Spotlight

Steaua Bukarest: Duckadam und das Wunder von Sevilla

12. Mai 2020 | Spotlight | BY Victor Catalina

Spotlight | In so gut wie jeder Saison gibt es in der Champions League eine Überraschungsmannschaft. Sei es Monaco 2017, Ajax 2019 oder Atalanta in dieser Saison. Im Jahr 1986 hieß diese Mannschaft Steaua Bukarest. Die Rumänen gingen den ganzen Weg bis ins Finale und holten gegen Barcelona den Titel. Hauptverantwortlich dafür: Torhüter Helmuth Duckadam.

Das Drama von Heysel ermöglicht das Wunder von Sevilla

Er brachte sie zur Verzweiflung, der große Mann mit Schnauzer im grünen Trikot. Der FC Barcelona hatte beim Finale des Europapokals der Landesmeister 1986 im Ramon Sanchez Pizjuan in Sevilla im erweiterten Sinne ein Heimspiel gegen Steaua Bukarest, also, zumindest eins auf heimischem Boden.

Es schien allerdings eines dieser Spiele für Barcelona zu sein. Sie drückten, machten und versuchten alles, doch das Tor war wie zugenagelt: Duckadam und seine Abwehr beantworteten alle Fragen, die Barcelona ihnen stellte. Dass es eine Mannschaft wie Steaua überhaupt so weit schafft, war zum einen ihrer Defensive geschuldet, zum anderen aber auch der entsetzlichen Dummheit einiger Liverpool-Fans im Vorjahresfinale.

1985 traf Liverpool im Finale von Heysel auf Giovanni Trappatonis Juventus. Das Spiel, das Michel Platini per Foulelfmeter entschied, geriet aber zur Nebensache. Schon mittags hatten alkoholisierte Fans randaliert, am Abend geriet das Geschehen nach und nach aus den Fugen, die beiden Fanlager wiegelten sich gegenseitig auf.

Die Liverpool-Fans standen in Block X des Stadions, der benachbarte Block Z war eigentlich für neutrale Fans reserviert, trotzdem fanden sich dort überwiegend Anhänger von Juventus ein. Zuerst bewarfen sich die Fans gegenseitig mit Steinen aus der maroden Stehplatztribüne. Später stürmten einige hundert Liverpool-Fans den Block Z. Was folgten waren buchstäblich Jagdszenen. Die Juventus-Fans wurden gegen eine Mauer gedrückt, die schließlich einstürzte. Es entwickelte sich eine Massenpanik. Zumindest gelang es einem Teil der Fans, sich durch den Druckabbau zu befreien. Trotzdem gab es mehrere Tote und etliche Verletzte. Die meisten starben an Erstickung oder den Folgen des Aufpralls an der Mauer.

(Photo by DOMINIQUE FAGET/AFP via Getty Images)

Nach Fußball war aufgrund dieser Szenen nur den wenigsten zumute. Trotzdem ließ die Polizei das Spiel aus Sicherheitsgründen stattfinden. Man wollte die ohnehin aufgeheizte Stimmung nicht noch weiter überkochen lassen. Viele Fernsehsender, darunter auch das ZDF, brachen ihre Übertragung aber nach der Massenpanik ab.

Die Heysel-Katastrophe und ihre Folgen

Das Ende vom Lied: 14 von 26 Hooligans bekamen Haftstrafen von bis zu drei Jahren. Dazu wurden alle englischen Klubs auf unbestimmte Zeit vom Wettbewerb ausgeschlossen. Diese Strafe wurde allerdings für fast alle Vereine nach fünf Jahren erlassen. Einzig Liverpool durfte noch ein Jahr länger schmoren. Auch Juventus sowie Belgiens Fußballverband wurden zur Rechenschaft gezogen.

Der Ausschluss der Engländer sollte die folgende Spielzeit 1985/1986 prägen. Denn angefangen mit der Saison 1976/77 gingen bis 1985 sieben der neun Titel auf die Insel: Vier nach Liverpool, zwei nach Nottingham und einer zu Aston Villa nach Birmingham. Lediglich dem HSV im Jahr 1983 und eben Juventus gelang es, die Hegemonie zu durchbrechen.

Steaua: Wie der Underdog aus dem Osten Europa eroberte

So lag es an den Underdogs, sich in der Saison 1985/86 zu zeigen. Steaua ging natürlich nicht zwingend als Favorit ins Rennen. Schließlich hatte bisher noch keine Mannschaft aus Osteuropa den Titel geholt, wenngleich Partizan Belgrad 1966 und Panathinaikos Athen 1971 das Finale erreicht haben. Es brauchte also einiges an Spielglück und Können, um sich gegen die Giganten aus dem Westen zu behaupten.

Die Mannschaft an sich war mehr oder minder der Prototyp dessen, womit die rumänische Nationalmannschaft gut ein Jahrzehnt später für Aufsehen sorgen sollte. Allerdings stieß der Superstar dieser Generation, Gheorghe Hagi, erst einige Jahre später zur Mannschaft. Es war praktisch eine goldene Generation in der Entwicklung.

Der erste Gegner, Velje BK aus Dänemark, war von überschaubarem Schwierigkeitsgrad. Nach einem 1:1 tankte Steaua mit einem 4:1 vor eigenem Publikum Selbstvertrauen. Das Achtelfinalspiel bei Budapest Honved verlor Steaua zwar 0:1, zuhause gab es aber erneut ein 4:1. Damit war klar: Die Mannschaft kann erstens mit Rückschlägen umgehen und zweitens ist sie ziemlich heimstark.

Und das entscheidende Quäntchen Glück hatte Steaua auch. Obwohl der FC Bayern, Barcelona und Juventus noch im Wettbewerb waren, ging es im Viertelfinale gegen Kuusysi Lahti. Wer sich eingehender mit Wintersport beschäftigt, dem dürfte der Ort in Südfinnland geläufig sein. Die Partien allerdings waren relativ ausgeglichen. Zum ersten Mal in dieser Saison gab es in Bukarest kein 4:1 sondern ein 0:0. Schließlich war es Victor Pițurcă, der in Minute 86 des Rückspiels die Seinen erlöste.

Lahti, Anderlecht und Barcelona: Steauas Weg zum Titel

Ferner setzte sich in dieser Runde Anderlecht gegen den FC Bayern durch, Barcelona eliminierte im Gigantenduell Titelverteidiger Juventus und IFK Göteborg gab Aberdeen das Nachsehen. Der damalige Trainer der Schotten sollte aber noch die ein oder andere Gelegenheit bekommen, den Pokal zu holen – mit Manchester United.

Mandatory Credit: Allsport UK /Allsport

Fürs erste aber musste Steaua nach Anderlecht und Barcelona nach Göteborg. Das Ergebnis dieser Runde: 3:0. Göteborg schlug Barcelona im Hinspiel 3:0, die Katalanen revanchierten sich mit demselben Ergebnis im Camp Nou. Letztlich besiegten sie die Schweden im Elfmeterschießen 5:4. Anderlecht gewann das Hinspiel dank eines Treffers von Enzo Scifo 1:0. Selbiger hatte per Doppelpack schon den FC Bayern eliminiert, nachdem die Münchener das Hinspiel noch 2:1 gewannen. Im Rückspiel drehte Steaua den Spieß aber um und schlug Anderlecht – genau – 3:0. Erneut erwies sich Victor Pițurcă als Mann für die großen Spiele, diesmal traf er doppelt. Dazwischen erhöhte Gavril Balint auf 2:0. Sie hatten es tatsächlich geschafft: Steaua stand im Finale und ein ganzes Land hoffte auf die wahrscheinlich größte Sensation in der Geschichte dieses Wettbewerbs.

Erst Einbahnstraße, dann Elfmeterschießen: Steaua schlägt auch Barcelona

Für beide Mannschaften ging es um den ersten Titel in diesem Wettbewerb. Es war von Beginn an klar, dass es für die Mannschaft von Emeric Jenei nur einen erfolgreichen Matchplan geben kann: Verteidigen. Verteidigen und Barcelona die Lust am Spiel nehmen. Noch dazu, weil die Katalanen – unter der Leitung des Engländers Terry Venables – in Sevilla praktisch ein Heimspiel hatten: Circa 50.000 Fans hielten es im Ramon Sanchez Pizjuan mit Blaugrana.

Die bekamen in den ersten Minuten Einbahnstraßenfußball ihrer Mannschaft zu sehen. Barcelona kam zu guten bis sehr guten Chancen, aber immer gelang es einem der Verteidiger, Belodedici, Bumbescu oder Bărbulescu, die Gabel reinzubekommen. Wenn nicht, kam eben der große Mann mit dem Schnauzbart und dem grünen Trikot zur Rettung: Torhüter Helmuth Duckadam. Die wahrscheinlich beste Chance für Barcelona vergab Bernd Schuster, als er am Elfmeterpunkt frei zum Kopfball kam und den Ball über die Latte setzte.

Je länger das Spiel dauerte, desto mehr traute sich auch Steaua nach vorne und sammelte einige Abschlüsse, unter anderem durch Mihail Majearu und László Bölöni. Ein Tor gelang ihnen allerdings nicht, so stand es nach 90 Minuten 0:0. Daran änderte sich auch in der Verlängerung nichts. Die nennenswerteste Aktion ereignete sich kurz vor Schluss, als Barcelona korrekterweise ein Tor aufgrund eines Handspiels von Francisco Carrasco aberkannt wurde. Kommentator Teoharie Coca-Cosma im rumänischen Fernsehen hat es sofort gemerkt: „Er hat den Ball mit der Hand gespielt. Das geht nicht, das ist nicht erlaubt, das ist nicht erlaubt! Das ist kein Tor, das ist kein Tor, das ist kein Tor! Sicher.“ Auch ihm war die Anspannung über das gesamte Spiel latent anzuhören.

Urruti und Duckadam glänzen im Elfmeterschießen

So musste die ultimative Klimax her: Das Elfmeterschießen.

Majearu machte für Steaua den Anfang – Barcelonas Torhüter Urruti hielt.

José Ramon Alexanko hieß der erste Schütze von Barcelona – er scheiterte an Duckadam. Coca-Cosma rief mit hoher Stimme einen Satz, den er im Laufe des Elfmeterschießens noch einige Male gebrauchen sollte: „Duckadam häääält!

László Bölöni trat für Steaua an – Urruti tauchte ins untere linke Eck ab und parierte.

So langsam durften sich die Zuschauer im Ramon Sanchez Pizjuan fragen, ob sie überhaupt noch ein Tor sehen würden. Diesmal lag es an Ángel Pedraza zu eröffnen – aber auch Duckadam hielt seinen zweiten Elfmeter.

Vier Elfmeter – alle gehalten. Es war teilweise surreal. Das Tor schien wirklich vernagelt zu sein – für beide. Bis Marius Lăcătuș zum Punkt schritt. Coca-Cosma schien schon eine Vorahnung zu haben: „Lăcătuș muss treffen, Lăcătuș wird treffen!“ Und tatsächlich: Er hämmerte den Ball kompromisslos unter die Latte. Wenn’s mit Gefühl nicht geht, dann eben mit Gewalt – 1:0 Steaua.

Gegen Göteborg hatte Barcelona nur einmal vergeben, hier hatten sie noch überhaupt nicht getroffen. Pichi Alonso dürfte daher schon wesentlich entspanntere Momente erlebt haben. Es lag nun an ihm, Barcelona auf die Anzeigetafel zu bringen – Duckadam verneint. Mit jedem gehaltenen Elfmeter wurde Coca-Cosmas Stimme gefühlt einen Halbtonschritt höher. Pichi Alonso schlich mit gesenktem Kopf von dannen.

Duckadam 4, Urruti 2: Steaua hat den Pokal

Klar war: Sollte Gavril Balint jetzt treffen, hat Steaua neun Finger am Pokal. Coca-Cosma: „Die vierte Runde wird Balint beginnen. Wir führen mit 1:0.“ Dieser nahm aus 16 Metern Anlauf. „Balint geht in Richtung Ball! Schuss und TOOOOOOR! 2:0!“

Marcos Alonso musste jetzt treffen. Ganz nebenbei: Ja, er hat einen Sohn gleichen Namens, der bei Chelsea unter Vertrag steht. Wieder ging Duckadam in die Knie, in der Hoffnung, dass selbige beim Gegner weich werden. Coca-Cosma: „Jetzt für Barcelona, wird den vierten Versuch aus elf Metern durchführen, der Spieler mit der Nummer 11: Das ist Marcos. Komm, Duckadam! DUCKADAM HÄÄÄÄÄLT! Wir sind im Finale! [sic!] Wir haben den Pokal gewonnen! Der Europapokal ist in Bukarest! Freude ohne Grenzen in den Reihen der Steaua-Spieler! Schauen Sie sich nochmal das zweite Tor an, den vierten Fehlschuss von Barcelona. Besser gesagt, die vierte überragende Parade von Duckadam. Steaua gewinnt den Europapokal der Landesmeister!“

Und sie stellten noch einige Rekorde auf: Zum ersten Mal gewann eine Mannschaft aus Osteuropa den Pokal der Landesmeister, die vier gehaltenen Elfmeter von Duckadam sind noch heute unübertroffen. Oliver Kahn kam 2001 im Finale gegen Valencia „nur“ auf drei. Petr Cech 2012 ebenfalls, aber einer dieser drei war aus dem Spiel heraus.

Sieger, Achtelfinale, Halbfinale, Finale: Steauas goldene Generation

Dazu gewann Steaua das Elfmeterschießen ohne Gegentor. In der darauffolgenden Saison nahm Anderlecht allerdings im Achtelfinale Revanche – und zwar auf den Franc genau. Es waren dieselben Ergebnisse wie im Halbfinale der Vorsaison, nur mit vertauschten Rollen: 3:0 Anderlecht im Hinspiel, 1:0 Steaua im Rückspiel. Der Titel ging letztendlich zum Leidwesen des FC Bayern nach Porto. Stichwort: Madjer.

Nach einem Halbfinalaus gegen Benfica schafften sie 1989 wieder den Sprung ins Endspiel. Wieder ging es nach Spanien, diesmal ins Camp Nou. Der Heimat jener Mannschaft, die sie drei Jahre zuvor noch besiegt haben. Diesmal stand auch ein 24-jähriges Toptalent namens Gheorghe Hagi in der Startelf gegen Milan. Half nur alles nichts. Denn Arrigo Sacchis Elf hatte zwei Bazookas namens Ruud Gullit und Marco van Basten im Sturm. Zweimal der eine, zweimal der andere, fertig war das 4:0. Nur zum Vergleich: Real Madrid schossen sie im Halbfinale 5:0 aus dem San Siro. Ja, sie waren damals wirklich so gut.

(Photo by Simon Bruty/Allsport/ Getty Images)

Danach ging der Bukarester Stern – nichts anderes bedeutet „Steaua“ – nach und nach unter. Im Achtelfinale der WM 1994 gelang es einigen der Beteiligten noch, mit der rumänischen Nationalmannschaft die Argentinier um Diego Simeone, Fernando Redondo und Gabriel Batistuta sensationell mit einem 3:2 nach Hause zu schicken.

Diese goldene Generation hat gezeigt, was mit Talent, einem guten Matchplan und viel Willen möglich ist. Und sie hatten den großen Mann mit dem Schnauzer und dem grünen Trikot, der Barcelona zur Verzweiflung brachte.

(Photo by PUNGOVSCHI/AFP via Getty Images)

Mehr News und Stories rund um den internationalen Fußball

Victor Catalina

Victor Catalina

Mit Hitzfelds Bayern aufgewachsen, in Dortmund studiert und Sheffield das eigene Handwerk perfektioniert. Für 90PLUS immer bestens über die Vergangenheit und Gegenwart des europäischen Fußballs sowie seine Statistiken informiert.


Ähnliche Artikel