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EM 2024 | Serbien und das Paradoxon des Überangebotes an guten Mittelstürmern

9. Juni 2024 | Spotlight | BY Manuel Behlert

Die serbische Nationalmannschaft feiert beim Turnier in Deutschland ihre EM-Premiere. Das hat primär mit der späten Unabhängigkeit des Landes zu tun, denn gute Spieler gab es dort schon immer. Die Qualifikation für das Turnier 2008 war die erste, die das unabhängige Serbien spielte. 

Manchmal scheiterte man knapp, manchmal deutlich. Gemeinsam hatten alle Versuche, dass der Kader nicht allzu schlecht war. Drei Teilnahmen an WM-Endrunden, genauer 2010, 2018 und 2022, bestätigten das. Das Erreichen der K.O.-Runde eines großen Turniers gelang bis dato noch nicht. Das ist das große Ziel für die EM 2024.

Serbien: Gemischte Gefühle vor der EM 2024

Die serbische Nationalmannschaft hat die erste Endrundenteilnahme bei einer Europameisterschaft gefeiert. Zumindest das Resultat per sé. Denn mit der Qualifikation ansich konnte niemand so richtig zufrieden sein. Gegen Litauen, Montenegro, Bulgarien und Ungarn gab es vier Siege in acht Spielen. Zwei Partien wurden gar verloren, komplett souverän war die Qualifikationsphase nicht. Nur zweimal hielt Serbien hier die Null in der Defensive. Für ein Team, das individuell in allen diesen Spielen einen Vorteil, mal größer, mal kleiner, hatte, ist das kein befriedigendes Endresultat. 



Das sorgt in Verbindung mit Test- und Vorbereitungsspielen für gemischte Gefühle. Eine knappe Niederlage gegen Belgien mit einer guten Leistung, ein desolates 0:4 gegen Russland, ein souveräner Sieg gegen Schweden: Serbien bespielte zuletzt die gesamte Bandbreite. Was aber offenkundig ist: Dieses Team agiert nicht oft als solches. Laufen für den Nebenmann, voller Einsatz, komplette Hingabe und gegenseitiges Unterstützen finden nicht oder nur unregelmäßig statt. Deswegen sind die Erwartungen nicht allzu hoch. Und das ist auch ganz gut so. 

Keine gute Entwicklung, Probleme bei der Chemie

Die Serben suchen quasi seit der WM 2022 in Katar nach Konstanz. Zwei Siege in Folge gab es nur selten und wenn, dann waren sie mit harter Arbeit verbunden. Zu allem Überfluss deuten sich auch Probleme in der Beziehung zwischen Mannschaft und Trainer an. Um das ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen, haben wir uns mit Kristijan Plazonja, der in Serbien für Mozzart Sport arbeitet und zudem als Scout tätig ist, unterhalten. “Wir sind in keiner guten Verfassung. Die Chemie mit dem Trainer stimmt nicht mehr, das wirkt sich auf die Mannschaft aus”, bestätigt er.

Serbien EM 2024

(Photo by Linnea Rheborg/Getty Images)

Und weiter: “Wir haben viele Probleme in der Defensive. Das Team macht zu viel Druck für eine Mannschaft, die überhaupt nicht schnell ist. Dadurch entstehen immer wieder Schwierigkeiten in der Rückwärtsbewegung. Zudem vergibt die serbische Mannschaft viel zu viele Chancen, teilweise auch leichtfertig. Es besteht die Chance, als einer der besten Drittplatzierten das Achtelfinale zu erreichen, aber dazu braucht das Team auch das entsprechende Glück. Gegen Slowenien muss ein Sieg her, und dann müssen wir hoffen, dass wir gegen Dänemark ein Unentschieden erreichen können”, schätzt er die Chancen ein.

Serbien: Zwei Topspieler, aber…

Schaut man primär auf den Kader der Serben, dann überrascht die Vielzahl der Probleme schon. Im Tor steht Djordje Petrovic vom FC Chelsea, Salzburgs Strahinja Pavlovic gilt als großes Abwehrtalent, Lazar Samardzic war einer der spannendsten Mittelfeldspieler der vergangenen Saison in der Serie A, über Filip Kostic muss man in Deutschland ohnehin kein Wort verlieren und Dusan Vlahovic ist der Stürmer Nummer eins bei Juventus. Individuelle Klasse ist vorhanden, aber wer sich schon etwas länger mit Fußball beschäftigt, der weiß, dass es nicht nur darauf ankommt. 

Noch nicht aufgezählt wurden zwei weitere Topspieler, nämlich Sergej Milinkovic-Savic und Aleksandar Mitrovic. Und das aus gutem Grund. Der Mittelfeldspieler, ehemals Lazio, und der Angreifer, der für Fulham in der Premier League zahlreiche Tore schoss, spielen mittlerweile beide in Saudi-Arabien, sind dem Ruf des großen Geldes gefolgt. Die Saudi Pro League mag zwar für erhebliche Bewegungen auf den Konten der Spieler sorgen, allerdings bestehen Zweifel hinsichtlich der Konkurrenzfähigkeit.

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Was den Ruf in der Heimat angeht, so gibt es eine Diskrepanz. Mitrovic wird aufgrund seiner Verdienste als Legende angesehen, schoss 58 Tore in 91 Länderspielen für die serbische Auswahl. Etwas distanzierter ist das Verhältnis der Serben zu Milinkovic-Savic. “Er hat einen schwierigeren Ruf, denn er ist ein Techniker, der auf einen Teil der Öffentlichkeit als faul wirkt, was er aber nicht ist. Er ist immer einer der Spieler, die am meisten laufen, den meisten Druck ausüben, das lässt sich auch belegen”, ordnet Experte Kristijan Plazonja ein.

Von einem drastischen Absinken des Leistungsniveaus beider Spieler will er aber nichts wissen: “Es ist natürlich auf den ersten Blick fraglich, wie gut sie noch sind, wenn man bedenkt, dass sie nicht mehr in den Top-5-Ligen spielen, aber die Wahrheit ist, dass der Nationalmannschaftsfußball weitgehend viel langsamer ist als der Vereinsfußball auf höchstem Niveau, sodass sie gut zurechtkommen sollten.” Für Serbien wäre das in jedem Fall wünschenswert, denn sie könnten als Anker für die Mannschaft fungieren und das Team bei diesem Turnier in dieser schwierigen Gruppe führen.

Das Mittelstürmer-Paradoxon der Serben

Das Prunkstück der Serben ist die Mittelstürmerposition. Juventus’ Vlahovic wurde ebenso wie Mitrovic thematisiert. Aber auch Luka Jovic, der in der Bundesliga bei Eintracht Frankfurt Tor um Tor schoss und mittlerweile bei Milan spielt, steht im Kader der Serben. Eigentlich wäre jede Nation froh, über ein solches Angebot an Topspielern im Angriffszentrum zu verfügen, aber gewisse Probleme hinsichtlich der Kaderstruktur sorgen für ein Paradoxon. Es ist nahezu nicht möglich, zwei der drei Spieler gemeinsam auf das Feld zu schicken.

Jovic Serbien EM 2024

(Photo by Christian Bruna/Getty Images)

“Das Problem ist, dass Serbien im Mittelfeld leidet, wenn man mit 2 Stürmern spielt. Sie waren zuletzt auch nicht sehr kompatibel. Es ist eine Möglichkeit im Turnierverlauf, aber ich denke, dass sie nur gegen Slowenien und bei einem Rückstand wirklich realistisch ist. Theoretisch ist Mitrovic eher ein Überbrückungsstürmer, während Vlahovic gerne den Raum hinter der Abwehr angreift, und obwohl ihre Partnerschaft anfangs gut war, hat das Zusammenspiel in den letzten Monaten nicht mehr funktioniert”, so Experte Plazonja zum Dilemma im Sturm der serbischen Auswahl.

Und das ist wirklich ein Problem, denn die Qualitätsdichte auf anderen Positionen ist geringer, sodass aufgrund dieser Problematik zwangsläufig eine individuell weniger starke Mannschaft auf dem Feld steht. Nun wäre es die Aufgabe des Trainers, das Maximum aus dem Team herauszuholen. Da es ihm offensichtlich nicht gelingt, die stärksten Spieler in ein System zu manövrieren, das eben dafür sorgt, ist dem Trainer anzukreiden. Und damit schließt sich der Kreis, denn hier wären wir wieder bei der angespannten Chemie zwischen Trainer und Mannschaft bei der Mannschaft Serbiens angekommen. Für die K.O.-Runde könnte es tatsächlich trotzdem reichen. Viel mehr scheint für die serbische Auswahl aber nicht möglich zu sein.

(Photo by Christian Hofer/Getty Images)

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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