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Nachspielzeit: Barca am Scheideweg

29. Juli 2017 | Spotlight | BY David Theis

Der wahnsinnigste Transfer des Sommers rückt immer näher: Neymar wird wohl den FC Barcelona gen Paris verlassen. Die Ablöse könnte sich wegen Barcas derzeit schlechtem Verhältnis zu PSG auf bis zu 222 Mio. Euro belaufen – das Jahresgehalt auf bis zu 30 Mio. Euro (laut L’Equipe). Doch die spannendere Frage lautet: Was wird nun eigentlich aus Barca? 

Suarez, Iniesta, Pique, Arda und Messi sind über 30 – Busquets und der nicht unumstrittene Rakitic gehen mit strammen Schritten darauf zu. Eigengewächse wie Mboula, Grimaldo oder Bellerin suchen ihr Glück im europäischen Ausland, während jüngere Neuzugänge wie Gomes, Digne, ter Stegen oder Alcácer bislang gar nicht oder nur teilweise belegen konnten, dass sie das Zeug für den Club mit den weltweit höchsten Ansprüchen an seine Spielkultur haben. Das Gleiche gilt für die zahlreichen (Ausleih-)Rückkehrer um Suarez (den Jüngeren), Deulofeu oder Munir. Schon ohne einen Abgang Neymars stünde Barca, das für sich in Anspruch nimmt, més que un club zu sein, vor einem gewaltigen Umbruch. Geht der seit langem als Kronprinz Messis auserkorene Superstar, könnten die Blaugrana vor einem Scherbenhaufen aus Rekordtransfers und einer verfehlten Nachwuchspolitik stehen.

König ohne Thronfolger

Neymar jedenfalls denkt gar nicht daran, Barcas nächste Clublegende zu werden. Das wirft Fragen auf, die weit über den sportlichen Aspekt seiner (Un-)Ersetzbarkeit hinausgehen: Als der FC Barcelona den damals 21-jährigen Brasilianer im Jahr 2013 holte, waren die Parallelen zu Lionel Messi bereits überdeutlich. Ein polyvalenter Halbstürmer, der irgendwann der große Ausnahmekönner werden sollte, dem sich alles Andere bei Barca spielerisch unterzuordnen hat – ein Thronfolger, wie einst Messi bei Ronaldinho. Womöglich war es aber genau diese (auch finanzielle) Nebenrolle, das „behutsame Aufbauen“, das einer in der Heimat bereits zum Idol gereiften Diva die Lust an der ganz großen Verantwortung geraubt hat. Es spräche Bände, was Neymars Charakter angeht – oder spricht es doch eher Bände bezüglich Barcas Umgang mit einem Spieler, der schon lange mehr ist, als nur ein Rohdiamant? Klar scheint jedenfalls, dass der beeindruckendste Fußballclub des vergangenen Jahrzehnts auf das falsche Pferd gesetzt hat – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Denn einen Plan B zu Neymar sucht man in Barcas aktuellem Kader vergeblich.

(Photo by DORU YAMANAKA/AFP/Getty Images)


Neymars Fußstapfen sind groß – doch Iniestas sind größer

Dass es Barca gelungen ist, einen so guten Sturm wie „MSN“ im eigenen Club zu versammeln, ist beeindruckend. Jedoch nicht so beeindruckend, wie der Umstand, dass das selbsternannte Zentrum europäischer Spielkultur in den letzten Jahren nicht eine auch nur halbwegs ernsthafte Alternative zu Andres Iniesta präsentieren konnte – und wollte. Spieler wie Rakitic oder Arda waren immer nur als Nebenmänner und Kaderergänzungen eingeplant. Der Club, dessen größte Innovation nicht das Glück, einen Messi zu haben, sondern der perfekte Spielaufbau durch Iniesta, Xavi oder Deco ist, hat seinen Fokus vom perfekten Zusammenspiel auf das perfekte Spiel teurer Individualisten verlagert. Vielleicht wollte man es dem großen Rivalen aus Madrid auch schlicht nicht gestatten, das einzige „galaktische“ Ensemble zusammenzukaufen. Doch es gibt immer den nächsten Investor, Getränkehersteller oder TV-Vertrag, der kurzfristig einen noch reicheren Club hervorbringt – und Individualisten den Kopf verdreht. Das Barca der Post-Guardiola-Ära hat den ausweglosen Versuch unternommen, ein globales Wettbieten zu gewinnen, anstatt auf Talente aus der eigenen Jugendakademie La Masia zu setzen. Spieler wie Pedro oder jüngst Mboula sind vor der übergroßen Konkurrenz geflüchtet, auf Bayerns Thiago – heute einer der besten Mittelfeldspieler der Welt – legte jenes Barca der Superstürmer keinen Wert. Bezeichnend, dass man die Rolle Iniestas, die Thiago perfekt hätte ausfüllen können, nun mit einem weiteren Riesentransfer zu schließen versuchte. Doch am Ende wechselt aller Voraussicht nach nicht PSGs Marco Verratti nach Barcelona, sondern Neymar in die entgegengesetzte Richtung.

„In den letzten beiden Saisons hat Barcelona offenkundig ein Kreativer im Mittelfeld gefehlt. Selbst mit Iniesta im Kader schien es den Katalanen an einem weiteren Gehirn im Zentrum zu mangeln.“ Alex Truica in Bleacher Report

Was passiert als Nächstes?

Ob mit Neymar oder ohne – Barca muss in die Zukunft investieren. Spielern wie Alcácer, Deulofeu oder Munir eine weitere Chance unter dem neuen Trainer Valverde zu geben, erscheint dabei sinnvoller, als die möglichen Neymar-Millionen sofort in einen weiteren Artisten wie Liverpools Coutinho zu re-investieren. Wenn schon ein Riesentransfer, dann bitte im Mittelfeld. Allein: Dort sind die Optionen rar. Verratti wird vorerst unerreichbar bleiben, Atleticos wohl Saúl ebenso. Vielleicht sollte sich Barca also um eine Übergangslösung wie Juves Pjanic oder Ander Herrera bemühen, während man die Neymar-Rolle vorerst intern besetzt – um im nächsten Jahr bei Ousmane Dembélé anzuklopfen. Eines scheint dennoch sicher: Alle mittelfristig offenen Planstellen im Kader wird man nicht mit großen Namen besetzen können. Sollte sich bei Suarez – oder noch schlimmer: Messi – doch demnächst einmal das Alter bemerkbar machen, wäre es gut, ein ganz auf Barcas Fußball hin ausgebildetes Talent in der Hinterhand zu wissen, so dass die großen Transfers dort getätigt werden können, wo es wirklich Not tut. Unabhängig davon ist es Barca zu wünschen, dass sein neuer Trainer den Blick wieder dorthin richtet, wo das eigentliche Herz des Vereins schlägt: Das Mittelfeld. Dort gibt es mit Spielern wie Aleña oder Roberto genügend Argumente für eine in Zukunft nachhaltigere Kaderplanung.

David Theis

War schon ein Fußball-Nerd bevor es Laptops gab. Schläft mit einer Ausgabe von "Der Schlüssel zum Spiel" unterm Kopfkissen. Seit 2017 bei 90PLUS.