Spotlight

Gerardo Seoane und Bayer Leverkusen: Mehr als nur ein spannendes Projekt

7. Juni 2021 | Spotlight | BY Manuel Behlert

Spotlight | Viele Klubs in der Bundesliga gehen mit einem neuen Trainer in die Saison 2021/22. Das gilt auch für Bayer 04 Leverkusen, denn die Werkself verpflichtete Gerardo Seoane. Der Schweizer macht mit dem Wechsel in die Bundesliga einen logischen Schritt. 

  • Gerardo Seoane: Leverkusen-Wechsel als logischer Schritt
  • Von den Young Boys in die Bundesliga
  • Seoane fordert viel, kann eine Mannschaft entwickeln

Aus Bern nach Leverkusen: Das ist Gerardo Seoane

Wenn es einem Trainer gelingt, sich bei einem Team wie den Young Boys aus der vergleichsweise beschaulichen Schweiz in den Fokus vieler großer Klubs zu befördern, dann hat das eine gewisse Aussagekraft. Gerardo Seoane (42), geboren in Luzern, ist dies gelungen.

Eine schillernde Spielerkarriere legte der Schweizer nicht hin. Luzern, Sion, La Coruña, Bellinzona, Aarau und die Grasshoppers waren die Stationen von Seoane als aktiver Spieler. Erstmals in Berührung mit dem Trainerjob kam er 2013, als er beim FC Luzern die U18 übernahm. Dort schaffte er auch den Sprung zum Cheftrainer, über die U21 und den Co-Trainer-Job. Von Januar bis Juni 2018 saß er in Luzern als Trainer auf der Bank, überzeugte mit einem Punkteschnitt von 2,0 und wechselte zu den Young Boys nach Bern. 

In Bern angekommen schaffte es Seoane, die Phalanx von Branchenprimus FC Basel zu durchbrechen. Die Schweizer Liga dominierten die Young Boys, gewannen in der ersten Saison den Titel mit 20 Punkten Vorsprung. 2020/21, in der letzten Saison von Seoane in Bern, waren es gar 31 Punkte Abstand auf Platz zwei. Der Schweizer deklassierte die Konkurrenz und entwickelte eine eigene Philosophie, die er der Mannschaft näherbrachte. Schnell wurden auch die Einzelspieler besser, junge Spieler konnten zielgerichtet entwickelt werden. Seine Aufgabe in Bern ist nun vollendet, der nächste, logische Schritt folgt.

Gerardo Seoane: In Leverkusen nicht unbekannt

Und dieser Schritt führt Gerardo Seoane eben nach Leverkusen. Bayer 04 kennt den Trainer bereits, denn im Februar trafen sich die Werkself und die Young Boys in der K.O.-Runde der Europa League. Das Hinspiel in der Schweiz war ein Spektakel. Die Young Boys führten mit 3:0, ehe Leverkusen bis zum 3:3 herankam und das Spiel dennoch mit 3:4 verlor. Das Rückspiel in Leverkusen offenbarte dann die andere Seite der Seoane-Elf. Die Schweizer spielten abgezockt, gewannen mit 2:0 und zogen in die nächste Runde ein.

Photo by Imago2222

Im Zuge der großen Trainerrotation in der Bundesliga fiel der Name Gerardo Seoane gleich bei mehreren Klubs. Auch Eintracht Frankfurt hatte den Schweizer offenbar zumindest im Hinterkopf. Mitte Mai gab Bayer die Verpflichtung des 42-Jährigen, von dem man sich eine positive Entwicklung erhofft, bekannt. „Mit Gerardo Seoane wollen wir in der kommenden Saison wieder angreifen. Er ist dreimal in Folge mit den Young Boys Schweizer Meister geworden und hat 2020 auch den Pokalsieg geholt – und das mit einer attraktiven und offensiven Spielidee, die unserer Philosophie in Leverkusen sehr nahekommt“, teilte Bayer-Sportdirektor Simon Rolfes (39) seinerzeit in der Pressemitteilung mit. Die Ausrichtung ist also klar.

Mehr News und Storys rund um den internationalen Fußball 

Die Spielidee von Gerardo Seoane

Bei den Young Boys ließ Gerardo Seoane sehr häufig ein 4-4-2-System spielen. Das wirkt auf den ersten Blick nicht besonders spektakulär oder einfallsreich, ist es auf den zweiten Blick aber doch. Denn seine Mannschaft beherrschte dieses System nahezu perfekt. Und: Es konnte variiert werden. Auch eine Dreierkette gehörte zuweilen zum Repertoire, darüber hinaus konnten auch mit der Viererkette als Basis im Spiel nach vorne andere Formationen gewählt werden. Kurzum: Seoane setzt gerne auf Kontinuität, passt die Systematik aber an, wenn das Personal oder der Gegner ihn dazu zwingt.

Seoane Leverkusen

Photo by Imago

Von enormer Bedeutung im Spiel der Young Boys unter Seoane war die Wucht im Offensivspiel. Nun hatte er eine Mannschaft zur Verfügung, die den meisten Gegnern individuell überlegen war, was es leichter macht, einen derart immensen Druck zu erzeugen, dass die gegnerischen Abwehrreihen früher oder später kapitulieren mussten. Aber auch gegen hochklassige Gegner auf internationalem Parkett wusste seine Mannschaft insbesondere in Heimspielen zu gefallen. Der FC Valencia gewann nicht in Bern, Juventus wurde bezwungen und auch weitere, eigentlich überlegene Teams, hatten mit der Spielweise der Young Boys zu kämpfen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Geläuf in der Schweizer Hauptstadt, ein Kunstrasen, dazu beitrug, dass der Heimvorteil spürbar wurde.

Doch zurück zum Fußball, den Seoane gerne spielen lässt. In 148 Spielen als Trainer der Young Boys erzielte seine Mannschaft 323 Tore. Das gibt einen guten Einblick in die Grundprinzipien dieses Trainers. Es soll dominiert werden, der Gegner soll permanent attackiert werden und keine Ruhe im eigenen Aufbau haben. In seiner Zeit in Bern zeigte sich Seoane aber auch taktisch variabel. Natürlich waren es Grundprinzipien wie situativ aggressives Anlaufen, ein strukturiertes Spiel nach vorne und gerade im Zweistürmersystem ein Spiel über die Flügel mit vielen präzisen Flanken, die sich nahezu immer finden ließen. Doch vor allem im Gefühl der Überlegenheit, mit einem großen Vorsprung, versuchte der 42-Jährige viel, testete verschiedene Abläufe, um im Ernstfall auf alles vorbereitet zu sein. Der Schweizer versucht also, sein eigenes System und die Automatismen auf dem Platz permanent weiterzuentwickeln. 

Gerardo Seoane: Unauffällig neben dem Platz

Während seine Mannschaft auf dem Feld gerne einmal für Spektakel sorgt und Spiele mit vier, fünf oder gar mehr Toren keinesfalls eine Seltenheit sind, ist Gerardo Seoane neben dem Platz das genaue Gegenteil dessen, was auf dem Feld geschieht. Er ist ein angenehmer Gesprächspartner, kontert Provokationen mit einem Lächeln auf den Lippen und überlegt, bevor er Fragen beantwortet. Seine Akribie, die er in der Arbeit mit der Mannschaft an den Tag legt, ist kein Zufall.

„Um bereit zu sein für die komplexe Welt des Trainerdaseins, hat er Literatur, vor allem im Bereich Menschenführung, richtiggehend verschlungen und Kurse besucht. Kommunikation, Körpersprache,
sozialer Umgang – diese Dinge zählen enorm“, sagt Alain Kunz, Reporter des Schweizer Blick und Beobachter der Young Boys, über den neuen Trainer von Bayer Leverkusen. Ein gelassener, nach außen ruhiger Typ, der intelligent ist und mit einer enormen Akribie alle Facetten des Trainerjobs bestmöglich im Blick haben möchte, wechselt also zur Werkself.

Entwicklung, Spielidee, Ziele: Seoane in Leverkusen

Nun stellt sich unweigerlich die Frage, wie Seoane nach Leverkusen passt. Bayer 04 wünscht sich Kontinuität. Der Trainerstuhl in Leverkusen war zuletzt zwar kein Schleudersitz, wie er im Buche steht, aber Peter Bosz und Roger Schmidt waren mit 2 1/2 respektive knapp drei Jahren die längsten Amtsinhaber seit Michael Skibbe 2005-2008. Gerardo Seoane könnte ein Trainer sein, der in Leverkusen gemeinsam mit Sportdirektor Simon Rolfes (39) etwas aufbaut, den Klub konstant näher an die Spitze bringt. In Bern zeigte er, dass er mit bescheidenen Mitteln eine Mannschaft formen konnte, die international auch mit großen Teams mitgehalten hat. Der Faktor der ganzheitlichen Entwicklung des Vereins ist ohnehin ein wichtiger. 

Photo by imago

Dazu gehört auch die Entwicklung junger Spieler. Cedric Zesiger (22), Michel Aebischer (24), Nicolas Ngamaleu (26), Felix Mambimbi (20): Viele Spieler haben von Seoane profitiert. Er weiß diese Akteure genau so einzusetzen, damit sie ihre Stärken ausspielen können. Zudem moderierte er den Kader gut, rotierte viel, damit es keine Probleme im internen Bereich gibt. Dass Seoane mit Bayer 04 in der neuen Saison in der Europa League spielt und eben jene Möglichkeit zur Rotation hat, dürfte ihm zudem entgegen kommen. 

Ob der Schweizer auch in Leverkusen mit einem 4-4-2-System als bevorzugte Variante agieren wird, bleibt abzuwarten. Flexibilität ist Trumpf, das erkennt Seoane offenbar sehr gut. Bestehen einige Grundprinzipien und werden diese konsequent umgesetzt, ist die Formation per sé eher zweitrangig. Der Kader von Bayer Leverkusen bringt in jedem Fall vieles mit, um einen sehr guten und druckvollen Offensivfußball zu spielen. Florian Wirtz (18), Nadiem Amiri (24), Leon Bailey (23), Patrik Schick (25), Paulinho (20), Moussa Diaby (21): Ein Großteil der Offensive von Bayer ist sehr jung und noch entwicklungsfähig, was der neuen Spielidee zugute kommen kann. Zudem gibt es im Kader verteilt zahlreiche erfahrene Akteure, die für eine gute Mischung im Kader sorgen. Das war Seoane auch in Bern wichtig. 

Fazit: Seoane benötigt Zeit, bringt aber vieles mit

Bayer 04 Leverkusen kann sich auf einen Trainer freuen, der einen klaren Plan hat. Auf dem Platz, neben dem Platz und für den Verlauf seiner eigenen Karriere. Gerardo Seoane hat sich – ähnlich wie Adi Hütter vor dessen Wechsel zu Eintracht Frankfurt – in der Schweiz zu einem absoluten Toptrainer entwickelt. Das Interesse aus Deutschland ist keine Überraschung, sondern nur die logische Konsequenz sehr guter und akribischer Arbeit. Gleichzeitig ist ein Trainer, der in einem Verein gute Arbeit leistet, nicht automatisch für ähnlich gute Arbeit bei einem anderen Arbeitgeber geschaffen. Die Rückendeckung der Verantwortlichen und eine gewisse Geduld bei der Entwicklung und Implementierung des Spielsystems sind von enormer Bedeutung. 

Der Druck, die mediale Aufmerksamkeit und die Präsenz in der Öffentlichkeit sind bei einem Klub in der Bundesliga zudem von anderer Tragweite als es bei den Young Boys der Fall war. Dennoch sollten die lockere Art, die intelligente Interviewführung und die Tatsache, dass es schwierig ist, negative Aspekte rund um die Person Gerardo Seoane zu finden, dazu beitragen, dass der Trainer mit der neuen Situation gut zurecht kommt. Vor Amtsantritt stehen die Zeichen jedenfalls sehr gut, dass der 42-Jährige genau der Trainer ist, den man in Leverkusen seit geraumer Zeit sucht.

Photo by Imago

 

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


Ähnliche Artikel