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Bayer 04 Leverkusen: Seoanes Kampf gegen das Klischee

2. September 2021 | Trending | BY Justin Kraft

Drei Spiele, zwei Siege, ein Unentschieden, Tabellenzweiter – Bayer 04 Leverkusen ist mal wieder gut in die Bundesliga-Saison gestartet. Der neue Trainer Gerardo Seoane greift auf viele bekannte Stärken des Teams in Leverkusen zurück, lässt aber auch schon seine eigene Handschrift erkennen. Aber die große Frage nach der Konstanz bleibt.

Bayer Leverkusen: Klischees werden bestätigt

Bayer 04 Leverkusen ist womöglich die Antwort auf die Frage, welcher Bundesliga-Klub seine Klischees am verlässlichsten bestätigt. Vizekusen, regelmäßiger Einbruch am Saisonende, Stagnation auf sehr hohem Niveau – so richtig will der Schritt nach oben nicht gelingen. Vom Gefühl her sind Borussia Dortmund und auch Leipzig zuletzt enteilt. Doch wird in dieser Saison alles anders?

Insgesamt zwölf Spieler hat Leverkusen in diesem Sommer abgegeben – nicht alle davon waren zuvor entscheidende Bausteine des Kaders, aber mit Leon Bailey, den Bender-Zwillingen, Aleksander Dragović, Tin Jedvaj und Wendell ging zumindest einiges an Erfahrung und/oder Qualität verloren.

Bailey Leverkusen

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Hinzu kommt, dass man nach dem etwas überraschenden Absturz unter Peter Bosz eine Lücke auf der Trainerbank zu füllen hatte, die Hannes Wolf als Übergangslösung nicht ausreichend besetzte. Doch in Leverkusen fand man für nahezu alle Baustellen charmante Lösungen.

Bayer 04 überzeugt mit klugen Transfers

Auf der Habenseite des Transfermarkt stehen gleich mehrere vielversprechende Talente. Die jüngste Errungenschaft: Amine Adli – ein offensiv flexibel einsetzbarer und technisch starker Spieler, der zwar aus der französischen Ligue 2 vom FC Toulouse kommt, dort aber bereits einige Top-Klubs auf sich aufmerksam machen konnte. Unter anderem den FC Bayern.

Auf der linken Außenverteidigerposition konnte Mitchel Bakker in den bisherigen drei Bundesliga-Partien zeigen, dass er mit erst 21 Jahren schon sehr reif agieren und sich offensiv klug einbinden kann. Vielleicht ist er sogar ein Upgrade zu Wendell, wenngleich er das erst noch auf Dauer beweisen muss. Der Königstransfer dieses Sommers ist aber Odilon Kossounou. Der 20-jährige Ivorer kam für über 20 Millionen Euro Ablöse aus Belgien. Beim FC Brügge stellte er unter Beweis, dass er der Qualität der Liga bereits entwachsen war. In der Innenverteidigung soll er neben Jonathan Tah Stabilität und Spielwitz reinbringen.

Leverkusen untermauert mit diesen Transfers den Status als attraktive Durchgangsstation für hochklassige Talente des Weltfußballs. Die Startelf des ersten Spieltags bei Union Berlin hatte ein Durchschnittsalter von 25,1 Jahren (Platz 9 im laufenden Wettbewerb), jene am 3. Spieltag war im Schnitt 24,8 und jene am 2. Spieltag 24,7 Jahre alt (Platz 2 und 1).

Um eine erfahrene Achse herum sollen sich junge Spieler entwickeln können. Ein Geschäftsmodell, das für viele Bundesligisten gerade in Coronazeiten unausweichlich ist. Leverkusen selbst erfuhr in den letzten Jahren oft genug die Kehrseite: Immer wieder stürzte die Werkself gegen Ende einer Saison ab. Unter Bosz sah es im vergangenen Jahr lange so aus, als würde man sogar um die Meisterschaft mitspielen können – am Ende stand ein mit viel Zittern erreichter sechster Platz zu Buche.

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Leverkusen: Seoane soll Erfahrung mit Jugend verbinden

Junge Spieler tendieren häufig zu schwankenden Leistungskurven. Und so wird in Leverkusen dieses Jahr auch wieder eine Frage sein, wer insbesondere die Bender-Zwillinge als Typen und Führungsfiguren ersetzen kann. Robert Andrich (26) wurde unter anderem dafür aus Berln-Köpenick geholt, Julian Baumgartlinger (33) muss jetzt ebenfalls noch mehr Verantwortung übernehmen. Auch Kerem Demirbay (28), Charles Aránguiz (32), Karim Bellarabi (31), Jonathan Tah (25) und Lukáš Hrádecký (31) werden in der Hierarchie des Teams auf und neben dem Platz eine wichtige Rolle spielen. Problematisch ist allerdings, dass einige von ihnen in den vergangenen Monaten und Jahren vor allem mit sich selbst zu tun hatten. Verletzungen, Formschwächen, fehlende Konstanz – so fällt es schwer, für junge Spieler ein Halt zu sein.

Leverkusen

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Deshalb kam im Sommer noch ein weiterer wichtiger Baustein: Trainer Seoane. Mit den Young Boys aus Bern wurde er dreimal hintereinander Meister, gewann einmal den Pokal. Den FC Basel distanzierte er mitunter deutlich. Seine Mannschaft spielte attraktiven, vertikalen und erfolgreichen Fußball, der sich durch ein direktes Spiel in die Spitze, aggressives Gegenpressing und viel Tempo auszeichnete.

Der Kader in Leverkusen scheint auf dem Papier zu ihm zu passen. In den ersten Spielen profitierten vor allem die Offensivspieler vom neuen Trainer. Moussa Diaby zeigte sich beispielsweise in Bestform, weil er von seinen Mitspielern immer wieder in gute Situationen für seine gefährlichen Dribblings gebracht wurde.

Durchbruch für Patrik Schick?

Auch Patrik Schick, der vor seiner starken Europameisterschaft als Verkaufskandidat galt, startet im Moment durch. Zwei Treffer in drei Spielen sind zwar noch nicht die herausragenden Werte, die andere Stürmer in der Bundesliga erzielen, aber sie sind auch nicht alles, woran man den Tschechen messen sollte. Schick ist sehr aktiv, beteiligt sich klug gegen den Ball und nimmt auch am Spiel mit dem Ball teil.

Seoane ist ein Trainer, der viel Wert auf ein kompaktes Zentrum legt. Dafür lässt er die offensiven Flügelspieler in Ballbesitz einrücken. Die eng besetzte Spielfeldmitte kommt Schick entgegen, weil seine Gegenspieler sich auch auf seine Mitspieler konzentrieren müssen. Dadurch gelingt es ihm immer wieder, sich davon zu schleichen und gute Abschlusspositionen zu finden. Wenn er an seiner Chancenverwertung feilen kann, wird er unter Seoane womöglich seinen endgültigen Durchbruch schaffen.

Doch zurück zum System: Nicht nur die einrückenden Flügelspieler unterstützen den Angreifer, sondern auch der aus der tiefe startende Demirbay, der eine Hybridrolle aus Zehner und hängender Spitze übernimmt. Die Lücken auf den Außenbahnen werden wiederum von sehr hoch agierenden Außenverteidigern übernommen, während den beiden Sechsern die Aufgabe zukommt, die verbliebene Restverteidigung zu unterstützen. Der Viererblock aus Sechsern und Innenverteidigern steht ebenfalls sehr kompakt, um bei Ballverlusten den Konter der gegnerischen Mannschaft zu verzögern.

Leverkusen unter Seoane: Mehr Tempo unter dem neuen Coach

Im Gegensatz zum Bosz-Fußball ist der Ballvortrag unter Seoane sehr direkt und vertikal. Gerade weil viele Spieler im letzten Drittel positioniert sind, versucht man, das Mittelfeld schnellstmöglich zu überbrücken. Auffällig ist, dass Leverkusen das Spiel um den Ball herum sehr eng macht, bei Angriffen über die Außenbahnen teils stark auf die Ballbesitzseite verschiebt. Das ermöglicht Passoptionen und einen direkten Zugriff im Gegenpressing.

Leverkusen Tor

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Können sich Mannschaften nach Ballgewinnen aber daraus befreien und schnell verlagern, wird es für die Werkself gefährlich. Gegen Union und Augsburg gab es einige Momente, in denen man hinten zu offen war. Seoane nimmt solche Situationen aber zugunsten einer durchschlagskräftigen Offensive in Kauf. Dennoch wird es spannend, wie stabil diese Ausrichtung gegen Mannschaften wie Bayern, Leipzig oder Dortmund sein wird.

Vorsichtiger Optimismus bei der Werkself

Bisher weiß Leverkusen aber auch deshalb zu begeistern, weil sie variabel agieren. Seoane weiß, dass er die notwendige Intensität für das schnelle Angriffsspiel und das hohe Pressing nicht über 90 Minuten, schon gar nicht über eine ganze Saison verlangen kann. Deshalb zeigte die Mannschaft vor allem bei Führung auch schon ein anderes Gesicht: Kontrollierten Ballbesitz- und Defensivfußball. Auch im tieferen 4-4-2 wusste die Werkself zu gefallen. Zwei Gegentore in drei Spielen lassen sich bei neun eigenen Treffern durchaus sehen.

Der Kader wird Seoane dabei helfen, das aktuelle Niveau noch lange aufrecht zu erhalten. Spieler wie Bellarabi, Alario, Wirtz oder Tapsoba kamen bisher noch gar nicht um Einsatz. Leverkusen verfügt über einen sehr breiten und von den Spielerprofilen her auch einen sehr ausgewogenen Kader.

Und doch wird die wichtigste Frage wie in jedem Jahr sein: Kann Seoane eine erfahrene und leistungskonstante Achse etablieren, die es ihm erlaubt, die Leistungsschwankungen der jungen Spieler aufzufangen? Fußballerisch, das haben die ersten drei Spiele gezeigt, zählt Leverkusen abermals zu den besten Teams des Landes. Aber kein anderer Klub hat es mit so hoher Verlässlichkeit in der Vergangenheit geschafft, dieses Potential in der Rückrunde vor die Wand zu fahren. Der Auftakt dürfte in Leverkusen aber zumindest für vorsichtigen Optimismus gesorgt haben.

 

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