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EM 2024 | Form, Kader, Stärken & Schwächen: Die Titelfavoriten im Check

6. Juni 2024 | Spotlight | BY Michael Bojkov

Acht Tage sind noch zu gehen, dann startet die EM 2024 mit dem Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und Schottland. 90PLUS nimmt die Topfavoriten unter die Lupe, zu denen neben der DFB-Elf Frankreich, England, Spanien und auch Portugal zählen.

England: Reicht es endlich zum großen Wurf?

Guckt man sich den Kader der Engländer für die EM 2024 an, dürfte jedem Gegner schon im Vorhinein schwindelig werden. Ihre Mission, erstmals überhaupt die EM-Trophäe mit auf die Insel zu nehmen, gehen die Three Lions in absoluter Bestbesetzung an. Hinzu kommt, dass viele Spieler eine starke Saison hinter sich haben und so mit jeder Menge Selbstbewusstsein nach Deutschland reisen. Harry Kane schloss seine Debütsaison beim FC Bayern mit 44 Toren ab, Phil Foden war der herausragende Mann in einer ohnehin herausragenden City-Elf, Jude Bellingham schlug bei Real Madrid voll ein und Declan Rice hätte Arsenal als Dirigent beinahe zur englischen Meisterschaft orchestriert.



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Was aber allein bei dieser Aufzählung ins Auge sticht: Die Qualitätsdichte ist vor allem in der Offensive zu finden. Während schon im Mittelfeld nach Bellingham und Rice erst einmal nichts kommt, sieht es im Abwehrverbund schon in der ersten Garde recht dünn aus. John Stones ist der einzige Innenverteidiger von Weltklasse-Format, die größte Schwäche liegt aber wohl auf der Linksverteidiger-Position, wo Kieran Trippier, der eigentlich auf der rechten Seite zu Hause ist und dazu eine komplizierte Saison mit Newcastle hinter sich hat, für den verletzten Luke Shaw einspringen muss.

Zudem gleicht die Stimmung rund um die englische Nationalmannschaft einem Pulverfass. Der Druck auf Gareth Southgate, der häufig für seine unverständliche Personalpolitik und seinen zuweilen uninspirierenden Fußball kritisiert wird, ist extrem hoch. Nach der Finalniederlage bei der EM 2020 ist das Verlangen nach Silberware größer als ohnehin schon in der nicht gerade erfolgsgestillten Fußballnation England, und daran werden Southgate und seine Mannschaft auch bei der EM 2024 gemessen werden. Die Grundvoraussetzungen für ein gutes Turnier sind gegeben, und doch ist die Gefahr da, dass bei einem Ausrutscher in der Gruppe die Stimmung schnell kippt. Ohnehin: Bei nur einem Sieg aus den letzten vier Länderspielen steht England schon vor dem Turnierstart unter Zugzwang.

Gareth Southgate will England bei der EM 2024 zum Titel führen

Gareth Southgate will England bei der EM 2024 zum langersehnten Titel führen. (Photo by Naomi Baker/Getty Images)

Frankreich: Die Hochbegabten

Auch Frankreich ist gespickt von Weltklasse-Spielern, im Unterschied zu England sogar in allen Mannschaftsteilen. Angefangen im Tor mit Mike Maignan und der Abwehr, wo nicht einmal der bei Arsenal so herausragende William Saliba einen Stammplatz sicher zu haben scheint. Im Mittelfeld ziehen unter anderem die beiden Real-Stars Eduardo Camavinga und Aurélien Tchouaméni die Fäden, auch Warren Zaïre-Emery kämpft hier um seinen Platz, während vor allem die Offensive vor Weltklasse nur so strotzt. Antoine Griezmann, Ousmane Dembélé, Marcus Thuram, Olivier Giroud, Kylian Mbappé – und das sind noch nicht alle Namen, wobei insbesondere letzterer Spiele im Zweifel auch mal im Alleingang entscheiden kann.

Das muss er auch hin und wieder, womit wir zu den Schwächen der Franzosen kommen. Denn so prominent der Kader bestückt sein mag, Trainer Didier Deschamps ist nicht für den Fußball bekannt, der die Massen vom Hocker reißt. Ähnlich wie Southgate denkt auch der 55-jährige Franzose etwas konservativer und mit Fokus auf eine stabile Abwehr, was nicht selten zulasten der Offensive fällt, da es bei eigenem Ballbesitz – und davon haben die Franzosen gerade gegen kleinere Gegner viel – zuweilen an der Ideenfindung und damit an der Chancenkreation mangelt. Die Gruppengegner Niederlande, Österreich und Polen haben also zumindest einen Ansatz, wie sie den Weltmeister von 2018 knacken könnten. Dazu ließen auch die jüngsten Resultate der Equipe Tricolore zu wünschen übrig, immerhin setzte es in der letzten Länderspielpause eine 0:2-Heimpleite gegen Deutschland, ehe Chile daraufhin nur knapp mit 3:2 geschlagen werden konnte. Und doch ist klar, dass die EM-Trophäe allein aufgrund der individuellen Klasse nur über die Franzosen geht.

Deutschland: Bereit für das nächste Sommermärchen?

In der vergangenen Länderspielpause besiegte eine rundum erneuerte DFB-Elf Frankreich auf eine beeindruckende Art und Weise mit 2:0. Die gleiche Elf überzeugte auch wenige Tage später und bewies zugleich Resilienz, als sie einen frühen Rückstand gegen die Niederlande drehte (2:1). Die Qualität im Kader war schon immer vorhanden, in der letzten Länderspielpause scheint Julian Nagelsmann auch endlich die passende Mischung aus etablierter Klasse und frischen Impulsen gefunden zu haben. Während die langjährigen Nationalspieler um Manuel Neuer, Joshua Kimmich, Ilkay Gündogan und natürlich auch Rückkehrer Toni Kroos die Achse bilden, ist vor allem in der Offensive um die beiden Zauberer Jamal Musiala und Florian Wirtz reichlich individuelle Klasse vorhanden.

Dazu scheint sich in Antonio Rüdiger und Jonathan Tah endlich ein funktionierendes Innenverteidiger-Pärchen gefunden zu haben, während sich Frankreich-Debütant Maximilian Mittelstädt auf der Linksverteidiger-Position festsetzte. Die Mannschaft wirkt intakt wie lange nicht und auch taktisch präsentierte sich die DFB-Elf zuletzt sehr reif. „Vor allem das Pressing und Gegenpressing waren sehr, sehr gut“, analysiert Taktik-Experte Benny Grund, mit dem wir im Vorfeld des Turniers gesprochen haben. Laut ihm fehle in der Hinsicht nur noch der Feinschliff. „Ich bin gespannt, ob sie den noch bis zum Turnierstart hinkriegen“, so Grund. Gleichzeitig betonte der Fachmann, dass für einen Titel im eigenen Land alles passen müsse. Klar ist nämlich auch, dass die DFB-Elf trotz der definitiv vorhandenen Qualität individuell schwächer besetzt ist als etwa England oder Frankreich und die Stichprobengröße von drei Spielen eine zu geringe ist, um daraus titelrelevante Schlüsse zu ziehen.

Spanien: Die junge Furia Roja

Seit dem letzten Triumph bei der Europameisterschaft 2012 ist viel passiert. Heute ist die spanische Nationalmannschaft eine deutlich jüngere als die goldene Generation damals um Iker Casillas,, Xabi Alonso, Andres Iniesta und Co. Insbesondere die beiden 17-jährigen Barca-Stars Lamine Yamal und Pau Cubarsí ziehen den Altersschnitt der Seleccion deutlich nach unten. Dementsprechend muss sich vieles auch erst einmal eingrooven, die vielen jungen Spieler als Turniermannschaft zusammenwachsen. Gegeben sind die Voraussetzungen hierfür allemal, denn individuelle Klasse ist reichlich vorhanden. Besonders das Mittelfeldzentrum sticht wieder einmal hervor. Hier zieht Rodri die Strippen, neben Ballschlepper Pedri sind auch Fabián Ruiz, Dani Olmo und Aleix García technisch gut geschult.

Die beiden 17-Jährigen Pau Cubarsi (vorne) und Lamine Yamal werden mit der spanischen Auswahl zur EM 2024 nach Deutschland fahren

Die beiden 17-Jährigen Pau Cubarsí (vorne) und Lamine Yamal werden mit der spanischen Auswahl zur EM 2024 nach Deutschland fahren. (Photo by Angel Martinez/Getty Images)

Ein kontrollierter Ballbesitzfußball liegt mit dieser Auswahl nahe und wird so auch von Nationaltrainer Luis de la Fuente praktiziert. Bei der Qualifikation zur EM 2024 hatte Spanien den meisten Ballbesitz und die höchste Passquote aller Nationen. “Sie spielen einen sehr, sehr kontrollierten, dominanten Fußball”, weiß Experte Benny Grund. “Unter Luis Enrique bei der WM in Katar hatten sie teilweise so viel Kontrolle, dass sie Tempowechsel verpasst haben. Ich glaube aber, dass das dieses Jahr besser funktionieren könnte”, so die Einschätzung des Experten, der den Spaniern zutraut, “ein gutes Turnier zu spielen”. Fragezeichen gibt es vor allem in der Innenverteidigung, wo de la Fuente immer noch auf den vor der Saison nach Saudi-Arabien abgewanderten Aymeric Laporte setzt und der Platz neben ihm bislang vakant ist. Grund hat noch eine weitere Befürchtung: „Ich habe bei Spanien immer die Sorge, dass sie etwas überspielt sind, da die jungen Spieler bei ihren Vereinen schon sehr viel zum Einsatz kommen.”

Portugal: Der geheime Topfavorit bei der EM 2024

Mit zehn Siegen aus zehn Spielen fegte Portugal förmlich durch die EM-Qualifikation. Sogar die ersten 13 Spielen unter Coach Roberto Martínez, der das Amt im Januar 2023 übernommen hatte, konnte die Selecao gewinnen, wenngleich das Niveau der Gegner im Großen und Ganzen überschaubar war. In bislang 15 Partien unter dem Spanier konnte die Mannschaft einzig in Slowenien (0:2) nicht gewinnen. Die Erfolgssträhne kommt nicht von ungefähr. Martínez, zuvor langjähriger Nationaltrainer Belgiens, verfolgt eine sehr klare Spielidee, die auf einem intensiven Pressing basiert. Gegen die kleinen Mannschaften in der Quali hatten die Portugiesen viele Ballbesitzphasen, während gegen etwas härtere Gegner, gerade bei der Europameisterschaft, nach einer hohen Balleroberung der schnelle Weg zum Tor das Mittel der Wahl sein könnte.

So oder so, der Kader liest sich für alles gewappnet und weist nur wenige Qualitätslücken auf. Das Tor hütet der talentierte Porto-Schlussmann Diogo Costa, vor ihm teilen sich Ruben Días und der talentierte Gonçalo Inácio, der mit Sporting Meister wurde, den Part in der Innenverteidigung. Während die Außenverteidiger Joao Cancelo und Diogo Dalot im von Martínez präferierten 4-3-3-System hochschieben, unterstützt Sechser João Palhinha bei der Defensivarbeit. Für das Mittelfeldzentrum kann Martínez unter anderem noch auf Vitinha, Ruben Neves und Bruno Fernandes zurückgreifen. Auf den Flügeln blitzt dann mit Bernardo Silva und Rafael Leao die pure Weltklasse auf, während Cristiano Ronaldo als zentraler Stürmer und Kapitän zumeist gesetzt, aber nicht mehr unangefochten ist. Seine Rückkehr auf die europäische Fußballbühne dürfte also in vielerlei Hinsicht interessant werden. Ob der Triumph von 2016 wiederholt werden kann? Zwar kann der portugiesische Kader dem von Frankreich oder England nicht ganz das Wasser reichen, zu den Titelkandidaten gehören die Südwesteuropäer ob ihrer individuellen Klasse und der überraschend guten Entwicklung unter Martinez aber allemal.

Prognose

England und Frankreich sind mit Sicherheit die beiden ganz großen Favoriten auf den Titel. Beide Nationalmannschaften haben nicht die besten spielerischen Anlagen, dafür übertrumpft die individuelle Klasse aber sämtliche andere Teilnehmer bei der EM 2024 – auch die Mitfavoriten. Die DFB-Elf muss den starken Trend erst bestätigen, wozu sie bei ihrer Heim-EM die perfekte Gelegenheit hat. Spanien ist individuell stark besetzt, durch den jungen Altersschnitt aber auch unerfahren. Damit bliebe noch Portugal. Die Selecao hat eine herausragende Entwicklung unter Martinez genommen und die beste Form aller Favoriten. Eine Wiederholung des Triumphes von 2016 sollte damit zumindest nicht überraschend kommen.

(Photo by FRANCK FIFE/AFP via Getty Images)

Michael Bojkov

Lahm & Schweinsteiger haben ihn einst zum Fußball überredet – mit schwerwiegenden Folgen: Von Newcastle über Frankfurt bis Cádiz saugt Micha mittlerweile alles auf, was der europäische Vereinsfußball hergibt. Seit 2021 bei 90PLUS und vorwiegend in Spanien unterwegs.


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