Europa League | Eintracht Frankfurt gegen die Rangers – Ja, ein Jahrhundertspiel
18. Mai 2022 | Vorschau | BY Florian Weber
Vorschau | Eintracht Frankfurt trifft im Finale der Europa League auf die Rangers. Eines der beiden Teams wird seinen größten Triumph seit fast einem halben Jahrhundert feiern. Über 100.000 Fans werden in Sevilla erwartet.
Jahrhundertspiel. Ein Begriff, der inflationär genutzt wird und deswegen eigentlich zu meiden ist. Aber das Europa-League-Finale zwischen Eintracht Frankfurt und den Glasgow Rangers im Estadio Ramón Sánchez Pizjuán in Sevilla ist nichts anderes als das: Ein Jahrhundertspiel für die Eintracht, die Rangers und alle Fußballromantiker.
Eine Stadt wird stillstehen
Irrsinn beschreibt wohl am besten, was am Mittwochabend in Sevilla vor sich gehen wird. Mehr als 50.000 Frankfurter und 70.000 Schotten werden erwartet, obwohl das Stadion nur etwas mehr als 40.000 Zuschauer fasst. Die Zahlen könnten sogar noch höher ausfallen, genauer wird das erst am Spieltag selbst zu bestimmen sein. Einfache Hotelzimmer kosten über 1000 Euro. Es wird, egal wie das Finale endet, ein Moment für die Ewigkeit.
Oliver Glasner versuchte im Vorfeld zu beruhigen. Man solle das Spiel nicht größer machen als es ist. Doch tut das überhaupt jemand? Oder ist ein Spiel, in dem es um den ersten internationalen Titel seit 42 Jahren geht schlicht so riesig, wie es vielerorts erscheint? Damals, 1980, gewann Eintracht Frankfurt den UEFA Pokal. Die Torschützen im Finale: Harald Karger, Bernd Hölzenbein und Fred Schaub. Die Glasgow Rangers triumphierten international ein einziges Mal vor 50 Jahren. 1972 reckten sie den Europapokal der Pokalsieger in die Höhe. Colin Stein und Willie Johnston trafen für die Schotten. Nun wird einer der beiden Klubs einen weiteren Pfeiler in die Klubgeschichte schlagen. Und der Stellenwert dieses Titels ist auf beiden Seiten grenzenlos.
Thomas Kilchenstein, der die Eintracht seit Jahrzehnten für die Frankfurter Rundschau beobachtet, sagt: „Der Titel wäre ein Quantensprung für den Verein, was Strahlkraft, Sichtbarkeit und Reputation ausmacht. Er würde den Klub in eine andere Dimension katapultieren.“ Für die Rangers wäre der Titel nicht weniger bedeutsam. „Es wäre ein monumentaler Sieg für die Rangers und würde ihren Titel 1972 in den Schatten stellen. Es wäre wohl der größte Erfolg, den ein schottischer Verein jemals erringen würde“, so Journalist und Rangers-Experte Chris Jack.
Die Trainer: Glasner und van Bronckhorst – Liebe nach nur einer Saison
Einen gewichtigen Part, wieso die beiden Klubs vor dieser historischen Gelegenheit stehen, fällt den Trainern zu. Oliver Glasner auf Seiten der Eintracht, Giovanni van Bronckhorst bei den Rangers. Beide heuerten erst vor respektive während der laufenden Saison bei ihren Teams an. Und die Fußstapfen, in die beiden traten, waren gigantisch. Glasners Vorgänger Adi Hütter war bei den Fans und innerhalb des Teams hochangesehen, van Bronckhorsts Vorgänger Steven Gerrard lag nach der Meisterschaft im letzten Jahr der Klub zu Füßen.
Beiden – Glasner und van Bronckhorst – gelang es allerdings, aus den langen Schatten ihrer Vorgänger herauszutreten. Die mitreisenden Europa-Pokal-Abende euphorisierten. Die Energie dieser Abende entsteht einmal aufgrund des Moments: Der Zauber des Internationalen, die Magie der Flutlichter, die Faszination des Außenseitertums. Aber auch durch die Art, wie beide Teams spielten.
Die Taktik: Der Kampf darum, den Ball nicht zu haben
Sowohl die Rangers (47% durchschnittlicher Ballbesitz) als auch die Eintracht (48% durchschnittlicher Ballbesitz) überließen die Hoheit über den Ball am liebsten dem Gegner. In zwei Aspekten des Spiels fühlen sich beide Teams besonders wohl: Wenn sie hoch und intensiv pressen sowie wenn sie blitzschnell über die Flügel umschalten. (80% der Rangers-Angriffe und 72% der Eintracht-Angriffe kommen über die Flügel)
Zu erwarten ist deshalb ein zweikampfintensives und zuweilen wildes Spiel. Es sei denn, eines der Teams weicht von seinem üblichen Europa-League-Matchplan ab. Höhere Ballbesitzwerte und geduldigere Passkombinationen wären für die Rangers nicht ungewöhnlich. „In der schottischen Premiership sind sie immer die dominierende Mannschaft. Dort sind sie in der Regel eine Mannschaft, die mit viel Ballbesitz umgehen muss. Sie verfügen über talentierte Spieler im letzten Drittel, die immer in der Lage sind, die Abwehr zu überwinden“, sagt Aidan Smith, der die Rangers für den schottischen Herald und die Glasgow Times begleitet.
Eine solche Herangehensweise könnte den Frankfurtern entgegenkommen. Probleme könnte es ihnen allerdings bereiten, wenn die Rangers wie im Halbfinalrückspiel gegen RB Leipzig auf viele lange Bälle und ein intensives Mittelfeldpressing setzen. Beim Verteidigen von langen Bällen habe die Eintracht in dieser Saison ihre Probleme gehabt, sagt Kilchenstein. Sie seien oft unsortiert. Die Raumaufteilung für die zweiten Bälle teilweise eigenartig.
Zudem fehlt mit Martin Hinteregger ein Spieler, dessen Präsenz den Frankfurtern genau in solchen Situationen enorm helfen würde. „Er wäre prädestiniert gewesen für die vielen Kopfballduelle“, sagt Daniel Schmitt, der die Eintracht ebenfalls für die Frankfurter Rundschau begleitet. „Vertreter Tuta ist diese Rolle ebenfalls zuzutrauen, er bringt ein gutes Kopfballspiel mit, allerdings wird er in Sevilla überhaupt erst das dritte Pflichtspiel in der Rolle als zentraler Mann der Dreierkette absolvieren.“ Eine mögliche Schlüsselpersonalie.
Die Schlüsselspieler: Filip Kostic gegen James Tavernier
Die wahren Schlüsselspieler sind für Thomas Kilchenstein aber zwei andere. Kevin Trapp müsse an seine überragende Form der letzten Wochen anknüpfen. Der andere entscheidende Spieler sei Daichi Kamada. „Wenn er seinen Flow findet, seine Ideen auf den Platz bringen kann, wäre das ein enormes Plus für die Eintracht. Aber oft ist er halt auch ein bisschen phlegmatisch“, sagt Kilchenstein. In der Europa League spielte der Japaner in dieser Spielzeit stets fantastisch. Dies sollte den Frankfurtern Hoffnung machen.
Zumal die Rangers personell arg geschwächt sind. Filip Helander, Ianis Hagi and Alfredo Morelos werden in Sevilla fehlen. „Allesamt wären Kandidaten für die erste Elf gewesen und werden den Rangers fehlen“, sagt Christopher Jack. Zurückkehren könnte allerdings ein alter Bekannter aus der Premier League: Aaron Ramsey.
All diese Spieler können den Unterschied machen, das absolute Schlüsselduell wird jedoch ein anderes sein, da sind sich die vier Experten einig. Nämlich das zwischen Filip Kostic, der bei der Eintracht über links attackieren wird, und James Tavernier, der bei den Rangers über rechts kommt. Beide scheinen schier unendlich ausdauernd zu sein, beackern ihre Flügel unermüdlich und kreieren die meisten Torchancen ihres Teams. (Filip Kostic spielte 2,1, James Tavernier 1,5 key passes pro Spiel) Tavernier führt als Rechtsverteidiger gar die Torschützenliste der Europa League mit sieben Treffern an. Es wird das Aufeinandertreffen zweier der gradlinigsten Spieler Europas. Wer wird den Offensivdrang des Anderen ausbremsen können, ohne sich dabei selbst zu sehr aus der eigenen Offensive herauszunehmen? Das wird mitentscheidend für den Ausgang des Spiels sein.
Welcher Spieler wird der Willie Johnston oder Bernd Hölzenbein des Jahres 2022, welches Team wird seine unvergessliche Saison mit dem Europa-League-Pokal krönen und 15 Millionen Euro Startgeld für die Champions League bekommen? Ein denkwürdiger Fußballabend wird am Mittwochabend Antworten liefern.
Alle Statistiken stammen von whoscored.com.
(Photo by Ian MacNicol/Getty Images)