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Kiel-Kapitän Hauke Wahl im Interview: „Dieses Spiel bleibt ein Leben lang in Erinnerung“

28. Januar 2021 | Trending | BY Marc Schwitzky

90PLUS-Interview | Der Name Hauke Wahl sagte manch einem Beobachter des Fußballs vor dem 13. Januar vielleicht noch nicht viel, der Sieg im DFB-Pokal gegen den FC Bayern München hat dies aber wohl geändert. Wahl traf in der 95. Minute zum 2:2, später verwandelte er auch seinen Elfmeter, Holstein Kiel kam weiter. Wir haben mit dem Kapitän über die dramatische Pokalsensation, die besondere Philosophie Kiels und seine prägendsten Trainer gesprochen.

Gestatten: Hauke Wahl (26), Mannschaftskapitän von Holstein Kiel, bereits über 200 Dritt- und Zweitligapartien auf dem Konto. Zwar hat Wahl noch keine Sekunde Erstligaluft schnuppern dürfen, doch blickt man auf die so positive Entwicklung der „Störche“ (Platz drei nach 18 Spieltagen) kann sich dieser Umstand noch ändern. 90PLUS-Redakteur Marc Schwitzky hat mit dem Innenverteidiger auf dessen bisherige Karriere mit dem Höhepunkt, den FC Bayern München aus dem Pokal geschmissen zu haben, geblickt. Ein Gespräch über Stefan Effenberg (52), Frank Schmidt (47), was Holstein Kiel ausmacht und wie es sich anfühlt, als Zweitligist den amtierenden Champions-League-Sieger zu schlagen.

Wahl über Zeit mit Effenberg: „Hat mir viel beigebracht“

Herr Wahl, Sie sind in Hamburg geboren, haben früh in Schleswig-Holstein gespielt und sind in Schwerin aufs Sportinternat gegangen – kurzum: Sie sind ein echtes Nordlicht. Relativ überraschend in Ihrer Vita liest sich dann der Wechsel in die U17 von Dynamo Dresden im Jahr 2010. Wie kam dieser Wechsel zustande und weshalb ging es nur zwei Jahre später zurück in den Norden zur U19 von Holstein Kiel?

Die U17 von Schwerin hat damals in der Regionalliga gespielt und ist abgestiegen. Und ich wollte persönlich den nächsten Schritt machen. Dresden hat in der Bundesliga gespielt, und deswegen bin ich dorthin gewechselt. Am Ende war ich dann nur eineinhalb Jahre dort. Ich hatte das letzte halbe Jahr nur noch wenig Spielzeit. Und ich habe mich dann generell nicht mehr so wohl gefühlt und wollte zurück in den Norden.

Sie erhielten 2013 bei Holstein Kiel Ihren ersten Profivertrag. Zwei Saisons lang waren Sie in der 3. Liga gesetzt. Es folgte im Sommer 2015 der erste Wechsel Ihrer Profilaufbahn zum SC Paderborn in die 2. Liga. Auch dort waren Sie von Anfang an Stammspieler, in einem Spiel sogar Kapitän. Der SCP hingegen erlebte allerdings eine schlimme Spielzeit, die als Tabellenletzter und mit dem Abstieg endete. Können Sie Ihre Gefühlswelt von damals erläutern? Schließlich ging es rein persönlich sportlich gut voran, der eigene Verein aber stürzte ab.

Das Jahr in Paderborn war für mich sehr aufregend und lehrreich. Aufregend, weil ich dort meine ersten Zweitligaspiele gemacht habe. Und lehrreich, weil in der Saison viel passiert ist und ich mit meinen jungen Jahren dort sehr viel lernen und für die Zukunft mitnehmen konnte, die mir bis heute helfen.

Foto: Sippel/Eibner-Pressefoto EP_RSL/IMAGO

Sie wurden damals von Trainer Markus Gellhaus geholt, im Oktober wurde dieser jedoch entlassen. Es folgte mit Stefan Effenberg eine echte Legende des deutschen Fußballs, der allerdings seinen ersten (und bislang letzten) Trainerjob im Profigeschäft annahm und den Abstieg des SC Paderborns nicht aufhalten konnte. Wie war es, mit Effenberg zusammenzuarbeiten und wieso war die Wende in der Saison einfach nicht möglich?

Es gibt in einer Karriere ja immer Trainer, die für Spieler etwas Besonderes sind. Ich hatte das Glück, das ich davon ein paar mehr hatte. Und Stefan Effenberg gehört definitiv dazu. Er hat mir Verantwortung übertragen, mich zum Vizekapitän gemacht. Und er hat mir bzw. uns gerade auch im mentalen Bereich und in der grundsätzlichen Einstellung viel beigebracht und seine Erfahrungen, die er selbst als Spieler gemacht hat,  z. B. was die eigene Fehlertoleranz angeht. Er hat gesagt, dass er acht Flugbälle ins Aus gespielt hat und den neunten trotzdem probiert. Ich bin sehr dankbar für diese Zeit.

Wahl: „Frank Schmidt war sehr wertvoll für meine Entwicklung“

2016 folgte der Wechsel zum FC Ingolstadt, bei dem Sie jedoch zunächst nicht Fuß fassen konnten und erst eine Saison später zum Leistungsträger wurden. Zwischenzeitlich wurden Sie für eine Halbserie zum 1. FC Heidenheim verliehen. Wie war es, unter Frank Schmidt, der dafür bekannt ist, Spieler weiterentwickeln zu können, zu spielen und gibt es eventuell Parallelen zwischen Heidenheim und Kiel – zwei Vereine, die durch gute Arbeit aus wenig viel machen?

Auch da habe ich sehr viel lernen können. Es war keine besonders erfolgreiche Zeit als Mannschaft und für mich persönlich hätte es auch deutlich besser laufen können. Aber auch von Frank Schmidt habe ich viel mitnehmen können. Viele Dinge, bei denen ich erst später erkannt habe, wie wichtig sie sind. Mentale Fähigkeiten, Menschlichkeit, Umgang untereinander. Auch das war sehr wertvoll für mich und meine Entwicklung.

Einen Vergleich zu ziehen zwischen Heidenheim und Kiel ist schwierig: In Heidenheim setzt man auf Kontinuität, vor allem beim Trainer und dem Stab. In Kiel spielt Kontinuität auch eine große Rolle, zwar hatten wir in den vergangenen Jahren einige Trainer, aber es wurde immer an der gleichen Spielphilosophie festgehalten.

Sie spielen bereits seit 2013 Profi-Fußball, zunächst in der Dritten Liga (62 Einsätze) und dann in der 2. Bundesliga (über 150 Einsätze). Inwiefern haben sich die Anforderungen (an Ihre Position, als Profi allgemein), auch Trainer-unabhängig, über diese Zeit verändert?

Ich glaube, dass früher nicht so viel Wert auf fußballerische Fähigkeiten gelegt wurde. Heute dagegen wird viel mehr über spielerische Ansätze gelöst, auch schon in der letzten Reihe.

Wahl: „Walter hat jeden Spieler besser gemacht“

2018 kehrten Sie zu Holstein Kiel zurück, auf Anhieb wurden sie Stammspieler und Führungskraft. Kiel ist 2017 in die 2. Liga aufgestiegen. Wie hat es der Verein geschafft, sich innerhalb einer so kurzen Zeit so schnell zu akklimatisieren und – mit Ausnahme vergangener Saison – immer oben mitzuspielen?

Die KSV steht seit Jahren für eine bestimmte Art von Fußball, unabhängig von den handelnden Personen. Und dafür wurden auch immer die passenden Spieler bzw. auch Trainer verpflichtet. Wir hatten zwar in jedem Sommer einen gewissen Umbruch, aber dennoch wurde immer ein Kern gehalten. Zwar hat der sich im Laufe der Jahre verändert bzw. sogar weiterentwickelt, aber eine bestimmte Achse ist über die Jahre immer geblieben.

Foto: IMAGO

Die Infrastruktur bei Holstein Kiel wurde oftmals öffentlich gelobt und gilt als verhältnismäßig sehr gut. Welche Rolle spielt das für einen Spieler bei der Entscheidung für einen Vereinswechsel und seiner Entwicklung? Ist die sehr gute Infrastruktur auch maßgeblich für den sportlichen Erfolg?

Bei der Infrastruktur hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan und der Verein hat kontinuierlich in die Rahmenbedingungen investiert. Letzten Sommer beispielsweise wurden die Trainingsplätze erneuert bzw. mit Rasenheizung ausgestattet. So haben wir auch jetzt im Winter gute Trainingsbedingungen. Die sind für unser Spiel sehr wichtig.

Tim Walter, von Juli 2018 bis Juni 2019 Cheftrainer, hat in Kiel die komplette Spielphilosophie auf den Kopf gestellt, gerade im Spielaufbau. Sie besaßen damals eine interessante Rolle als zentraler Innenverteidiger. Welche Rolle hat Tim Walter in ihrer persönlichen Entwicklung gespielt?

Eine sehr große. Seine Anforderungen an mein Innenverteidigerprofil, aber auch an die gesamte Mannschaft, waren so komplex und für alle neu. Da mussten wir uns erst einmal dran gewöhnen. Aber er hat mich definitiv besser gemacht. Und mir eine wahnsinnige Lust auf Fußball zurückgegeben. Es hat einfach immer Spaß gemacht, beim Training, im Spiel, in der Kabine. Er hat jeden Spieler einfach besser gemacht.

„Selbstbewusste Spielweise das Markenzeichen von Holstein Kiel“

Aber auch von Tim Walter unabhängig ist auffällig, dass die Störche Jahr für Jahr mit den besten Fußball der zweiten Bundesliga spielen. Man besticht dadurch, sich nicht vor Ballbesitz zu fürchten, intelligente Offensivspielzüge parat zu haben und klar für eine Idee von Fußball zu stehen. Das wurde unter allen Trainern in der bisherigen Zweitligazeit praktiziert, sei es Markus Anfang, Tim Walter, Andre Schubert oder aktuell Ole Werner. Wie wird diese Philosophie im Verein gelebt?

Der Verein legt sehr großen Wert auf diese offensiv ausgerichtete Spielweise und verpflichtet Trainer, die diese Philosophie mit Leben füllen bzw. Spieler, die in dieses System passen. Die mutige, selbstbewusste Spielweise spiegelt der Verein wider und ist gewissermaßen seit Jahren eins unserer Markenzeichen.

Die Stadt Kiel hat einen Handballverein, der ebenfalls nicht ganz unerfolgreich ist. Wie hat sich die Rolle der KSV in der Stadt in den vergangenen Jahren – vor allem jetzt, wo sogar ein Aufstieg in die Bundesliga nicht mehr komplett illusorisch ist – verändert?

Im Vergleich zu meiner ersten Zeit in Kiel ist die Aufmerksamkeit und die Fanbasis rund um Holstein Kiel deutlich gewachsen. Aber der THW und wir, wir sehen uns nicht als Konkurrenten. Der THW ist eine der besten Handballmannschaften der Welt, sind gerade wieder Champions League Sieger geworden. Da sind wir noch weit entfernt. Ich finde es total beeindruckend, dass in einer relativ kleinen Stadt zwei so große Vereine nebeneinander existieren und freundschaftlich verbunden sind.

Ole Werner hat Kiel „die richtige Balance“ gegeben

Im Mai 2020 bezeichneten Sie Ihr eigenes Team als „mit die dämlichste Mannschaft der Liga.“ Gemeint war damit, wie viele Punkte Kiel damals trotz guter Leistungen liegen ließ. Unter Ole Werner hat sich das geändert, nun spielt Kiel nicht nur ansehnlich, sogar erfolgreich. Nach 18 Spieltagen stehen Sie auf Rang drei. Wie bewerten Sie den bisherigen Saisonverlauf und was hat sich unter Trainer Werner noch einmal verbessert?

In der vergangenen Saison haben wir teilweise leichtfertig Punkte hergeschenkt, weil wir gerade in der Arbeit gegen den Ball in Schlüsselsituationen nicht konsequent genug waren. Daher haben wir in der Sommervorbereitung ein Hauptaugenmerk auf die Defensivarbeit und die richtige Balance in unserem Spiel gelegt. Wir stehen in dieser Saison defensiv stabiler, arbeiten als Mannschaft aufmerksam und konsequent gegen den Ball. Wir haben mit dem VfL Bochum die wenigsten Gegentore kassiert. Somit sind wir mit dem Saisonverlauf durchaus zufrieden.

Mit dem sensationellen Pokalsieg gegen den FC Bayern München hat Kiel zuletzt allerdings auch deutschlandweit auf sich aufmerksam gemacht. Sie haben in der 95. Minute für den 2:2-Ausgleichstreffer gesorgt, später Ihren Elfmeter verwandelt. Beschreiben Sie uns bitte die letzten Minuten dieser Partie.

Diese Momente sind natürlich unbeschreiblich und schwer in Worte zu fassen. Ich habe den Ball in der letzten Minute der regulären Spielzeit gar nicht richtig mit dem Kopf getroffen und hatte mich schon geärgert. Und dann sah ich, wie der Ball hinten ins Tor fiel und wir uns damit in die Verlängerung gerettet haben. Wie wir uns als Mannschaft 120 Minuten gegen die aktuell beste Vereinsmannschaft präsentiert haben und wie souverän und kaltschnäuzig wir dann das Elfmeterschießen gegen den besten Torwart der Welt absolviert haben, das hat glaube ich niemand von uns erwartet. Wir sind alle wahnsinnig stolz und glücklich, weil dieses Spiel jedem von uns ein Leben lang in Erinnerung bleiben wird.

(Photo by Stuart Franklin/Getty Images)

„Unser Matchplan gegen Bayern war nicht großartig anders als im „normalen“ Ligaalltag“

Selbst gegen Bayern München spielte Kiel mutigen Fußball, für den man belohnt wurde. Sie sagten nach dem Spiel, dass die Partie sogar leichter als manch Spiel in der 2. Bundesliga gewesen wäre. Können Sie das näher ausführen? Was waren die taktischen Vorgaben für das Spiel und wie sah die Ansprache vor Anpfiff aus?

In der Liga gibt es viele Mannschaften, die gegen uns tief stehen und uns kommen lassen, und wir dadurch nicht die Räume bekommen, um unser Spiel durchzuziehen. Da liegen uns Mannschaften, die selbst Fußball spielen wollen, mehr. Unser Matchplan gegen die Bayern war daher auch nicht großartig anders als im „normalen“ Ligaalltag. Wir wollten auch hier aus einer stabilen Defensive schnell umschalten, uns spielerisch Lösungen erarbeiten und so Torchancen kreieren.

Im Pokal den FC Bayern geschlagen, in der Liga weit oben. Was trauen Sie Holstein Kiel in der laufenden Saison noch zu und wo soll es in den kommenden Jahren noch hingehen – womöglich der Aufstieg in Liga eins?

Wir haben gerade eine Halbserie gespielt und tun gut daran, uns nicht mit „Was-wäre-wenn“-Szenarien zu beschäftigen, auch wenn das nach außen hin langweilig klingt. Wir stecken uns als Mannschaft eher kurzfristigere Ziele, für z.B. die nächsten Wochen. Und was am Ende dann dabei rauskommt, werden wir sehen.

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Marc Schwitzky

Foto: IMAGO

Marc Schwitzky

Erst entfachte Marcelinho die Liebe zum Spiel, dann lieferte Jürgen Klopp die taktische Offenbarung nach. Freund des intensiven schnellen Spiels und der Talentförderung. Bundesliga-Experte und Wortspielakrobat. Seit 2020 im 90PLUS-Team.


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