Expertenrunde vor der EM 2021: Titel für England „wäre kein Schock“

11. Juni 2021 | Trending | BY 90PLUS Redaktion

Die EM 2021, die eigentlich bereits im vorigen Jahr stattfinden sollte, steht nun endgültig vor der Tür. Mitgebracht hat dieses Turnier einige offene Fragen. Wie weit ist die DFB-Elf, was macht die Favoriten zu eben jenen und welcher Spieler kann diesem Turnier seinen Stempel aufdrücken?

Diesen Fragen wollen wir nachgehen. Dafür hat unser Redakteur Manuel Behlert mit den Experten Martin Schneider (Süddeutsche Zeitung), Sebastian Wolff (Kicker) und Ronan Murphy (Goal England) gesprochen! 

Deutschland bei der EM 2021: „Jede Menge Variationsmöglichkeiten“

90PLUS: Zunächst richtet sich der Blick bei der EM 2021 auf die deutsche Nationalmannschaft. Bundestrainer Joachim Löw hat für sein letztes großes Turnier einen guten Kader zusammengestellt. Ja, es gab Überraschungen, aber vieles konnte so erwartet werden. Wie fällt euer Fazit zum Kader aus und was trauen Sie der DFB-Auswahl bei diesem Turnier zu?

Sebastian Wolff: Der Kader hält jede Menge Variationsmöglichkeiten bereit wie die letzten Eindrücke der Vorbereitung unterstreichen: Löw kann und wird gegen offensivstarke Gegner mit einer Dreierkette verteidigen. Und er kann Joshua Kimmich rechts defensiv wie auch zentral aufbieten. Ähnlich variabel ist er in der Offensive, wo nach der eher überraschenden Nominierung von Kevin Volland nun auch der vermeintlich klassische Mittelstürmertyp vertreten ist, obwohl auch er in Monaco oft hinter der Spitze agiert hat. Generell gilt, dass insbesondere von den Angreifern nahezu jeder sowohl auf der Außenbahn als auch im Zentrum spielen kann. Das kann fraglos ein Faustpfand im Laufe eines Turniers werden. Dennoch ist die deutsche Elf für mich nicht zu den Favoriten zu zählen. Das gilt für das Turnier im Gesamten, aber auch bereits für die sehr anspruchsvolle Gruppe.

EM 2021 DFB

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Martin Schneider: Der Kader, oder vielmehr die Qualität des Kaders ist ja nicht das Problem – es sind ja diverse Champions-League-Gewinner der vergangenen zwei Jahre dabei. Die individuelle Qualität war ja auch in Russland bei der WM nicht der Punkt. Sondern das Zusammenspiel beziehungsweise die Komposition der ersten Elf. Und da bin ich mir noch nicht so sicher, wie sich das alles im Detail auflöst, vor allem, wie Löw das Zentrum defensiv schließen will, wenn da wirklich Ilkay Gündogan und Toni Kroos spielen. Was ich den Deutschen zutraue? Ich glaube, sie kriegen es irgendwie hin, vier Punkte in dieser Gruppe zu holen und das reicht dann ja fürs Weiterkommen. Und ab der K.o.-Runde ist man eh in der Hand des Turnierbaums – könnte gut sein, dass erfolgreiche Spiele gegen Frankreich und Portugal Selbstvertrauen geben.

Geheimfavorit Belgien: „Von Vorteil könnte sein, dass die Eckpfeiler weiter gereift sind“

90PLUS (Frage an Ronan Murphy): England ist wieder einmal eine der Nationen, denen man viel zutrauen kann. Die Three Lions haben eine hochtalentierte Mannschaft, doch der Kader wirft auf die ein oder andere Frage auf. Was kann man von England erwarten?

Ronan Murphy: Von England wird viel erwartet, vor allem angesichts der Fülle an jungen Offensivoptionen, die sie haben. Es gibt einige Zweifel über die Tiefe des Mittelfelds, da Southgate so viele Verteidiger in seinem Kader ausgewählt hat. Zudem fragten sich einige Fans, ob Southgate ideal ist, wenn es darum geht, das Optimum aus dem Kader herauszuholen. Das Erreichen der K.o.-Phase ist das Mindeste, was sie erwarten können. Aber es wäre kein Schock, wenn England sein erstes Turnier seit 1966 gewinnen würde.

90PLUS: Die belgische Auswahl befindet sich seit einer gefühlten Ewigkeit an der Spitze der Weltrangliste und gehörte bei den letzten Turnieren immer zum Kreis der Geheimfavoriten. Der große Wurf gelang jedoch nicht. Hat Belgien mit Eden Hazard, Kevin de Bruyne, Romelu Lukaku, Youri Tielemans und co. diesmal die „perfekte“ Mischung, um eine sehr gute Rolle in diesem Turnier zu spielen?

SW: Tatsächlich gibt es eine Diskrepanz zwischen des Resultaten der Belgier in den „normalen“ Länderspielen und ihrem Abschneiden bei den großen Turnieren. Allein von der Kaderbesetzung her hat das Personal auch in der Vergangenheit schon mehr hergegeben. Von Vorteil könnte sein, dass die Eckpfeiler weiter gereift und nun mit den Erfahrungen der schmerzhaften Niederlagen am genau richtigen Punkt für den großen Wurf angekommen sind. Deutschland war 2010 ebenfalls bereits qualitativ hochwertig besetzt, aber eben erst vier Jahre später auch „reif“ für den großen Wurf.

RM: Belgien hat enorm von der Art und Weise profitiert, wie sie sich nach früheren Turnierenttäuschungen für einen Neuaufbau entschieden haben. Das Ergebnis ist, dass die Spieler zusammengewachsen sind und eine gute Chemie aufgebaut haben. Die Auslosung ist günstig und sollte helfen, frühe Siege einzufahren. Das dürfte ihnen das Selbstvertrauen geben, weit zu kommen.

MS: Stopp! Ich würde die WM in Russland mit dem Sieg im Viertelfinale gegen Brasilien durchaus als großen Wurf bezeichnen. Belgien ist dann knapp an Frankreich gescheitert und WM-Dritter geworden – das ist schon nicht so schlecht. Diesmal haben sie eine unangenehme Gruppe, sie werden in jedem Spiel Favorit sein – aber eben auch weiterhin enorme Qualität.

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Heimvorteil durch die Zuschauerrückkehr?

90PLUS: In den vergangenen Jahren war der „Heimvorteil“ und dessen immer geringer werdende Effekte ein häufiges Thema. Nun tragen einige Teams ihre Vorrundenspiele (und vielleicht mehr) vor heimischer Kulisse aus. Glauben Sie, dass nach der langen Abstinenz von Zuschauern ein Spiel vor den „eigenen“ Fans nun für einen Schub sorgen kann?

EM 2021 Wembley

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MS: Ich glaube: Ja. Ich habe in Russland durchaus einen Heimvorteil für das Nationalteam ausmachen können und auch Frankreich zog bei der Heim-EM ja ins Finale ein. Wenn speziell im Fall der deutschen Nationalmannschaft auch noch ein großer Teil der Startaufstellung im „Vereinsstadion“ spielt – dann ist das definitiv kein Nachteil.

SW: Ich gehe schon davon aus, dass das Gefühl, vor Zuschauern zu spielen, nach der langen Zeit beflügelt – gerade die jeweiligen Heimteams.

RM: Wie man bei den Freundschaftsspielen vor dem Turnier gesehen hat, war die Rückkehr der Fans für die Mannschaften großartig. Es bedeutet den Spielern so viel mehr, wenn sie vor einer riesigen Heimkulisse für ihr Land auflaufen. Auch für die Gastgeber wird der Reiseaufwand geringer sein, was sicherlich ein großer Vorteil sein wird. Vor allem für England, das im Finale zu Hause spielen würde, wenn es so weit kommt.

EM 2021: „Kann mir gut vorstellen, dass Europa vielleicht auch einen Kai Havertz besser kennen lernt“

90PLUSHarry Kane, Cristiano Ronaldo, Romelu Lukaku, Joshua Kimmich, Kylian Mbappé: Die Dichte an Weltklassespielern in diesem Turnier ist beeindruckend. Gemessen an den Möglichkeiten der einzelnen Nationen: Welcher Spieler kann Ihrer Meinung diesem Turnier ganz besonders seinen Stempel aufdrücken?

MS: Lustig, dass der aktuelle Weltfußballer Robert Lewandowski gar nicht in der Liste auftaucht. Aber Mbappé ist sicher der potenzielle Weltfußballer, auf den man gucken muss. Cristiano Ronaldo hat keine gute Saison hinter sich, aber ein brutal starkes Team – bei England bemisst sich Harry Kanes Wert hauptsächlich aus seiner Erfahrung und seiner Rolle als Führungsspieler. Ich persönlich habe eine große Schwäche für N’Golo Kanté – kann mir aber auch gut vorstellen, dass Europa vielleicht auch einen Kai Havertz nochmal besser kennen lernt.

RM: Es gibt so viele Talente in diesem Sommer zu beobachten. Mit Frankreich als Favorit könnte Kylian Mbappé der größte Name auf dem Planeten im Jahr 2021 werden. Sein Teamkollege N’Golo Kante hat sicherlich auch Chancen auf den Ballon d’Or, wenn Frankreich es ganz nach oben schafft. Vor allem, nachdem er Chelsea bereits zum Sieg in der Champions League verholfen hat.

SW: Die genannten Spieler sind sicher Kandidaten. Generell aber denke ich, dass es natürlich auch eng mit den Möglichkeiten und dem Abschneiden der einzelnen Nationen zusammenhängt, wer am Ende heraussticht. Mbappé und Frankreich haben sicher abermals gute Aussichten.

EM 2021: Wer wird die Überraschung und wer gewinnt das Turnier?

90PLUS: Ein Turnier mit 24 Nationen führt unweigerlich dazu, dass auch Außenseiter teilnehmen. Nordmazedonien, Schottland, Finnland und Ungarn gehören beispielsweise dazu. Wem trauen Sie ein gutes Abschneiden zu, welcher „Underdog“ kann auf sich aufmerksam machen? 

SW: Generell bedeutet eine Aufstockung mit 24 Teams unweigerlich eine gewisse Verwässerung, das hat sich bereits 2016 während der Endrunde in Frankreich gezeigt. Andererseits hat dort  insbesondere Island demonstriert, dass kleinere Nationen auch echte Farbtupfer sein können. Nordmazedonien hat in der WM-Qualifikation gegen Deutschland schon mal angedeutet, dass es Überraschungs-Potenzial hat…

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MS: Nordmazedonien hat gegen Deutschland wirklich kein schlechtes Spiel gemacht und mit der Niederlande, Österreich und der Ukraine auch Gegner, die man überraschen kann. Finnland hat von den genannten Teams die beste Qualifikation gespielt. Tschechien hat einen guten Prager Block, der im Europa-Pokal überzeugt hat.

RM: Ungarn wird es in ihrer Gruppe fast unmöglich haben. Schottland könnte eine der Überraschungen sein, da sie Heimspiele haben. Zudem hat Schottland eine leichtere Auslosung als die anderen Teams, die sich über die Playoffs qualifiziert haben. Außerdem haben sie mit Andy Robertson, Kieran Tierney und John McGinn hervorragende Spieler und könnten viele größere Namen überraschen.

90PLUS: Abschließend eine kurze Prognose: Welche Mannschaft gewinnt die Europameisterschaft und warum? 

RM: Es ist schwer, auf jemand anderen als Frankreich zu tippen. Sie sind der Weltmeister und viele ihrer Spieler haben sich seit der Weltmeisterschaft vor drei Jahren tatsächlich verbessert. Didier Deschamps weiß, wie man sich aufstellt, um Turniere zu gewinnen. Und die Spieler werden wissen, dass sie fast unschlagbar sind, wenn sie ihr Bestes geben.

MS: Frankreich, weil sie den mit Abstand besten Kader haben. Wem der Tipp zu langweilig ist: England. Weil Gareth Southgate meiner Meinung nach viel richtig macht. Und weil Wembley das Endspielstadion ist. Siehe Heimvorteil.

SW: Kurz und knapp: Frankreich holt den Titel!

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