Nun ist es seit geraumer Zeit amtlich: Der FC Bayern München und Carlo Ancelotti gehen getrennte Wege. Nach nicht einmal eineinhalb Jahren ist die Liaison zwischen dem Klub und dem Italiener vorbei. Die letzten Resultate, vor allem aber auch die Spielweise und ganz offensichtlich ein Zwist zwischen den Spielern und dem Trainer haben im Endeffekt zu dieser Entscheidung geführt.
Beim FC Bayern ist man sich einig, dass Willy Sagnol nur kurzfristig und interimsweise den Trainerjob übernehmen wird, schon am Ende der Länderspielpause könnte ein neuer Trainer feststehen, einen Wunschkandidaten scheint es ebenfalls zu geben. Doch der Reihe nach.
Entlassung aufgrund vieler Faktoren
Lässt man die internen Probleme, die Uli Hoeneß angesprochen hat, erst einmal außen vor und betrachtet primär die sportliche Situation, so entsteht zwar kein extremer „Problemfall FCB“, aber dennoch gibt es einige Dinge, die nicht gut liefen. In der vergangenen Saison gab es bereits ein auf und ab bei der Form, sehr gute Auftritte wechselten sich mit weniger guten ab. Schon hier wurden erste, zumindest etwas kritische Stimmen laut und auch während der Rückrunde analysierten wir bereits drohende Probleme aufgrund des anstehenden Umbruchs.
Insgesamt fehlte unter Ancelotti einfach eine fußballerische, taktische Weiterentwicklung. Man erkannte wenig neue Ansätze, legte weiterhin viel Wert auf Thiago als Spielgestalter, auf die Flügelzange mit ihrer individuellen Klasse und die Torjägerqualitäten eines Lewandowski. Gerade die defensiven Probleme mit zehn Gegentoren in den ersten zehn Pflichtspielen der Saison sind eine Tatsache, die man sich unter dem Italiener nicht vorgestellt hatte. Im Gegenteil, er sollte die Anfälligkeit bei Kontern, wie sie unter Guardiola vorhanden war, abstellen.

Stattdessen fällt es dem FC Bayern eher schwerer, das Spiel komplett zu kontrollieren und diese immense Dominanz auszustrahlen. Bezeichnend war, dass Paris Saint Germain am Mittwoch nicht einmal hervorragend spielen musste, um den FC Bayern mit 3:0 zu besiegen. Es reichte eine ordentliche, aber keinesfalls fehlerfreie Defensive, die den FCB auf die Außen zwang und schnelle Konter, die in vielen Situationen nicht einmal überragend herausgespielt wurden.
Nur Ancelottis Schuld? Nicht unbedingt
Natürlich ist der Trainer häufig das schwächste Glied in der Kette und wird als erstes abgelöst. Doch die Personalpolitik, für die sich auch die Verantwortlichen zu rechtfertigen haben, ist definitiv kritisch zu hinterfragen. Der Umbruch wird zwar angegangen, aber ist bisher noch nicht ideal gelöst worden. Die Lahm-Nachfolge als Rechtsverteidiger ist Kimmich, der bisher einer der besten Spieler in dieser Saison ist. Xabi Alonso wird vor allem charakterlich vermisst, Rudy überzeugt bisher fußballerisch, Tolisso spielt ordentlich, ist aber ein anderer Typ als Alonso.
Schaut man sich den Kader an, für den zweifelsohne mehrere Personen verantwortlich sind, fällt eine gewisse Dysbalance auf. Rudy ist quasi der einzige, richtige 6er (neben RV Kimmich), der strategische Aufgaben adäquat übernehmen kann und die Thiago-Entlastung durch James funktionierte bisher nicht, was nicht an James, sondern am Gesamtgefüge liegt. Auch auf den Außenbahnen stehen mit Robben, Ribery und Coman nur drei Spieler zur Verfügung, von denen zumindest die beiden erfahrenen regelmäßige Pausen benötigen und mit kleineren Blessuren zu kämpfen haben. Allerdings betonte Ancelotti regelmäßig, dass er mit dem Kader zufrieden sei, sodass nicht davon auszugehen ist, dass er vehement gegen diese Kadergröße protestiert hat.
Reißleine präventiv gezogen
Es ist wohl nicht denkbar, dass die Trennung von Carlo Ancelotti eine Kurzschlussreaktion war. Die letzte Wochen, die schwachen Spiele gegen Leverkusen, Anderlecht und Wolfsburg und vor allem die Aussagen der Spieler, die sehr angefressen wirkten, manche Dinge nicht kommentieren wollten, waren wohl ausschlaggebend für einen Denkprozess bei Hoeneß und Rummenigge. Man wollte offensichtlich die Reißleine ziehen bevor man Gefahr läuft, dass diese Risse innerhalb der Mannschaft gar nicht mehr zu kitten sind.

Zudem ist noch keine große Krise entstanden, vielleicht stoppt man durch diese Entscheidung diesen negativen Entwicklungsprozess sogar. Klar ist aber auch, dass sich Hoeneß und Rummenigge an die eigene Nase fassen und dass sie ihre Fehler erkennen und eingestehen müssen. Die Zukunftsausrichtung des Vereins muss so akribisch wie möglich geplant werden, Fehler dürfen in den kommenden Transferperioden kaum geschehen. Und dafür benötigt man Ruhe. Ruhe, die man bei weiteren dürftigen Leistungen unter Ancelotti nicht hätte generieren können.
Mehr Kompetenzen – Lahm mittelfristig Option?
Es kann keinesfalls schaden, wenn der Verein noch mit weiteren Kompetenzen ausgestattet wird. Philipp Lahm gab erst in einem kürzlich erschienenen Interview wieder bekannt, dass er ziemlich sicher in den Fußball zurückkehren wird und dass er beim FC Bayern „einige Dinge anders“ machen würde. Genau das fehlt dem Verein zurzeit. Ein Charakter, der die Dinge, die seiner Meinung nach falsch laufen, konkret anspricht und überdies noch Lösungen parat hat. Dass Lahm in der Lage ist weiterzudenken hat er in vergangenen Interviews bereits bewiesen.
Man muss sich bezüglich der Zukunftsausrichtung im Verein einig sein. Derzeit entsteht der Eindruck, dass Hoeneß sich primär auf die Jugendabteilung konzentriert, Rummenigge den Fokus auf die Vermarktung legt, beide punktuell aneinander vorbeireden und Hasan Salihamdzic vereinzelt gar nicht weiß, welchem Weg er auf welche Art zustimmen soll. Gerade nach dem Reschke-Abgang wirken die Strukturen nicht ganz klar, obwohl die Planungen, gerade in Sachen zukünftige Transfers, intensiviert werden sollten.
Entwicklungstechnische Aspekte
Es wäre unfair zu behaupten, dass unter Carlo Ancelotti beim FC Bayern vieles oder gar alles schlecht war. Es gab gute Ansätze, viele gute Momente, aber elementare Dinge kamen einfach zu kurz. Abgesehen von der Transferpolitik und der Ausrichtung für die Zukunft, sind fußballerische Aspekte zu kurz gekommen, die Priorität hätten genießen sollen. Einerseits geht es dabei natürlich um die defensive Stabilität, die bei diesen individuell hervorragenden Verteidigern hätte generiert werden müssen. Doch Abstimmungsfehler, ein nicht immer homogen wirkendes Defensivkonstrukt und die Stagnation einiger Spieler machten dies zunichte.

Die Stagnation ist ohnehin ein Thema. Alaba hat gerade in der Offensive zunehmend Probleme mit der Konstanz, aber Bernat, der viele gute Ansätze zeigte, durfte ihn offensichtlich nicht zu sehr unter Druck setzen, spielte nie über einen längeren Zeitraum. Auch Coman, der ein schwieriges erstes Jahr hatte und nun zu Saisonbeginn wieder bessere Leistungen zeigte, ist immer noch nicht auf dem Niveau der Saison 2015/16. Zudem scheiterte die Integration von Sanches, Müller durchlebte ein längerfristiges Formtief. All dies hätte womöglich verhindert oder zumindest behoben werden können. Insgesamt führten viele kleinere Probleme im Endeffekt zu einem größeren. Der FC Bayern wirkt wieder schlagbar – und zwar nicht nur von Europas Elite.
Was braucht die Mannschaft?
Gerade wenn man die von Hoeneß häufig betonten „wahnsinnigen“ Summen im Weltfußball nicht so mitgehen möchte, wie sie die anderen finanzkräftigen Verein mitunter bezahlen, muss man den Fokus auf Innovationen legen. Wenn die ganz großen Transfers ausbleiben oder nur ganz selten getätigt werden, stören entwicklungstechnische Schwierigkeiten natürlich umso mehr. Der FC Bayern benötigt einen innovativen Trainer, der die Mannschaft entwickeln, Spieler aus ihrer „Komfortzone“ herausbefördern kann. Einen Trainer, der Ideen hat, neues ausprobieren möchte und die fußballerische Entwicklung der letzten Jahre vielleicht sogar mitgeprägt hat.
Der Kader gibt trotz einiger Baustellen vieles her. Die Möglichkeiten sind groß, Ancelotti war im Endeffekt offenbar der falsche Mann zur falschen Zeit, was seine Leistungen in der Karriere nicht schmälern wird. Doch nun muss ein anderer Schritt unternommen werden, um entgegenzuwirken. Ein ähnlicher Trainertyp wie Ancelotti scheint ausgeschlossen. Und der FC Bayern wird einen Plan im Hinterkopf haben. Uli Hoeneß betonte, dass man nach der Länderspielpause eine neue Lösung präsentieren möchte. Vielleicht ist dies ja Thomas Tuchel.
(Manuel Behlert)
Eine neue Richtung
Sicher erscheint: Der FC Bayern hatte sich die Abkehr vom guardiola’schen Dominanzfußball deutlich anders vorgestellt. Pragmatischer wollte er sein – und womöglich auch ein Wenig stabiler. Doch Pragmatismus bedeutet immer auch: Taktische Flexibilität – doch die lässt der Rekordmeister (ebenso wie eine Verbesserung des defensiven Umschaltverhaltens) derzeit vermissen. Es stellt sich also für das Gespann Hoeneß/Rummenigge die Frage: Stellt man einen runderneuerten Kader für die Ära nach Alonso und Lahm sowie in Kürze Robben, Ribery und Vidal für einen Trainer mit einer recht starren Auffassung des Geschehens auf dem Rasen zusammen? Wohl eher nicht. Daher erscheint die Verpflichtung eines Trainertypen wie Tuchel geradezu logisch.
Der gebürtige Schwabe setzt vor allem auf polyvalente Spieler und fluide Spielsysteme: Er richtet die vom eigenen Team zu besetzenden Räume an den Stärken seiner besten Spieler sowie den Schwächen des Gegners aus und leitet daraus die Aufstellung ab. Und er liebt Spieler mit einem Gespür für gegnerische Strukturen und sich öffnende Räume. Ein FC Bayern ohne feste Rolle für Thomas Müller erscheint unter Tuchel jedenfalls nur schwer vorstellbar – immer vorausgesetzt, das jener „Raumdeuter“ zu alter Form zurückfindet. Grundsätzlich zählt er jedoch zum Kreis der Spieler, die sich über eine Verpflichtung Tuchels freuen sollten. So wie auch David Alaba. Denn ungeachtet der Tatsache, dass auch Borussia Dortmunds Ex nicht für bombenfeste Abwehrverbände steht, dürfte Österreichs Jahrhundert-Fußballer zu einem seiner Lieblingsspieler werden, käme eine Zusammenarbeit zustande.
Schluss mit den Flanken
Das 0:3 gegen PSG mag sportlich nicht lebensbedrohlich für den FC Bayern gewesen sein. Und doch reichte seine Signalwirkung, um einen (ehemaligen?) Weltklassetrainer sein Amt zu kosten. Sinnbildliche 36 Flanken (Paris schlug nur 4) untermauerten den hausbackenen Stil, für den Ancelottis Bayern standen. Nicht, dass der Rekordmeister unter ihm keine Tore erzielt hätte. Doch je älter (und verletzungsanfälliger) die großen Offensiv-Individualisten des Clubs werden, desto weniger kann sich ihr zukünftiger Vorgesetzter darauf verlassen, dass sie es schon richten werden, wenn das System versagt. Ein starkes Argument für einen Trainer, der stets den vielzitierten Plan-B zur Hand hat, wenn Plan-A scheitert.
Fraglos darf nicht verschwiegen werden, dass Tuchels B-Optionen beim BVB nicht immer gegriffen haben. Unbestritten ist jedoch auch, dass er immer eine taktische Anpassung zur Hand hatte, wenn er es für nötig befand. So oft gar, dass manche seiner Ex-Spieler sich im Nachgang beklagten, der Trainer habe ihnen zu viel Flexibilität abverlangt. Eine Ausrede, die man beim FC Bayern so wohl nicht hören wird. Gut für Tuchel.
Schubladentest bei Ribery (Test auf Kreuzbandriss).
— Martin Schneider (@MSneijder) 1. Oktober 2017
Zudem erscheint es als wahrscheinlich, dass vor allem Bayerns künftige Führungsspieler Alaba und Kimmich massiv von Tuchels Stil profitieren dürften. Ob aggressiv hinterlaufender Breitengeber in einer 4er-Kette oder verkappter 8-er vor einer 3-er-Abwehr: Die Außenverteidiger spielen bei Tuchel seit jeher eine große und vor allem modern ausgelegte Rolle. Und gerade sie sind es, die sich seit Guardiolas Abgang taktisch enorm zurückentwickelt zu haben scheinen. Eine große Verschwendung, betrachtet man das einmalig breite Fähigkeitenspektrum der beiden Genannten.
Bayern und der neue Markt
Die deutliche Niederlage gegen PSG hatte aber noch einen weiteren, allzu richtungsweisenden Aspekt: Will der FC Bayern seine Rolle im Herzen Fußballeuropas nicht verlieren, wird er einen gigantischen Wettbewerbsnachteil ausgleichen müssen. Denn sicherlich wird Deutschlands finanziell gesündester Club punktuell große Summen in strategisch wichtiges Personal investieren können. Doch das Ausgabenvolumen von Clubs wie PSG, Barca, Real Madrid oder den großen 4 aus der Premier League wird für deutsche Club mindestens mittelfristig unerreichbar bleiben. Von reichen Monarchen oder monströsen TV-Deals finanzierte Clubs haben die Einnahmen aus europäischen Wettbewerben quasi obsolet gemacht. Wer mithalten will, muss progressiv und erfinderisch denken. Ein starkes Argument für einen Trainer, der, ungeachtet seiner Unvollkommenheit, dafür bekannt ist, weit über den Tellerrand hinaus zu denken.
Was Mehmet Scholl wohl als „Laptop-Trainer“ diffamieren würde, ist also exakt, was es braucht, um aus dem FC Bayern wieder eine Marke zu machen – einen Club, der ausstrahlt, zu den innovativsten und strategisch geschlossensten seiner Zunft zu gehören. Eine Adresse, die einmalig gutes Arbeiten in einem Umfeld bietet, dass es so eben nur dort gibt. Denn bei allem Geld, das aus externen Quellen in den europäischen Fußball fließt: Es gibt nur einen begrenzten Fundus an wirklich erstklassigem Personal. Auch deshalb erwecken gewisse Clubs aus London oder Manchester trotz besten Spielermaterials nicht den Eindruck, ein Fußball-Franchise wie etwa Pep Guardiolas Barca oder José Mourinhos Chelsea (erste Amtszeit) zu sein. Wenn der FC Bayern diesen Umstand verinnerlicht und konsequent sportliche Kompetenzen aufbaut, wird er auch in Zukunft eine der Vorzeigeadressen des Weltfußballs bleiben.
Das große „Aber“
Durchdenkt man das Für und Wider einer Verpflichtung Thomas Tuchels, kommt man nicht umhin, seine Reibereien mit vorherigen Arbeitgebern zu beleuchten. Reduziert man diese – soweit bekannt – auf ihre wesentlichen Punkte, stechen vor allem zwei Dinge ins Auge, die das Arbeiten mit dem eigenwilligen Taktikexperten erschweren. Dumm, dass beim FC Bayern gleich beide gegeben sind.
Denn Tuchels Über-den-Tellerrand-Schauen schlägt ebenso regelmäßig ins Negative aus, wie seine immens hohen Anforderungen an das Verständnis der eigenen Spieler für die von ihm vorgegebene Marschroute. Heraus kommt dabei ein tief in den Aufgabenbereich sportlicher Kollegen wie Vorgesetzter ausgelebter Kontrolldrang (Stichwort: Transfers) sowie ein zuweilen enthemmtes Vorgehen beim Durchsetzen des eigenen Führungsanspruchs gegenüber der Mannschaft. Eigenschaften, die sich weder mit mächtigen Führungsspielercliquen, noch unerfahrenen, aber tief im Verein verwurzelten Verantwortlichen wie Sagnol oder Salihamidžić vertragen – und erst recht nicht mit den Egos von Uli Hoeneß oder Karl-Heinz Rummenigge. Auch Mats Hummels, der aktuell zum wiederholten Male der Stimmungsmache gegen Vorgesetzte verdächtigt wird, dürfte der Name Tuchel eher Bauchschmerzen bereiten.
Fazit
Der FC Bayern muss also in vielerlei Hinsicht umdenken. Ordnet man alles der sportlichen Innovation unter und gibt einem Ausnahmetrainer alle Werkzeuge, die er verlangt? Oder versteht man die eigene Marke weiterhin (nur) als Familienunternehmen, das von Ikonen wie Rummenigge, Hoeneß, Sagnol und Salihamidžić geführt wird – komme, was wolle? Es erscheint derzeit wahrscheinlicher denn je, dass die Handlungsmechanismen der Ära Hoeneß/Rummenigge, ungeachtet ihrer großen Erfolge, nur noch bedingt zukunftsfähig sein. Ein Querdenker, der sie in im sinnvollen Maße aufbricht, könnte dem FC Bayern gut tun. Das gilt jedoch nur, wenn man einen solch sperrigen Innovator nicht in eine Personallücke mit vorgefertigtem Profil hineinpresst. Ein Spagat, für den es leider sehr viel Fantasie benötigt – schaut man sich den FC Bayern 2017 aus der Nähe an.
(David Theis)