabellenplatz.



Will man also mehr darüber erfahren, was von Xabi Alonso als Trainer zu erwarten ist, sind zwei Dinge zu vermeiden. Erstens sollte man dieses erste Spiel gegen Schalke nicht überbewerten, zweitens sollte man nicht von Xabi Alonso dem Spieler, auf Xabi Alonso den Trainer schließen. Dass herausragende Spieler nicht automatisch herausragende Trainer sind, haben viele Beispiele aus der Vergangenheit gezeigt. Von Diego Armando Maradona bis Andrea Pirlo. Stattdessen geben Interviews, in denen Alonso über seine Spielidee und fußballerischen Visionen spricht, Indizien – und vor allem die drei Jahre, in denen er als Cheftrainer der zweiten Mannschaft von Real Sociedad gearbeitet hat, Auskunft darüber, wie er bei Leverkusen arbeiten könnte.

Schon als 15-Jähriger war er für wenige Stunden Trainer

In Spanien erzählt man sich eine Anekdote über Xabi Alonso. Schenkt man ihr Glauben, agierte Xabi Alonso schon viele Jahre vor einem Engagement bei Real Sociedad als Trainer. Zumindest für ein Spiel. Der Urheber dieser Geschichte ist Íñigo Elarre. Er war Jugendtrainer bei Antiguoko. Einer seiner Spieler war Xabi Alonso. Und Elarre wird nicht müde zu erzählen, dass Alonso im Alter von 15 Jahren eines Tages wegen einer Handverletzung nicht spielen konnte. Alonso habe das Spiel aber nicht als passiver Zuschauer verfolgt, sondern sich zu Elarre auf die Trainerbank gesetzt und seinen Mitspielern auf dem Feld Anweisungen gegeben. Jedes Mal gut fünf Sekunden bevor Elarre, der eigentliche Trainer, die Situationen selbst erkannte.

Eine Anekdote, an die sich Xabi Alonso nicht mehr erinnern konnte, als sie ihm im Interview mit dem spanischen Magazin The Tactical Room erzählt wurde. Er verneinte sie aber auch nicht. „Ich habe immer versucht, zu verstehen und zu wissen, warum etwas passierte, ich wollte nicht nur spielen“, antwortete er. Seitjeher habe er intensiv über Fußball nachgedacht, und besonders habe Pep Guardiola sein Denken geprägt: „Was muss ich machen, damit dieses oder jenes passiert. Und nicht: Es passiert etwas, das ich nicht kontrollieren kann. Das passiert nicht unkontrolliert.“ Geprägt ist sein Nachdenken über Fußball also vom klassischen Schema der Aktion und Reaktion. Die Mannschaften von Xabi Alonso sollen dabei so oft wie möglich die aktive sein.

Um dies zu erreichte, so die Überzeugung von Xabi Alonso, sei der Schlüssel aber nicht eine starre taktische Ausrichtung oder ein immergleiches Spielsystem – der Schlüssel sei vor allem Flexibilität. Und diejenigen, von denen die Grundidee ausgeht, in der diese Flexibilität stattfindet, seien die Spieler, nicht der er selbst als Trainer: „Ich glaube, man muss sich an die Spieler anpassen. Am Ende des Tages bist du von den Spielern abhängig und das Geheimnis ist es, dass du sie so führst, dass sie sich dir verpflichtet fühlen.“ Sich als Trainer eine erhabene, gar autoritäre Rolle einzuräumen, sei kontraproduktiv. Vielmehr sei sein Ziel „ein Teil des Ganzen zu sein, das Denken zu beeinflussen und dabei von Ideen zu überzeugen. Aber zuerst musst du es schaffen, dass die Menschen auf deiner Seite stehen; Wenn nicht, wird alles andere nicht gelingen.“

Rock ’n’ Roll oder Jazz?

So sehr Xabi Alonso als Trainer versucht seinen Spielern zu „dienen“ (so beschrieb Philipp Lahm einst die Arbeitsweise von Pep Guardiola), kann auch er sich nicht von einer taktischen und strategischen Vorliebe freimachen. Und da erinnert Xabi Alonso selbst an seine Zeit als Spieler: „Mir persönlich gefällt die Kontrolle. Das ist die ‚Macke‘ eines Mittelfeldspielers. Als Stürmer und großer Dribbler hätte ich vielleicht gesagt: ‚Los, ihr seid frei, was immer auch passiert‘, und das war‘s. Aber ich bin ein Mann des Mittelfelds und das heißt Kontrolle.“ Diese Kontrolle werde am besten erreicht, wenn die Balance zwischen verschiedenen Spielertypen stimmt: „Du brauchst Spieler, die für ein Gleichgewicht sorgen und welche, die für ein Ungleichgewicht sorgen, und zwischen ihnen musst du nach einer Art Balance suchen.“ Zwischen Robert Andrich und Moussa Diaby, sozusagen.

(Photo by Christof Koepsel/Getty Images)

In welche der beiden Richtungen das Pendel am Ende ausschlägt, dass sei von den Spielern abhängig. Er habe in seiner aktiven Zeit beides erlebt. Und um dies zu verdeutlichen, bemühte er im Gespräch mit The Tactical Room eine Analogie zur Musik. Als er bei Real Madrid gespielt habe, sei der Fußball näher am Rock ’n’ Roll gewesen, beim FC Bayern München habe die Spielweise hingegen eher dem Jazz geglichen. Nun stellt sich zwangsläufig die Frage: Will der Trainer Xabi Alonso von seiner Mannschaft eher Rock ’n’ Roll oder Jazz sehen? Darauf gibt er keine explizite Antwort, deswegen bleibt nichts anderes als eine Spurensuche in San Sebastián, wo er drei Jahre als Cheftrainer der zweiten Mannschaft von Real Sociedad gearbeitet hat.

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In diesen drei Jahren leistete Xabi Alonso beachtliches. Er führte seine junge Mannschaft (Altersdurchschnitt: 22 Jahre) in der Saison 2020/21 aus der dritten in die zweite spanische Liga. Dies gelang keiner anderen zweiten Mannschaft. Selbst die B-Mannschaften vom FC Barcelona und Real Madrid kickten weiterhin in der dritten spanischen Liga. Aus der zweiten Liga stieg Real Sociedad B zwar im ersten Jahr wieder ab, unter anderem weil Leistungsträger zur ersten Mannschaft abwanderten, doch vor allem die Saison 2020/21 gibt Aufschluss, wie Bayer Leverkusen unter Xabi Alonso spielen könnte.

„Jedes Spiel war eine neue Welt für ihn“

Dabei bestätigt sich beim ersten, oberflächlichen Blick auf die Datenbank von transfermarkt.de (die manchmal etwas unpräzise, für einen grundlegenden Überblick aber hilfreich ist) das Grundprinzip der Flexibilität. 4-2-3-1, 4-3-3, 3-4-1-2, 5-2-2-1. Xabi Alonso ordnete sein Team in unzähligen verschiedenen Grundordnungen an. Dies bestätigt auch Mikel Recalde, der als Sportredakteur der spanischen Regionalzeitung Noticias de Gipuzkoa Xabi Alonsos Zeit bei Real Sociedad aufmerksam beobachtet hat: „Seine Mannschaft war sehr flexibel. Jedes Spiel war eine neue Welt für ihn. Oftmals verzichtete er sogar auf einige Spieler, die im vorherigen Spiel am meisten herausgestochen hatten.“

Um stets die aktive Mannschaft zu sein, hält Xabi Alonso stetige Anpassung an den Gegner für unvermeidlich. Schon vor dem Spiel sollen seine Spieler eine Idee davon haben, wie der Gegner zu knacken ist. „Du kannst nicht auf den Rasen kommen, um mal zu schauen, was passiert“, sagte er im Interview mit The Tactical Room und antwortete auf die Frage, worauf er bei den Gegnern als erste achtet: „Auf die Systeme und wie wir sie schon im Aufbau attackieren müssen.“

Gegen den Ball, sagt Mikel Recalde, sei Xabi Alonso in seiner Zeit bei Real Sociedad stark von José Mourinho inspiriert gewesen, „vor allem in Bezug auf den Druck und die Art und Weise, wie er versuchte, den Ball zurückzuholen.“ Dabei meint er nicht José Mourinho im Sinne seiner „park the bus“-Taktik, sondern José Mourinhos Faible für mannorientiertes Pressing. Und genau wie bei Mourinho war bei Xabi Alonso Pressing nie Selbstzweck, um Chaos zu stiften, sondern immer so an den Gegner angepasst, dass er sich für sein Team größtmögliche Kontrolle versprach. Die Grundprinzipien waren dabei also: Der gegnerische Aufbau wird mit so vielen Spielern wie nötig, aber so wenig Spielern wir möglich angelaufen. Dahinter wird mannorientiert abgesichert, sodass sich die Grundordnung stets an der Grundordnung des Gegners orientiert.

Einen größeren Anteil der Spiele von Real Sociedad B unter Xabi Alonso machte aber das Spiel mit Ball aus. „Er möchte, dass seine Mannschaften Spiele durch Ballbesitz dominieren“, sagt Mikel Recalde. In der Saison 2020/21 hatte Xabi Alonsos Team durchschnittlich 59,8% Ballbesitz pro Spiel. Es war der zweithöchste Wert der über 100 Teams, die in den in Regionen aufgeteilten dritten Ligen Spaniens gespielt haben. Im Spielaufbau agierte sein Team fast immer in einer 3+2 Staffelung, in der auch Pep Guardiola meistens aufbauen lässt. Und darüber hinaus trieb Alonso seine Mannschaft immer wieder dazu an, so wenig toten Ballbesitz wie möglich zu produzieren. Also Ballbesitz in gänzlich ungefährlichen Zonen. Um dies zu vermeiden, sollte die Passfrequenz stets so hoch wie möglich sein und vertikale Pässe stets horizontalen vorgezogen werden. Zwei Statistiken aus der Saison 2020/21 untermauern dies:

Die Passingrate, eine Statistik, die aussagt, wie viele Pässe ein Team im Ballbesitz pro Minute spielt, von Real Sociedad B lag bei 13.9. Das war der fünfthöchste Wert der über 100 Mannschaften in den dritten spanischen Ligen und lag nur marginal unter dem vom FC Barcelona B, bei denen Passtempo und Kurzpassspiel zur DNA gehört. Die zweite Statistik, die den Spielansatz von Xabi Alonso untermauert, ist die Anzahl an linienbrechenden Pässen pro Spiel. In der Saison 2020/21 spielte Real Sociedad 6,41 Pässe dieser Art pro Spiel, der zweithöchste Wert der über 100 Mannschaften der dritten spanischen Ligen. (Diese beiden Statistiken sind übrigens einem wunderbaren, tiefgreifenden Artikel der Kollegen von borussiaexplained entnommen, der für einen Taktik-Deepdive zu Xabi Alonsos Real Sociedad B sehr zu empfehlen ist.)

Xabi Alonso: Aus San Sebastián erklingen nur Lobeshymnen

Zudem, sagt Mikel Recalde, hätten Präsident Jokin Aperribay und Sportdirektor Roberto Olabe vor allem dem Umgang von Xabi Alonso mit jungen Spielern geschätzt. Er sei grandios darin gewesen, Spieler mit Detailratschlägen zu verbessern. „Wenn ich einen Spieler hervorheben müsste, der besonders von Xabi Alonso profitiert hat, würde ich Martin Zubimendi nennen. Ein Mittelfeldspieler der Art, wie es Xabi selbst war und dem er immer mit Ratschlägen zur Seite stand. Zubimendi ist mittlerweile unumstrittener Stammspieler, wird vermutlich Sergio Busquets in der Nationalmannschaft ersetzen und der FC Barcelona will ihn für 60 Millionen Euro verpflichten“, sagt Mikel Recalde.

Wieso Xabi Alonso trotz all dieser Lobeshymnen seitens des Vereins nicht Trainer der ersten Mannschaft von Real Sociedad wurde? Es sei der falsche Zeitpunkt gewesen, erklärt Mikel Recalde. Imanol Alguacil, der aktuelle Trainer der ersten Mannschaft leiste zu gute Arbeit, um ihn zu ersetzen, sodass es nach drei Jahren der logische Schritt für Xabi Alonso gewesen war, den Verein zu verlassen. Sowohl dem Präsident Jokin Aperribay als auch Sportdirektor Roberto Olabe habe diese Entscheidung damals geschmerzt, doch „der Verein verabschiedete ihn mit einem klaren und wiederholten ‚Auf Wiedersehen‘, nicht mit einem endgültigen und geflunkerten ‚Auf Wiedersehen‘.“

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Ob man von Bayer Leverkusen unter Xabi Alonso nun mehr Rock ’n’ Roll oder Jazz sehen wird? Wahrscheinlich ein bisschen von beidem. Doch die Analogie, die passender scheint, ist der Jazz. Oft denken sich die Musiker dabei aus, was sie spielen. Sie improvisieren in dem Vorgegebenen Rahmen des Stücks, ein kontrolliertes Ausbrechen, sozusagen. Und genau das versucht Xabi Alonso als Trainer zu erreichen. Eine Ordnung vorzugeben, die Kontrolle gewährleistet, in der es aber die Spieler sind, die seine Vorgaben mit Leben füllen. Oder kann sich etwa irgendjemand vorstellen, dass Xabi Alonso Txakolin trinkend in seinem Wohnzimmer sitzt und Rock ’n’ Roll hört?

(Photo by ROBERTO PFEIL/AFP via Getty Images)


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