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EM 2024 | Italien vor dem Turnierstart: Ein Titelverteidiger in der Außenseiterrolle

4. Juni 2024 | Spotlight | BY Philipp Overhoff

Ziemlich genau drei Jahre ist es her, da krönte sich die italienische Nationalmannschaft hochverdient mit dem EM-Titel. Vor dem bevorstehenden Turnier in Deutschland ist die Ausgangslage eine andere, hinter der Squadra Azzurra liegen schwierige Jahre. 

Italien: Wiederholt sich die Geschichte?

An große Turniere in Deutschland denkt das fußballverrückte Italien nur allzu gerne zurück. Vor 18 Jahren feierte die Sqaudra Azzurra ihr eigenes azurblaues Sommermärchen und holte zum ersten Mal seit 24 Jahren wieder einen Titel in den Süden Europas. Ein Großteil der heutigen Leistungsträger steckte damals noch in den Kinderschuhen und jubelte Pirlo, Totti und Co. aus dem heimischen Wohnzimmer zu.



Nun will die aktuelle Generation Italiens ihren Idolen nacheifern und ein erfolgreiches Turnier auf deutschem Boden spielen. Dabei befindet sich die Squadra Azzurra in einem durchaus interessanten Spannungsfeld. Als aktueller Titelträger würde man den Fußball-Giganten vom “Mare Nostrum” eigentlich im Kreis der Favoriten erwarten, doch die Ergebnisse der vergangenen Monate und Jahre lassen diesen Schluss aktuell nicht zu.

Der Kater nach der großen Party

Auf den großen Triumph folgte ein radikaler Cut, die italienische Nationalmannschaft befindet sich schon seit einigen Jahren in einer Phase des Umbruchs. Aus der Startformation des 2021er-Finals, die auf dem heiligen Rasen des Wembley nach Elfmeterscheißen gegen England triumphierte, sind gerade einmal fünf Spieler übrig geblieben. Kein Chiellini, kein Bonucci, kein Verratti, kein Insigne – der Qualitätsaderlass, den die Squadra Azzurra in den letzten Jahren verkraften musste, ist nicht von der Hand zu weisen.

Die Gründe für das Fehlen dieser Spieler sind dabei ebenso vielschichtig wie die Gründe für das Formtief der Truppe. Chiellini beendete seine Nationalmannschaftskarriere 2022, Bonucci wurde unter Neu-Trainer Luciano Spalletti nicht mehr berücksichtigt. Frühere Leistungsträger wie Veratti oder Insigne befinden sich eigentlich noch in einem guten Fußballalter, sind mittlerweile aber außerhalb von Europa aktiv und machen schlicht und ergreifend nicht mehr den Eindruck, sich noch auf allerhöchstem Level beweisen zu wollen.

(Photo by VINCENZO PINTO/AFP via Getty Images)

Die Euphorie des EM-Titels 2021 holte Italien schnell ein, nur acht Monate später war klar, dass man die Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2022 in Katar verpassen würde. Im Playoff-Spiel gegen Nordmazedonien unterlag die Squadra Azzurra mit 0:1 und musste somit die zweite WM in Folge vom Fernseher aus verfolgen.

Auch die darauffolgende Qualifikation für die EM-Endrunde in Deutschland sollte ein steiniger Weg werden. Lange Zeit drohte der Titelverteidiger das nächste Turnier zu verpassen und musste im August 2023 darüber hinaus auch den Rücktritt von Erfolgscoach Roberto Mancini verkraften. Der 59-Jährige unterschrieb stattdessen einen hochdotierten Vertrag als Nationaltrainer Saudi-Arabiens. Ersetzt wurde Mancini von Luciano Spalletti, der den SSC Neapel in der Vorsaison sensationell zur Meisterschaft in der Serie A führte. Die Qualifikation wurde letztendlich mit einem großen Kraftakt erreicht, als Gruppenzweiter vor der punktgleichen Ukraine gelang Italien doch noch der Sprung nach Deutschland.

Spalletti findet klare Worte

Um sich mit voller Konzentration auf das Turnier vorbereiten zu können, griff Spalletti in den vergangenen Monaten zu durchaus ungewöhnlichen Maßnahmen. So verhing der Nationaltrainer im Februar dieses Jahres ein offizielles Playstation-Verbot. “Die Spieler müssen die Playstation zu Hause lassen. Ich gebe ihnen Hausaufgaben für den Abend, wenn die Aufgaben am Tag nicht genügen. In der Nationalelf muss man konzentriert sein, man scherzt nicht”, sagte Spalletti im Interview mit der Gazzetta dello Sport. Hintergrund: Vor dem alles entscheidenden Quali-Spiel gegen die Ukraine sollen einige Spieler einen Großteil der vorherigen Nacht an der Konsole verbracht haben.

Insgesamt legt der ehemalige Napoli-Coach eine sehr klare Wortwahl an den Tag, wenn es um die bevorstehende Europameisterschaft geht. “Meine Spieler müssen besser werden, als sie jetzt sind. Ich habe keine Zeit, sie zu trainieren, sie müssen die Überzeugung haben, dass sie es schaffen. Uns fehlt nichts, um mit den besten Teams zu konkurrieren”, stellte Spalletti Anfang dieses Jahres selbstbewusst klar.

(Photo by Claudio Villa/Getty Images)

Mit seinem kürzlich bekanntgegebenen EM-Kader sorgte er dabei für die eine oder andere Überraschung. So ließ Napolis Meistermacher unter anderem Ciro Immobile, Manuel Locatelli und Giacomo Bonaventura zu Hause. Mit Alessandro Bastoni, Federico Dimarco und Nicolo Barella verfügt die Squadra Azzurra über einen starken Block von Meister Inter Mailand, dazu gesellen sich mit Gianluigi Donnarumma, Napoli-Kapitän Giovanni Di Lorenzo, Jorginho oder Frederico Chiesa weitere Spieler von internationalem Format. Dennoch klaffen auf einigen Positionen eklatante Lücken: Wer verteidigt neben Bastoni in der Innenverteidigung? Wer ist Italiens Goalgetter? Gibt es genügend Akteure, die einen Lucky Punch von der Bank setzen können?

Im Vergleich zu Nationen wie Frankreich, England oder Deutschland mangelt es den Südeuropäern in der Spitze sichtbar an der absoluten Top-Qualität. Ein Erfolg wird daher, ähnlich wie bei der letzten EM, nur über ein starkes Kollektiv zu erreichen sein. Um dieses zu formen, befindet sich Spalletti derzeit mit seiner Mannschaft im Trainingslager in Coverciano, einem Stadtquartier im südöstlichen Teil von Florenz. Zieht man die aktuellen Aussagen des Trainers heran und blickt man auf seine Zeit in Napoli zurück, so kommt man zu dem klaren Schluss, dass dieser in Deutschland einen ansehnlichen Ball spielen lassen will. “Mein Herz schlägt vor Vorfreude und vor dem, was wir erleben werden. Ich möchte glückliche Menschen sehen. Wir möchten, dass die Menschen in unserem Land zufrieden sind, wenn wir zurückkehren – wir möchten sie berühren,” erklärte Spalletti kürzlich auf einer Pressekonferenz. Ein Ansatz, der ihn von zahlreichen italienischen Trainern der Vergangenheit unterscheidet.

Reicht es für die Top-Teams?

“Die besten Teams”, erklärte Spalletti, “wissen, wie man mit vier hinten und drei davor spielt und trotzdem unberechenbar ist.” Und auf zwei dieser besten Teams wird die Auswahl Italiens bereits in der Vorrunde treffen. Nach dem Auftaktspiel gegen Albanien – ein absoluter Pflichtsieg – bekommt es die Squadra Azzurra zunächst mit Spanien und dann mit Kroatien zu tun. Die Duelle gegen die individuell starken Spanier und den kroatischen WM-Dritten dürften zu echten Härtetests werden, die aufzeigen, wohin es für den Europameister bei diesem Turnier geht.

Aufgrund des seit 2016 bestehenden Turniermodus ist auch ein Weiterkommen als Gruppendritter wahrscheinlich, doch darauf wird es Spalletti sicherlich nicht ankommen lassen wollen. Das Selbstverständnis des italienischen Trainers lässt da gar keinen anderen Schluss zu. “Wir spielen in Deutschland für den Sieg”, formulierte der 65-Jährige eindeutig.

Alle Informationen rund um die Europameisterschaft 

Was es dafür brauchen wird? Hundertprozentige Leidenschaft und der absolute Glaube an sich selbst. “Wir müssen vergessen, dass wir wohlhabend sind und alles haben. Wir müssen bereit sein, unser Bestes zu geben”, so Spalletti. Diese Tugenden führten schon beim Turnier vor drei Jahren zum Erfolg, als die Squadra Azzurra einen schier unermüdlichen Siegeswillen an den Tag legte und Spanien sowie England im Elfmeterschießen niederrang.

Eines ist klar: Der aktuelle Kader Italiens hat nicht die Qualität des Aufgebots von 2021 und geht nicht, wie damals, mit dem Selbstverständnis einer 28 Spiele andauernden Siegesserie in das Turnier. Zu den absoluten Favoriten zählt der viermalige Weltmeister in diesem Jahr nicht, auch wenn die italienische Mannschaft immer noch über Qualität und einen hervorragenden Trainer verfügt. Der Titelverteidiger gleicht in diesem Jahr also einer absoluten Wundertüte – ein frühes Ausscheiden scheint ebenso möglich, wie ein erneuter Run bis tief in die K.o.-Runde. So oder so bewegt sich die Truppe von Luciano Spalletti in Deutschland in einem hochinteressanten Spannungsfeld.

(Photo by Claudio Villa/Getty Images)


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