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Historie | Die Türkei bei der EM 2008: Ein Sommermärchen in rot und weiß

30. Mai 2024 | Spotlight | BY Philipp Overhoff

Alle vier Jahren duellieren sich die besten Mannschaften des Kontinents um die Krone des europäischen Fußballs, alle vier Jahre werden dabei Geschichten für die Ewigkeit geschrieben. So auch bei der EM 2008, als die Türkei allen Widerständen zum Trotz am Titel schnupperte. Ein Rückblick.

Wechselhafte Jahre vor der EM

Der türkische Fußball durchlebte zu Beginn der 2000er-Jahre wahrlich turbulente Zeiten. Bei der Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea stürmte eine hochbegabte Auswahl um Hakan Sukür, Nihat Kaveci und Okan Buruk bis ins Habfinale und sicherte der Türkei mit der Bronzemedaille das erste und bis heute einzige Edelmetall der WM-Geschichte.



Das vier Jahre später in Deutschland stattfindende Turnier verpasste die 1923 gegründete Republik allerdings gänzlich und sorgte im Rahmen des Playoff-Rückspiels gegen die Schweiz für einen handfesten Eklat. Die Eidgenossen qualifizierten sich wegen der Auswärtstorregel für die Endrunde, worauf hin deren Spieler von den türkischen Anhängern und einem Assistenztrainer angegangen wurden. Im Anschluss kam zu Handgreiflichkeiten zwischen beiden Mannschaften. Das Spiel ging als „Schande von Istanbul“ in die europäische Sportgeschichte ein.

Kein Torwart? Kein Problem! Türkei kämpft sich ins Viertelfinale

Umso größer war die Erleichterung, als sich die Türkei im Vorfeld der EM 2008 endlich wieder für ein großes Turnier qualifizierte. Die Mannschaft hatte auf dem Papier nicht die Qualität der 2002er-Generation, doch mit Spielern wie Hamit Altintop oder Emre Belözoglu verfügte der Kader durchaus über internationale Klasse. Auch Kapitän Nihat Kahveci vom FC Villareal stand nach wie vor im Aufgebot.

Unkontrovers ging die Kadernominierung aber keineswegs von statten. Mit Yildiray Bastürk (VfB Stuttgart) und Halil Altintop (FC Schalke 04) fehlten zwei namhafte Bundesliga-Profis. Karl-Heinz Feldkamp, bis April 2008 Trainer bei Galatasaray Istanbul, machte dem türkischen Verband schwere Vorwürfe. „Die guten und richtigen Spieler werden nicht nominiert. Ich bin davon überzeugt: Ein Halil Altintop oder Yildiray Bastürk wären nicht nach Hause geschickt worden, wenn sie bei Besiktas oder Fenerbahce spielen würden. Die türkische Nationalmannschaft nutzt ihre Ressourcen nicht optimal“, so Feldkamp.

Und auch die Auslosung hatte es mal so richtig in sich: Die Türkei landete gemeinsam mit Gastgeber Schweiz, dem WM-Halbfinalisten aus Portugal und den hochgehandelten Tschechen in der Vorrundengruppe A. In dieser Konstellation galt die Mannschaft von Trainerlegende Fatih Terim als klarer Underdog, da waren sich sämtliche Beobachter einig.

(Photo credit should read JOE KLAMAR/AFP via Getty Images)

Das erste Spiel des Turniers schien diese Annahme zu bestätigen. Gegen den Mitfavoriten aus Portugal schlug sich die Türkei zwar wacker, unterlag dennoch letztlich chancenlos mit 0:2. Als die „Halb-Sterne“ in der zweiten Partie gegen die Schweiz nach 32 Minuten in Rückstand gingen, schien das türkische EM-Märchen bereits nach drei Turnierhalbzeiten auserzählt. Doch in den zweiten 45 Minuten wurde im Baseler St.-Jakob-Park die türkische Version der „Eurofighter“ geboren. Semih Sentürk glich in der 56. Minute aus, ehe Arda Turan in der 92. Minute den umjubelten 2:1-Siegtreffer besorgte. „Man wird sich an uns erinnern“, erklärte Nationaltrainer Terim im Anschluss an die Begegnung.

Schon die nächste Partie sollte ihm Recht geben. Im letzten Vorrundenduell ging es im direkten Duell gegen Tschechien um den Einzug ins Viertelfinale. Die Türkei war klarer Außenseiter und dementsprechend gestaltete sich auch der Spielverlauf. Eine halbe Stunde vor Ende lagen die Tschechen vermeintlich komfortabel mit 2:0 in Front. Niemand schien zu diesem Zeitpunkt auch nur einen Pfifferling auf die türkische Mannschaft zu setzen. Doch angepeitscht von ihren frenetischen Fans bliesen die Südeuropäer zur Aufholjagd. Arda verkürze in der 76. Minute auf 1:2, elf Minuten später besorgte Nihat höchstpersönlich den Ausgleich. Da beide Teams die identische Punktzahl und Tordifferenz aufwiesen, wäre es bei einem Unentschieden zum Elfmeterschießen gekommen. Der Kapitän wollte es aber gar nicht erst darauf ankommen lassen und traf in der 89. Minute per traumhaften Schlenzer zum 3:2. Der Wahnsinn war endgültig perfekt, die Türkei hatte das Spiel in nur 15 Minuten völlig auf den Kopf gestellt und die hochgelobte tschechische Mannschaft um Jan Koller und Milan Baros in den Heimflieger gesetzt. Die eigentlich unfassbare Tatsache, dass Feldspieler Tuncay die letzten Minuten wegen einer roten Karte von Volkan Demirel und bereits ausgeschöpfter Wechselmöglichkeiten im Tor verbrachte, geriet dabei schon fast zur Nebensache.

Viertelfinale: Der Pechvogel wird zum Helden

Der Vorrunden-Wahnsinn gegen Tschechien stellt allerdings nur den vorläufigen Höhepunkt der türkischen Eurofighter-Saga dar. Im Viertelfinale retteten Altintop und Co. ein 0:0 gegen den Geheimfavoriten aus Kroatien in die Verlängerung. Dort herrschte lange Zeit gähnende Langeweile – eine Extrazeit wie sie im Buche steht also. Der erste Torschuss der Verlängerung ereignete sich erst in der 119. Minute, als Torwart Rüştü völlig übermotiviert aus seinem Kasten herauseilte und sich von Luka Modric überspielen ließ. Ivan Klasnic musste aus fünf Metern nur noch ins verwaiste Tor einschieben und schien das Sommermärchen der Halb-Sterne diesmal endgültig zu beenden.

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Normale Fußballgesetze besaßen für die Türkei im Juli des Jahres 2008 allerdings keine Gültigkeit. Rüştü schlug eine Flanke eigentlich blind in den kroatischen Strafraum hinein, wo das Leder letztlich zufällig vor den Füßen von Semih landete. Der Stürmer von Fenerbahce Istanbul hämmerte den Ball mit purer Entschlossenheit in die Maschen und rettete seine Farben in das Elfmeterschießen. Und wie es sich für ein gutes Märchen gehört, avancierte der vermeintliche Pechvogel dort zum gefierten Helden. Rüştü brachte die kroatischen Schützen zur Verzweiflung und führte seine Mannschaft erstmalig in ein EM-Halbfinale. Eine dieser viel zitierten Geschichten, die wahrlich nur der Fußball schreibt.

Mit den eigenen Waffen geschlagen: Das türkische Märchen geht zu Ende

Eine weitere dieser Geschichten ereignete sich dann im Halbfinale gegen Deutschland. Oder besser gesagt schon vor dem Halbfinale. Aufgrund von Sperren und zahlreichen Verletzungen fehlten der Türkei gegen die DFB-Elf gleich neun(!) Spieler. Da Terim keine Nachnominierungen mehr tätigen durfte, ging seine Mannschaft mit einem Mini-Kader von 14 Akteuren in die Runde der letzten vier. Die Personalnot wurde so groß, dass Terim seinen Ersatztorwart Tolga kurzerhand zum Feldspieler umfunktionierte. „Als Einwechselspieler könnte er zum Ende der Partie als letzter Mann oder Mittelstürmer zum Einsatz kommen. Wir können uns nicht mehr den Luxus erlauben, dass sich die Spieler aussuchen, wo sie spielen wollen“, erklärte der türkische Trainer im Vorfeld der Partie.

Letztendlich machte er von dieser Option keinen Gebrauch, doch alleine das öffentliche Gedankenspiel darüber verdeutlichte, in welch misslicher Lage sich die Türkei mittlerweile befand. Was der Terim-Truppe gegen den WM-Dritten aus Deutschland an Kaderbreite fehlte, machte diese dann mit purem Willen wett. Aber nicht nur das: Die Türkei war im Halbfinale über weite Strecken die bessere Mannschaft und ging durch Ugur Boral mit 1:0 in Führung. Durch Treffer von Bastian Schweinsteiger und Miroslav Klose drehte die DFB-Elf das Spiel etwas glücklich, hatte die Rechnung dabei aber ohne das Last-Minute-Monster Semih gemacht. Der Goalgetter traf in der 86. Minute mit seinem dritten Turniertreffer zum 2:2. Ein weiteres spätes Tor schien die Türkei also in die Verlängerung gebracht zu haben. Doch dieses Mal mussten die tapferen Krieger vom Bosporus einen Schluck ihrer eigenen Medizin kosten und schieden durch ein Tor von Philipp Lahm in der 90. Minute aus dem Turnier aus.

(Photo by Stuart Franklin/Bongarts/Getty Images)

Auch wenn das türkische Märchen 2008 letztlich kein Happy End nahm, hatten Semih, Arda und Co. eine ganze Nation stolz gemacht. Mit ihrer emotionalen Spielweise, der atemberaubenden Widerstandsfähigkeit und schier unermesslichen Comeback-Qualitäten spielten sich die Halb-Sterne-Kicker in die Herzen ihrer Anhänger. Fast vier Wochen lang verwandelten die Türken Österreich und die Schweiz in einen rot-weißen Sommernachtstraum, der bis heute nicht in Vergessenheit geraten ist.

(Photo by Alex Livesey/Getty Images)


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