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Wie gut war eigentlich..? Teil 3: Marcelinho

25. März 2020 | Wie gut war eigentlich...? | BY 90PLUS Redaktion

Er stand für spektakuläre Tore und ständig wechselnde Frisuren, war zu seiner Blütezeit einer der schillerndsten Bundesligaspieler, spielte aber nicht nur mit dem Gegner, sondern auch mit seiner Karriere. Er war der vielleicht „beste Spieler, den Hertha jemals hatte“ (Zitat Michael Preetz) oder zumindest „der wichtigste Fußballer Herthas der letzten zwei, drei Jahrzehnte“ (Andreas „Zecke“ Neuendorf“). Die Rede ist von Marcelinho, der mit nun fast 45 Jahren seine Karriere beendet hat. Ein guter Zeitpunkt also, auf die wohl nie ganz ausgeschöpfte Karriere des Brasilianers zurückzublicken.

48,3 Meter zur Unsterblichkeit. Im Mai 2005 verewigte sich Marcelinho Paraíba in sämtlichen Bundesliga-Rückblicken, als er aus rund 50 Metern Freiburgs Torhüter Richard Golz überwand. Dieses atemberaubende Tor war Ausdruck der Genialität des damaligen Herthaner Spielmachers. Marcelinho dachte Fußball nicht nur besonders, er hatte auch die technischen Fertigkeiten, seine Einfälle entsprechend umzusetzen.

Ein Spieler, für den die Menschen ins Stadion gingen. Ein Spieler, dessen Namen und Rückennummer man auf seinem Trikot haben wollte. Ein Spieler, der – wie Stefan Hermanns vom Tagesspiegel so treffend schrieb – Kinder zu Hertha-Fans werden ließ. Und das nicht nur aufgrund dieses einen Tores.

Marcelinho: Von Anfang an Schlüsselspieler

Doch der Reihe nach. 2001 wechselte der damals 26-Jährige für eine in diesen Zeiten noch sehr stolze Summe von 7,5 Millionen Euro zu Hertha BSC. Highlight-Videos oder dergleichen gab es damals noch nicht, wirklich viel wusste man von dem Brasilianer also nicht. Zuvor hatte Marcelinho eine recht unauffällige Saison bei Olympique Marseille absolviert (21 Pflichtspiele, vier Tore, keine Vorlage). Hertha-Fans mussten also abwarten, was sich Manager Dieter Hoeneß von dem unbeschriebenen, aber immerhin recht teuren Blatt Papier versprach. 

(Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Der Mittelfeldspieler musste aber nicht lange Überzeugungsarbeit leisten, bereits in seiner ersten Spielzeit an der Spree wurde er zum wichtigsten Akteur der „alten Dame“. 17 Pflichtspieltore und acht Vorlagen gelangen ihm in seiner Debütsaison. Es sollten fünf weitere Saisons im blau-weißen Trikot folgen, in denen Marcelinho stets knapp an die oder weit über 20 direkte Torbeteiligungen verbuchte. In insgesamt 193 Pflichtspielen für Hertha sammelte Marcelinho 79 Tore und 60 Vorlagen – eine überragende Quote. Mit seinen 79 Treffern teilt er sich den vierten Platz in der ewigen Torschützenliste Herthas. 

Fußball und Samba

Doch das eine sind die nackten Zahlen, die bereits darlegen, welch überragender Fußballer Marcelinho besonders in seinen Zeiten bei Hertha war. Das andere war es aber, ihn spielen zu sehen – seine Klasse lässt sich nämlich kaum in seinen zugegebenermaßen beeindruckenden Zahlen bemessen. Berlins Sportler des Jahres 2005 war in seiner besten Phase wohl einer der Hauptattraktionen der Bundesliga und das absolute Prunkstück Berlins. „Ich spiele Fußball, seit ich laufen kann.

Anfangs Barfuß, denn der Ball bestand damals noch aus zusammengerollten Socken und Stutzen. Eines muss man bei Brasilianern beachten – ausschlaggebend für unser Spiel sind zwei Dinge, die nur Brasilien hat: Fußball und Samba. Beides zusammen ergibt etwas Besonderes“, beschrieb Marcelinho einst seinen von seiner Heimat sehr geprägten Spielstil. 

Und dass er wie viele seiner Landsmänner- und Frauen das gewisse Etwas, das man in keiner Akademie lernen kann, mitbrachte, war unverkennbar. Marcelinho zeichnete ein unfassbares Spiel- wie Ballgefühl aus, welches der Zuschauerschaft das Gefühl gab, er wüsste etwas über den Fußball, das den meisten anderen Spielern nicht bekannt sei – als habe er einen ganz besonderen Schlüssel zu diesem Spiel. Purer Instinkt, absolute Genialität und die dafür benötigen technischen Eigenschaften machten Marcelinho zum personifizierten Spielentscheider. Keiner bei Hertha streichelte den Ball so filigran, spielte Pässe so mathematisch genau und schweißte die Kugel – aus dem Spiel wie per direktem Freistoß – so unhaltbar ein. Hinzu kam eine beachtliche Dynamik, die ihn im Tempodribbling unaufhaltsam machte.

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

In Berlin galt das Gesetz: Hat Marcelinho einen guten Tag, hat die Mannschaft einen guten Tag – und umgekehrt. Es war sein Spielfeld, seine 90 Minuten Rampenlicht. Kaum einer strahlte solch eine Spielfreude und Präsenz aus. Man vergisst fast, welch starke Fußballer neben Marcelinho auf dem Feld standen. Arne Friedrich, Joe Simunic, Pal Dardai, Yildiray Bastürk, Niko Kovac oder Gilberto: All diese Spieler standen bei Hertha unter Vertrag, im Rampenlicht dennoch vor allem Marcelinho.

Man ließ den Freigeist einfach machen, weil man wusste, dass taktische Fesseln ihn nur limitieren würden und bei seinen Aktionen für gewöhnlich etwas Gewinnbringendes entsteht. Natürlich ging es aber auch nicht ohne die Mannschaftskollegen und so erlebte dieses Team die beste Zeit in der jüngeren Hertha-Historie: in den fünf Jahren mit Marcelinho erreichten die Blau-Weißen vier Mal Europa. „Berlin ist für mich wie eine zweite Heimat und Hertha ist der Verein, den ich am meisten geschätzt habe in meiner Karriere. Das waren traumhafte fünf Jahre“, sagte der Brasilianer der Bild am Sonntag.

Marcelinho: Auch neben dem Platz im Mittelpunkt

Und so sehr Marcelinho Hertha wie auch Berlin liebte, so sehr wurde er von dieser Stadt geliebt. Zum einen natürlich aufgrund seiner sportlichen Leistungen. Marcelinho war nicht nur die Galionsfigur der damals so spannend zusammengestellten Berliner Mannschaft, sondern ein echtes Aushängeschild der gesamten Liga. Zu dieser Zeit gab es in Deutschland nur wenige Spieler, die sich mit dem Spielmacher messen konnten und neben Giovane Elber hat kaum ein Brasilianer der Bundesliga stärker seinen Stempel aufgedrückt. Marcelinho wurde aber auch wegen seines Wesens geliebt. Auf dem Feld war er vielmehr ein Kind, das einfach nur kicken und den Menschen Freude bereiten wollte. Diese unschuldige Begeisterung am Fußball machte Marcelinho sympathisch und nahbar. 

Hinzu kam sein Dasein als echter Paradiesvogel. Marcelinho hatte mehr unterschiedlichfarbige Frisuren und Fußballschuhe in seiner Karriere als Jens Jeremies Zweikämpfe geführt. Da konnte es auch schon einmal passieren, dass sich der gute Herr die Deutschland-Flagge in sein Haupthaar färben wollte, am Ende aber leider die belgische Flagge dabei herauskam. Die verrückten Geschichten rund um den südamerikanischen Hallodri würden einen eigenen Text verdienen. Auch diese Eigenschaft machte Marcelinho bei den Fans nur umso beliebter. Marcelinho machte Hertha unterhaltsam, ohne ihn wäre das Image der „grauen Maus“ vielleicht schon viel früher haften geblieben.

Mit der Sorglosigkeit des Lebemanns kam jedoch auch eine gehörige Portion Unprofessionalität einher. Marcelinho hielt nicht viel davon, seine gesamtes Leben der nötigen Disziplin für seinen Beruf zu widmen. Nein, er war ein echtes Feierbiest. „Er hat hundertfach versprochen: Das war das letzte Mal. Aber dann kam das Wochenende …“, erinnerte sich Teamkollege Andreas „Zecke“ Neuendorf an dessen Partyexzesse. Regelmäßig kam Marcelinho spät zum Training.

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

An seinem Deutsch arbeitete er eher weniger intensiv und es hätte sich auch niemals gelohnt, ihm taktische Spielabläufe zu erklären – er hätte sie eh nicht befolgt. Aufgrund seiner Bedeutung für den sportlichen Erfolg aber auch dem Image Herthas ließen ihm die Verantwortlichen viel durchgehen. Nicht so aber die brasilianische Nationalmannschaft, für die Marcelinho trotz seiner Klasse nur sechs Spiele absolvierte. Nachdem er im Januar 2002 mit 1,27 Promille im Blut mit knapp 120 Stundenkilometern über den Kaiserdamm in Berlin gerast war, nahm ihn der damalige Nationaltrainer Luís Felipe Scolari nicht mit zur Weltmeisterschaft. Eigentlich war dies schon abgemacht, nachdem Marcelinho in der Qualifikation noch mit einem Treffer gegen Paraguay (2:0) dazu beigetragen hatte, dass sein Land bei diesem Turnier überhaupt vertreten war. 

Nach Hertha BSC: Noch 22 Stationen

Aber auch bei den Berliner Verantwortlichen riss irgendwann der Geduldsfaden. Als sich Marcelinho im Sommer 2006 unerlaubt zehn Tage mehr Urlaub gönnte, musste der Verein handeln und ihn notgedrungen verkaufen. „Das Herz sagt: Er hat uns große Momente gegeben. Das hat hier keiner vergessen. Aber er hat auch große Probleme gemacht. Rational gab es keine andere Entscheidung“, erklärte damals Manager Dieter Hoeneß seinen Handlungszwang. Vorbei war das gemeinsame Kapitel, das so viele schöne Seiten gefüllt hatte. Marcelinho war ohne Zweifel einer der größten Fußballer, die Berlin jemals gesehen hatte. Und auch wenn das Ende so plötzlich wie ärgerlich war, bleibt aufgrund seines großen Vermächtnis kaum ein fader Beigeschmack über.

Für gerade einmal 2,5 Millionen Euro Ablöse wechselte Marcelinho nach seinem Hertha-Aus zu Trabzonspor in die Türkei. Wirklich lange hielt er es dort nicht aus, nur ein halbes Jahr später hatte ihn die Bundesliga wieder. Zum VfL Wolfsburg hatte es ihn verschlagen, wo er eineinhalb Jahre bleiben und noch einmal recht beeindruckende Zahlen (50 Pflichtspiele, 30 direkte Torbeteiligungen) aufweisen sollte.

 (Photo by Stuart Franklin/Bongarts/Getty Images)

Nachdem im Sommer 2008 auch die Zeit in der Autostadt vorbei war, zog es Marcelinho zurück nach Brasilien. Zunächst spielte er noch für große Vereine – Flamengo, Coritiba, FC São Paulo – ehe es ihn immer weiter in die Provinz verschlug. Nach seiner Zeit bei Hertha folgten noch ganze 22 Stationen, insgesamt spielte Marcelinho für 25 verschiedene Profi-Vereine. Die meisten Fußballer beenden ihre Karriere mit rund 35 Jahren, doch er spielte noch ganze zehn Jahre länger. Zum einen, weil er das Spiel so liebte, zum anderen aber auch wegen stets präsenter Geldsorgen. 

„Marcelinho ist ein super Mensch – sehr freundlich und spendabel. Er hatte immer sehr viele Freunde um sich gehabt“, erzählte Arne Friedrich. Ein weiterer Beweis für sein großes Herz, das jedoch auch gerne ausgenutzt wurde. „Er hatte drei Wohnungen in Charlottenburg gemietet, für Angehörige und Kumpels aus Brasilien“, heißt es in einem Bericht der Süddeutschen Zeitung. Marcelinho war quasi nie ohne Entourage anzutreffen, hinzu kam sein großes Party-Gen. Nein, Marcelinho hielt wenig davon, bescheiden zu leben. Er lebte gerne auf großem Fuß, wurde einst sogar beinahe Besitzer einer Berliner Disko. Er leistete sich vergoldete Schnürsenkel für 4500 Euro und ließ seine Freunde immer wieder – wie man heute sagen würde – „Challenges“ für Geld annehmen. „Ich habe ein großes Herz und war sehr großzügig. Ich habe sehr viel Geld für Partys mit falschen Freunden ausgegeben. Viele waren nur so lange bei mir, wie ich das Geld verdient habe und ihnen etwas bieten konnte. Danach sind viele gegangen“, berichtete Marcelinho der Bild

Marcelinho: Es endete, wo alles begann

Auch nachdem Marcelinho in seine Heimat zurückgekehrt war, rissen die Schlagzeilen um ihn nicht ab. Vergewaltigungsvorwürfe, die sich später als Erpressungsversuch herausstellten, ein Schlaganfall mit 42, der ihn aber nicht davon abhielt, rund zwei Wochen später wieder auf dem Feld zu stehen. Wirklich ruhig wurde es ihm den alternden Fußballstar nie. Zusätzlich die allseits bekannten Geldprobleme. „Gott hat alles so gewollt. Ich habe gelebt. Andere sterben und haben ihr Konto voller Geld. Das Einzige, was ich bereue, ist das Leid, das ich meiner Frau und meinen Kindern zugefügt habe“, bilanzierte Marcelinho gegenüber dem Spiegel.

Mitte März sollte das 29 Jahre alte Abenteuer enden. Marcelinho, mittlerweile fast 45, schnürte ein letztes Mal die Fußballschuhe als aktiver Kicker. Der letzte Vorhang fiel in der Partie zwischen Marcelinhos Verein Desportiva Perilima in der regionalen Meisterschaft des brasilianischen Bundeslandes Paraiba gegen CSP Joao Pessoa. Zum Ende gab es noch einen Sieg, 2:1 hieß das Ergebnis. Der Ort, an dem Marcelinho ein letztes Mal den Schlusspfiff auf dem Feld ertönen hört, schließt den Kreis. „Es musste hier in Amigão sein, wo alles begann“, erklärte Marcelinho: „Ich habe in Campinense angefangen, ich war damals sehr jung, und habe im Paraiba-Meisterschafts-Finale gespielt, wo ich 1991 und 1993 Meister war. Jetzt bin ich am Ende einer erfolgreichen Karriere, die Dinge gehen sehr schnell. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Tag kommen würde, aber er ist gekommen.“

Dem Fußball bleibt Marcelinho natürlich erhalten – er könnte nicht ohne. Er ist bereits Mitglied des U20-Trainerstabs seines Vereins und möchte seinen Trainerschein machen. Hospitieren möchte er natürlich auch bei seinem ewigen Herzensverein Hertha BSC. „Wir wünschen ihm alles Gute bei seiner neuen Aufgabe. Er ist hier immer willkommen“, ließ Michael Preetz bereits verlauten. Schaut man auf die Karriere Marcelinhos zurück, wird man das Gefühl nicht los, dass mehr „drin“ gewesen wäre. Mit eisenharter Disziplin und einem besseren Umfeld hätte der Ausnahmekönner zweifelsfrei eine noch viel größere Karriere haben können. Aber es ist wie es ist. Dies ist seine Geschichte gewesen und sie ist eindeutig eine besondere gewesen. „Heute ist alles sehr gut, ehrlich. Ich habe echten Frieden gefunden.“

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Marc Schwitzky

 (Photo by Stuart Franklin/Bongarts/Getty Images)


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