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EM 2024 | Welche aktuellen Taktiktrends es gibt und welche Rolle diese beim Turnier spielen könnten

5. Juni 2024 | Spotlight | BY Manuel Behlert

Taktische Elemente sind ein essenzieller Bestandteil im Fußball. So können Außenseiter überlegene Favoriten mit einer speziellen Ausrichtung überraschen oder favorisierte Teams wiederum mit einer auf die eigenen Qualitäten abgestimmten Taktik noch besser werden. Auch bei der EM 2024 spielt die Taktik eine große Rolle. 

Deswegen richten wir in unserer Vorberichterstattung den Fokus auch vermehrt auf die taktische Ebene. Zuerst soll es um aktuelle Taktiktrends gehen. Was ist derzeit en vogue? Und was lässt sich aus dem Vereinsfußball möglicherweise auf die Nationalmannschaften übertragen? Diesen Fragen gehen wir nach.

Taktik im Fußball: Schon immer essenziell

Taktik im Fußball war schon immer wichtig. Schon vor Jahrzehnten gab es Revolutionen, die einen Einfluss auf das ganze Spiel hatten und dadurch veränderten. Arrigo Sacchi zum Beispiel gilt noch heute als einer der Mitbegründer des modernen Fußballs, etablierte seine Vision von Raumdeckung und Pressing und feierte damit Erfolge. Auch der niederländische „Totaalvoetbal“, auch „Voetbal total“ genannt, prägte eine Ära, verbunden unter anderem mit Johan Cruyff, der als Spieler wie als Trainer dieser Philosophie treu blieb. Eine der moderneren Trends ist der guardiolaeske Ballbesitzfußball mit extremem Fokus auf intensivem Gegenpressing und Dominanz mit dem Ball. 



Diese drei Beispiele stehen sinnbildlich für viele Veränderungen, die es im Fußball im letzten Jahrhundert gab. Sie sind aber nur Überkategorien, denn auf jede noch so kleine Revolution folgten Anpassungen der Gegner, insbesondere in der jüngeren Vergangenheit. Das Spiel entwickelte sich, wurde immer schneller, die Anforderungen an die Spieler änderten sich immer wieder. Klar, dass Trainer diese Veränderungen und Entwicklungen in ihre Denkweise mit einfließen lassen. Klar ist auch, dass irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem fast alles in irgendeiner Art und Weise schon einmal gesehen wurde.

Das führt dazu, dass die Anpassungen auf taktischer Ebene immer kleiner und feinfühliger werden. Dabei ist es auch möglich, dass sich Neuerungen im Nuancenbereich so umsetzen lassen, dass sie einen großen Einfluss auf das Gesamtbild haben. Und genau in dieser Phase sind wir derzeit angelangt. Den Fußball neu zu erfinden ist mittlerweile kaum noch möglich. Und dennoch zeichnen sich Saison für Saison neue Trends ab, die ihrerseits für Erstaunen sorgen und Trainer, Teams, im großen Sinne sogar die Fußballwelt kalt erwischen. Doch welche Trends gab es zuletzt, die nun vorherrschend sind?

Vor der EM 2024: Aktuelle Taktiktrends

Da gibt es einerseits den typischen Guardiola-Fußball, der schon angedeutet wurde. Das Positionsspiel hat sich über Jahre gehalten, wurde von vielen Trainern imitiert. Hinzu kommt, dass viele Trainer bei Topvereinen wie Mikel Arteta (Arsenal), Enzo Maresca (Chelsea) oder Vincent Kompany (FC Bayern) massiv von dem Katalanen beeinflusst wurden. Es gibt aber noch weitere Elemente, die sich immer häufiger zeigen. Darüber haben wir mit Dennis Baraznowski, UEFA-Pro-Lizenz-Inhaber und zuletzt Co-Trainer bei Oostende, sowie dem Taktikexperten und Analysten Benny Grund gesprochen. 

EM 2024 Guardiola

(Photo by OLI SCARFF/AFP via Getty Images)

„Es gibt aktuell natürlich den Trend Brighton/Stuttgart, das heißt Pressing provozieren, dann ein etwas langsamerer Aufbau und anschließend wird ein Tempowechsel vollzogen, um außen in isolierte 1-gegen-1-Duelle zu kommen”, so Benny Grund. Beide Teams haben mit ihrer Spielweise Erfolg, auch wenn Brighton in der letzten Phase der Saison einige Probleme mit den Resultaten hatte. Was beide eint: Mit ihrer Art Fußball zu spielen stellen sie die Gegner vor Probleme, sie finden in fast jedem Spiel Lösungen, um Chancen zu kreieren. Roberto de Zerbi und Sebastian Hoeneß sind auf ihre Art Trendsetter, auch wenn zweiterer natürlich noch nachhaltig unter Beweis stellen kann, dass sein Fußball bei den Schwaben funktioniert.

Ein weiterer, spannender Trend ist laut Dennis Baraznowski der der “inverted fullbacks”. Ehe es zu sehr in die Taktiknerdsprache abdriftet, soll das kurz erklärt werden. Bei diesem Phänomen handelt es sich um nominelle Außenverteidiger, die im Aufbau immer wieder in das Zentrum kippen und sich dort nützlich machen. Das geschieht, indem sie dort als zusätzliche Anspielstation dienen. Alles ist in diesem Fall durchchoreographiert, jeder Spieler weiß genau, was er zu tun hat. Das Verschieben der Außenverteidiger in die Mitte sorgt dafür, dass die Offensivreihe eine Überzahl generieren und sehr breit stehen kann. Finden sich offensiv keine Lösungen in letzter Linie, stehen ausreichend Spieler im Zentrum zur Verfügung, die dann wiederum neu aufbauen können und ballsicher genug sind, um die Kontrolle aufrecht zu erhalten.

Alles rund um die EM 2024 findet ihr hier 

Beispiele für Spieler, die das umsetzen oder umgesetzt haben sind Philipp Lahm bei den Guardiola-Bayern, Joao Cancelo bei Manchester City oder auch Oleksandr Zinchenko bei Arsenal. Sie alle interpretierten diese Rollen auf ihre Art, aber setzten dahingehend Maßstäbe. Zudem setzen viele Trainer vermehrt auf spielstarke Innenverteidiger auf den Außenverteidigerpositionen. Josko Gvardiol bei Manchester City ist da einer der Prototypen, Jurrien Timer könnte bei Arsenal eine ähnliche Rolle einnehmen.

Welche Trends sehen wir bei der EM 2024?

Nun ist es so, dass sich der Vereinsfußball von den Nationalmannschaften unterscheidet. Klar, denn die Nationalteams haben nicht wenig Zeit, um Elemente einzuüben. Es existiert kein tägliches Training über einen langen Zeitraum hinweg. Das hat auch zur Folge, dass die Trends aus dem Vereinsfußball nicht vollumfänglich auf das bevorstehende Turnier übertragbar sind. Das sieht auch Experte Dennis Baraznowski so: „Ich denke, dass man de-Zerbi-Fußball eher nicht bei der EM sehen werden. Weil er relativ offen ist, weil es viele Abläufe braucht, die man einstudieren muss, gerade im Aufbau und der Fußball birgt dann einige Gefahren, wenn nicht alles zusammenpasst.”

Auch Benny Grund ist der Meinung, dass es große Unterschiede zwischen dem Turnier- und dem Vereinsfußball gibt: “Der Turniermodus ist natürlich immer schwer mit der Liga vergleichbar. Es gibt schon Teams, die auch ein sehr gutes Positionsspiel spielen, Italien unter Spalletti zum Beispiel. Sie variieren im Aufbau, versuchen einen freien Mann in Dynamik in die Position zu bekommen, wie es ihm damals unter Neapel auch oft gelang. Auch Deutschland versucht das, da sind wir übrigens auch schon bei den beiden besten Trainern im Turnier. Sie versuchen mit einer 3-1-6-Formation mit dem Ball immer wieder in den Druck und in das Zentrum reinzuspielen. Sie rotieren so häufig in ihren Positionen, bis es die Möglichkeit gibt, die richtige Lösung zu finden.“

Spalletti EM 2024

(Photo by Claudio Villa/Getty Images)

Er rechnet nicht damit, dass bei der EM 2024 die ganz großen taktischen Finessen zu sehen sein werden: “Im Turnier geht es häufig um Momentum und darum, kompakt zu stehen. Deutschland hat gegen die Ukraine auch geschaut, dass die 0 erst einmal steht. Auf Nationalmannschaftsebene hast du einfach weniger Zeit, komplizierte Elemente umzusetzen und du musst dich eher an deiner eigenen Mannschaft orientieren, dich fragen: Was kann die Mannschaft leisten? Was kann sie umsetzen? Anhand dessen muss dann versucht werden, etwas zu zaubern. Ich halte aber nicht so viele Trainer für so gut, das auch wirklich umsetzen zu können bei diesem Turnier. Da geht es mehr um typischen Turniermodusfußball, also umschalten, kompakt stehen, situativ anpressen und dann wird es oft nicht besonders raffiniert im Ballbesitz. Deswegen rechne ich mit modernen Ansätzen eher nur bei Deutschland, Italien und mit Abstrichen Spanien, die das beherrschen.”

Doch welche Trends werden bei der Europameisterschaft eine Rolle spielen? In Ansätzen werden sich die Nationaltrainer natürlich davon beeinflussen lassen, welche Ansätze bei Teams wie Stuttgart, aber auch anderen Überraschungsklubs im Ausland funktionieren. Dass das nicht 1:1 übertragbar ist, steht außer Frage. Laut Dennis Baraznowski sind vor allem die “inverted Full- und Wingbacks” relevant für das Turnier. Und warum? “Weil man mehr Kontrolle im Aufbau über das Zentrum hat. Und weil man besser abgesichert ist für mögliche Ballverluste und Konter des Gegners. Da kann ich mir gut vorstellen, dass sich der Trend auch hier sichtbar zeigen wird. Gerade bei Turnieren geht es darum, gut gegen den Ball zu arbeiten. Vieles ist auf Kontrolle und gute Arbeit gegen den Ball ausgerichtet. Defensivabläufe und Umschaltabläufe lassen sich ohnehin recht schnell einstudieren, zumindest bis zu einem guten Level. Der Punkt mit den eingezogenen Außenverteidigern könnte da ohnehin gut reinpassen.“

Leicht ist es nicht, aktuelle taktische Trends in all ihrer Komplexität auch bei den Nationalmannschaften auf den Platz zu bringen. Für viele Teams sogar so gut wie unmöglich. Deswegen werden die typischen Turniertugenden auch diesmal überwiegen und bei der EM 2024 eine größere Rolle spielen. Aber wer weiß: Einige Elemente lassen sich auch dann umsetzen, wenn sie nicht vollumfänglich vom Vorbild Vereinsfußball adaptiert werden. Und Spieler, die im Klub Teil dieser Trends sind, könnten dazu beitragen, dass diese in Ansätzen auch bei den Nationalteams sichtbar werden.

(Photo by Alexander Hassenstein/Getty Images)

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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