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EM 2024 | Titelprognosen und Überraschungen – die Expertenrunde vor dem Turnier

14. Juni 2024 | Spotlight | BY Jannek Ringen

Die Europameisterschaft in Deutschland steht in den Startlöchern und um ein besseres Bild von dem Turnier zu bekommen, haben wir uns mit Experten aus mehreren Ländern unterhalten. Diese haben uns ihre Gefühle und Einschätzungen für die EM geschildert. Die 90PLUS-Expertenrunde zur EM 2024.

EM 2024: Große Vorfreude bei den Experten

Am Freitagabend um 21 Uhr wird die Europameisterschaft 2024 mit dem Spiel Deutschland gegen Schottland eröffnet. Doch bevor der Ball in der Münchner Allianz Arena rollt, wollten wir uns einmal umhören, wie die Kollegen aus anderen Redaktionen und anderen Ländern vor der EM 2024 denken. Dazu haben wir mit Georg Holzner vom kicker, DAZN-Experte Christian Bernhard, Joris Crolbois von RMC Sport und dem spanischen Journalisten Ruben Canizares gesprochen. Alle Antworten in unserer 90PLUS-Expertenrunde zur EM 2024.



Zum vierten Mal in der Geschichte des Fußballs findet ein großes Turnier wie eine Welt- oder Europameisterschaft in Deutschland statt. Was versprecht ihr euch von dem Turnier in Deutschland?

Georg Holzner: „Dass das Turnier in Deutschland stattfindet, ist eine Super-Sache. Klar könnte die Euphorie größer sein, aber man muss in so ein Turnier auch erstmal reinkommen. Ich könnte mir vorstellen, dass Corona viele Erwartungen an den Fußball gebremst hat, weshalb die EM 2024 der Startschuss für einen neuen Boom sein könnte. Wenn die Leute so ein bisschen im Turnier ankommen, die Spiele gut sind, das Wetter gut ist und coole Kulturen im Land sind, dann ist sowas auf alle Fälle ansteckend.“

Joris Crolbois: „Wir Franzosen genießen die Turniere in Deutschland. Im Jahr 2006 haben wir das Finale erreicht und bei der letzten Europameisterschaft haben wir Deutschland zu Hause in München geschlagen. Wir hoffen, besser abzuschneiden als bei der letzten Euro, wo die Niederlage gegen die Schweiz im Achtelfinale schmerzte. Und selbst wenn wir das Finale der Weltmeisterschaft in Katar erreichten, haben wir seit 2018 nichts mehr gewonnen, und mit dieser Generation müssen wir jede Trophäe gewinnen, die wir können. Außerdem ist dies das letzte internationale Turnier von Olivier Giroud und wir würden uns wünschen, dass er sich mit dem Titel verabschiedet.“

Ruben Canizares: „Ich hoffe auf ein attraktives Fußballturnier mit guten Spielen und vielen Toren, mit einer gesunden Atmosphäre auf den Plätzen, ohne dass es Probleme außerhalb des Platzes gibt.“

Christian Bernhard: „Ich verspreche mir einiges. Stimmungstechnisch gibt es gute Beispiele aus der Vergangenheit, sodass Turniere in Deutschland wirklich zu einem Fußball-Fest geworden sind. Die Stadien sind gut vorbereitet. Ich bin sehr positiv gestimmt und hoffe, dass die hohen Erwartungen, die viele Menschen an das Turnier haben, erfüllt werden. Viele reden über das Sommermärchen 2.0, aber ich weiß nicht, ob man dem Turnier vor dem Start damit einen Gefallen tut. Man muss diese EM gar nicht mit der WM 2006 vergleichen, sondern einfach hoffen, dass wieder eine gute Stimmung und ein tolles Turnier für alle Fans entsteht.“

Es ist das dritte Turnier, bei dem 16 von 24 Mannschaften in die K.-o.-Runde einziehen. In den vergangenen beiden Turnieren führte dies zu überschaubarem Niveau. Wie siehst du die Aufstockung auf 24 Mannschaften?

Georg Holzner: „Ich finde die Aufstockung super. Ich finde auch gut, dass man kleineren Ländern, die sich sonst nicht qualifizieren würden, eine Chance gibt. Es ist für die Länder unheimlich wichtig, dass sie Teil der EM 2024 sein und sich zugehörig fühlen können. Sie sollen auch in den Genuss des Turniers kommen und die Atmosphäre spüren. Klar kann das Auswirkungen auf das Niveau haben, aber auch Mauern ist Teil des Fußballs. Das hat alles seine Berechtigung. Kleine Mannschaften haben immer wieder gezeigt, dass sie überraschen können und das macht den Fußball am Ende doch auch aus. Deswegen bin ich klarer Befürworter davon.“

Joris Crolbois: „Ich bin kein Fan der Umstellung auf 24 Mannschaften. Genauso wenig, wie ich ein Fan der Weltmeisterschaft mit 48 Mannschaften bin. Ja, es ermöglicht Mannschaften, die normalerweise nicht die Möglichkeit haben, an der Weltmeisterschaft oder der Europameisterschaft teilzunehmen, aber es macht diese Wettbewerbe weniger wertvoll. Man muss sich die Teilnahme an der Weltmeisterschaft und der Europameisterschaft verdienen. Durch die Aufstockung auf 24 Mannschaften wird die Gruppenphase uninteressant und wenn man sieht, dass sich auch die drittplatzierte Mannschaft qualifizieren kann, ist die Gruppenphase wenig interessant. Ich denke, das nimmt dem Wettbewerb die Würze. Die Gruppe B ist toll, mit Kroatien, Spanien und Italien. Aber früher, mit 16 Mannschaften, gab es nur Todesgruppen wie diese. Und genau das hat die Euro so einzigartig gemacht.“

Ruben Canizares: „Mir hat die EM mit 16 Mannschaften besser gefallen, aber der Fußball ist in letzter Zeit zu einem Geschäft geworden und dagegen kann man nicht ankämpfen. Ich denke, dass es Teams gibt, die nicht das Niveau haben, um eine EM zu spielen, aber zumindest sind ihre Länder und ihre Menschen glücklich, wenn sie ein paar Wochen lang in den Genuss kommen, ihre Mannschaft bei einer EM zu sehen.“

Christian Bernhard: „Man spielt in der Gruppenphase sehr viele Spiele, um sich von nur acht Mannschaften zu verabschieden. Diese Systematik finde ich jetzt nicht so prickelnd. Da kann man schon fragen, ob es das beste System ist. Aber ich freue mich trotzdem, denn es gibt viele Mannschaften, die nicht gerade die großen Namen haben und einen schwer zu bespielbaren Fußball spielen. Das ist schon eine gute Sache. Für die kleinen Länder ist es schon etwas besonderes, sich für das Turnier zu qualifizieren.“

Toni Kroos hat mit Real Madrid seinen sechsten Champions-League-Titel geholt. Sollte er Deutschland zu einem Sieg bei der Europameisterschaft führen, wäre er der größte deutsche Fußballer aller Zeiten?

Georg Holzner: „Gemessen an den Titeln in der Neuzeit ist er das sicherlich. Ein Franz Beckenbauer ist jedoch ganz schwer einzuholen. Was er als aktiver Fußballer, als Trainer und als Funktionär gewonnen hat, ist unglaublich. Er hat für den Fußball in Deutschland unfassbar viel getan. Bei all den Verdiensten von Toni Kroos und all dem Lob, was er auch berechtigterweise bekommt, wird Franz Beckenbauer die Nummer eins bleiben. Man darf auch Lothar Matthäus in dieser Diskussion nicht vergessen, schließlich ist er der bisher einzige deutsche Weltfußballer. Er ist nach wie vor ein Aushängeschild für den deutschen Fußball.“

Joris Crolbois: „Das ist eine schwierige Frage. Kroos ist sicherlich unter den Top drei der besten deutschen Spieler der Geschichte. Aber ich werde trotzdem Franz Beckenbauer als Nummer eins behalten. Beckenbauer hat weniger Champions-League-Titel gewonnen, er hat die Weltmeisterschaft gewonnen wie Kroos und die Europameisterschaft wie Kroos, wenn er es dieses Jahr schafft, aber man kann Beckenbauer seine individuellen Trophäen nicht wegnehmen. Den Ballon d’Or einmal als Verteidiger zu gewinnen, ist schon eine Leistung, aber ihn zweimal zu gewinnen, beweist, dass er besser ist als Kroos. Aber es kommt auf ein paar Dinge an. Im Spiel bringt Kroos mehr Spannung und hat ein viel schöneres Spiel, aber Beckenbauer bleibt für mich die deutsche Legende.“

Ruben Canizares: „Die Rückkehr von Toni Kroos ist für Deutschland von großer Bedeutung, das ist unbestreitbar. Mit ihm ist Deutschland eine viel bessere Wahl und hat mehr Chancen auf den Sieg. Wenn das der Fall wäre, wenn Deutschland die EM gewinnen würde, was der einzige Titel ist, den Kroos noch nicht errungen hat, dann müsste man sich fragen, ob er der beste deutsche Fußballer aller Zeiten ist oder nicht.“

Christian Bernhard: „Da tue ich mich immer ein bisschen schwer. In der deutschen Fußballgeschichte gibt es viele sehr, sehr beeindruckende Namen. Ich würde nicht sagen, dass er in diesem Szenario der größte wäre, aber damit will ich nicht seine Leistung schmälern. Toni Kroos mit seiner Zeit bei Real und seinen unfassbar vielen Titeln ist er automatisch eine ganz spezielle Figur für den deutschen Fußball. Seine Rückkehr hat der deutschen Nationalmannschaft auch einen emotionalen Schub gegeben. Man tut den Spielern oftmals auch keinen Gefallen, wenn man sie mit Namen der Vergangenheit vergleicht. Wenn er den EM-Titel mit Deutschland holt, dann würde er definitiv zu den ganz großen gehören.“

Deutschland: Wo siehst du die DFB-Elf aktuell? Ist der Umbruch gelungen und das Konstrukt stabil genug, um eine gute Euro zu spielen?

Georg Holzner: „Es ist unfassbar schwer in diesem Jahr zu sagen, wohin die Reise geht, weil der Mix aus Erfahrung und Form muss passen. In den erfolgreicheren Zeiten war es so, dass die Spieler des FC Bayern, die über die meiste Erfahrung verfügten und den größten Block stellten, in Form waren. Dieses Jahr ist das alles anders. Die Bayern-Spieler haben zwar die Erfahrung, aber nicht die beste Form. Gerade in K.o.-Spielen kommt es eben auf Erfahrung und Persönlichkeiten an. Der Stuttgart-Block hat beispielsweise eine herausragende Saison gespielt, allerdings weiß ich nicht, ob die in diesen Spielen vorangehen können. Ob das Gerüst passt, das ist für mich ein Blick in die Glaskugel.“

Frankreich: Die französische Nationalmannschaft gehört wieder einmal zu den Top-Favoriten. Allerdings hört man immer wieder von internen Problemen. Kann die Équipe Tricolore sich nur selbst schlagen?

Joris Crolbois: „Nein, es gibt keine internen Probleme in der französischen Mannschaft. Die Mannschaft sieht etwas schwächer aus als bei der Weltmeisterschaft, aber man will das Scheitern bei der Euro 2021 wettmachen und die Niederlage im WM-Finale vergessen machen. Danach bleibt nur zu hoffen, dass Les Bleus besser spielen als in den letzten Spielen.“

Spanien: Bei den letzten beiden Turnieren machte Spanien einen starken Eindruck, ging jedoch doch beide Male im Elfmeterschießen raus. Ist die Mannschaft jetzt bereit für den nächsten großen Titel?

Ruben Canizares: „Spanien verfügt über eine große Auswahl auf kollektiver Ebene, aber nicht über Weltstars. Nur Rodri und Carvajal. Es stimmt, dass sehr gute junge Leute wie Nico Williams und Lamine Yamal kommen, aber ich denke, dass es stärkere Mannschaften gibt, wie Frankreich, Portugal, England oder Deutschland selbst.“

Italien: Italien geht als Titelverteidiger in das Turnier, allerdings lief die Vorbereitung nicht optimal. Wie schätzt du die Chancen der Italiener bei dem Turnier ein?

Christian Bernhard: „Italien war ja auch vor drei Jahren nicht der große Favorit. Sowohl damals als auch jetzt gibt es Mannschaften, die individuell besser besetzt sind, gar keine Frage. Was die Italiener aber vor drei Jahren gezeigt haben und am Ende im Titel gemündet ist, ist das Kollektiv. Und das ist dieses Jahr ähnlich. Sie kommen nicht über die Einzelspieler, sondern über ein taktisch sehr gut ausgeprägtes Kollektiv und haben mit Luciano Spalletti einen Trainer, der fraglos zu den besten bei der EM 2024 gehört. Sie sind nicht mein Top-Favorit, aber so ein Turnier wird halte nicht immer von den Mannschaften gewonnen, welche die besten Einzelspieler haben. Es kommt ja auch darauf an, innerhalb dieses Monats eine bestimmte Chemie zu entwickeln und da sehe ich das Potenzial bei den Italienern. Sie haben zum einen ein ausgepfeiltes taktisches Gerüst und einen großen Zusammenhalt innerhalb der Mannschaft.“

Wer gewinnt das Turnier? Wer wird überraschen? Wer wird enttäuschen?

Georg Holzner: „Überraschen werden die Österreicher. Denen traue ich zu, dass sie in der sehr schweren Gruppe mit Frankreich und den Niederlanden weiterkommen. Bei einer Enttäuschung tue ich mir schwer, da aus meiner Sicht nur die Top-Nationen wie Deutschland, Spanien, Frankreich und England enttäuschen können. Ich hoffe, dass es nicht Deutschland wird. Im Normalfall traue ich den Engländern den Titel nicht zu und sie gehören immer zum Favoritenkreis. Aber in diesem Jahr könnten sie es schaffen.“

Joris Crolbois: „Für den Finalsieg würde ich auf Spanien oder England tippen. Ich sehe, dass die Spanier immer stärker werden und besser und besser spielen. England hat eine machbare Gruppe und ich habe den Eindruck, dass die Mannschaft im Vergleich zu früheren Turnieren an Reife gewonnen hat. Ich befürchte, dass Frankreich bei dieser Euro enttäuschen wird, ebenso wie Kroatien, das sich eindeutig am Ende eines Zyklus befindet. Schließlich sehe ich Georgien als die Überraschung dieser Euro. Mit Kvaratskhelia, Davitashvili und vor allem Georges Mikautadze, der ein hervorragender Stürmer ist, kann ich mir vorstellen, dass Georgien aus seiner Gruppe herauskommt und im Achtelfinale spielt.“

Ruben Canizares: „Der Gewinner wird Frankreich sein. Die Enttäuschung wird Holland sein und die Überraschung wird Albanien sein.“

Christian Bernhard: „Mein Top-Favorit ist Frankreich, da sie trotz einiger Ausfälle den tiefsten Kader haben. Vor dem Turnierstart stehen die bei mir auf Platz eins. Das ist vielleicht nicht die allergrößte Überraschung, aber ich traue den Österreichern viel zu, aus ähnlichen Gründen wie bei den Italienern. Die haben auch nicht die größten Einzelspieler und einige wichtige Ausfälle mit David Alaba und Xaver Schlager, aber sie haben in den vergangenen Monaten gezeigt, dass mit ihnen zu rechnen ist. Bei der Enttäuschung ist es wirklich schwer. Ich könnte mir vorstellen, dass die Spanier ein paar Probleme bekommen. Die sind auf gar keinen Fall schlecht, aber die Erwartungshaltung ist enorm groß. Die haben eine enorme Qualität, sind aber im Abwehrzentrum angreifbar. Zudem ist ein Problem, welches die Spanier öfter haben, wer die Tore macht. Trotz ihrer Qualität bleiben diese Fragen und deshalb könnten sich durchaus stolpern, zumal die Gruppe ja auch nicht die leichteste ist.“

Unsere Prognosen zur EM 2024 findet ihr hier.

(Photo by JOHN MACDOUGALL/AFP via Getty Images)

Jannek Ringen

Sozialisiert durch die Raute von Thomas Schaaf, gebrochen durch den Abstieg unter Florian Kohfeldt. Fußball in Deutschland ist sein Fachgebiet, aber immer mit einem Blick in England und Italien.


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