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EM 2024 | Mitfavorit Frankreich: Der größte Feind ist man selbst

9. Juni 2024 | Spotlight | BY Manuel Behlert

Es gibt zwei, vielleicht drei Nationalteams, die immer genannt werden, wenn es um die Topfavoriten für die EM 2024 geht. Zu diesen Teams gehört zweifelsohne Frankreich, das nominell wieder über einen hervorragenden Kader verfügt. 

Das alleine reicht aber natürlich nicht. Die Charaktere müssen außerhalb des Platzes zusammenpassen, die Homogenität auf dem Feld ist wichtig. Die letzten Turniere waren erfolgreich, einige allerdings auch mit einem “aber” verbunden. Und diesmal? Die Voraussetzungen sind auf jeden Fall wieder sehr gut.

Frankreichs Starensemble greift nach den Sternen

Didier Deschamps, Nationaltrainer Frankreichs, hatte vor der EM 2024 wieder einmal die Qual der Wahl. Die Franzosen könnten gut und gerne zwei Topmannschaften für dieses Turnier nominieren, entsprechend prominent gestaltet sich auch die Auswahl. Alleine für die Innenverteidigung stehen William Saliba (Arsenal), Benjamin Pavard (Inter), Dayot Upamecano (FC Bayern), Jules Koundé (FC Barcelona) und Ibrahima Konaté (FC Liverpool) im Aufgebot. Und zwei dieser Spieler können auch noch außen spielen. Apropos außen: Auf der linken Seite befinden sich Theo Hernandez (Milan) und Ferland Mendy (Real Madrid) im Kader. 



Eine solche Qualitätsdichte zieht sich durch den ganzen Kader. Das Mittelfeld ist physisch stark und auch mit dem Ball gut, hier stehen unter anderem die Real-Profis Eduardo Camavinga und Aurelien Tchouameni zur Verfügung, das Toptalent PSGs, Warren Zaire-Emery, sei auch nicht unerwähnt. Und Antoine Griezmann kippt einerseits aufgrund seiner hohen Spelintelligenz, andererseits auch aufgrund des Angebots in der Offensive um Kylian Mbappé (PSG), Olivier Giroud (Milan) und Kingsley Coman (FC Bayern) eine Position nach hinten. Es ist ein Luxuskader, den die Equipe Tricolore in das Rennen schickt. Findet sich vor Tunierbeginn trotzdem ein “aber”? 

Nicht alle Kaderentscheidungen sind auf den ersten Blick nachvollziehbar

In gewisser Weise ja. Denn der ein oder andere hob die Augenbrauen etwas überrascht, als bekannt wurde, dass N’Golo Kante mit nach Deutschland fährt. Der mittlerweile 33-Jährige hat dem Fußball in Europa den Rücken gekehrt und verdient mittlerweile viel Geld in Saudi-Arabien. Die Konkurrenzfähigkeit der dortigen Liga ist nicht mit der einer europäischen Topliga vergleichbar, Spiele auf Champions-League-Niveau finden dort überhaupt nicht statt. Und in der Nationalmannschaft spielte er zuvor auch keine Rolle mehr.

Kante Frankreich

(Photo by JEAN-CHRISTOPHE VERHAEGEN/AFP via Getty Images)

Ist er also für die gute Stimmung zuständig? Oder doch fußballerisch noch derart wertvoll, dass er diesem Kader etwas mitgeben kann? Wir haben bei Harold Marchetti, der in Frankreich für Le Parisien tätig ist und sich mit der Equipe Tricolore beschäftigt, nachgefragt. “Kanté spielt in einer weniger wettbewerbsfähigen Liga, aber er hat in dieser Saison 44 Spiele bestritten, und das bei sehr heißem Wetter. Körperlich ist er wieder auf der Höhe und hat seine Fähigkeiten, zu laufen und Bälle zu erobern, bewahrt. Er wird seine Erfahrung einbringen und junge Spieler wie Zaire-Emery führen. Wenn Tchouameni wieder gesund wird, wird Kanté keinen Startplatz haben, aber wenn der Real-Spieler nicht zu seiner besten Form findet, weiß Deschamps, dass er auf Kanté zählen kann”, so Marchetti.

Während diese Nominierung also offenbar kein Risiko darstellt, verwundert die Nichtberücksichtigung von Michael Olise (Crystal Palace) und Christopher Nkunku (Chelsea). Beide hätten mit ihrem Spielerprofil einen entscheidenden Einfluss haben können. Interessant: Deschamps verzichtet bewusst auf beide, nominierte “nur” 25 von 26 möglichen Spielern für den endgültigen Kader. Dabei fehlt es Frankreich nun an einem Spieler, der zwischen den Linien seine Stärken hat, Kreativität aus dem offensiven Mittelfeld einbringen kann und sich in den engen Räumen wohl fühlt. Beide hätten genau das einbringen können.

Klar, Griezmann hat diese Rolle zuletzt immer wieder ausgefüllt, aber er ist nun einmal der einzige Spieler im Kader, der das kann. Deschamps geht hier ein Risiko, weil eine Verletzung Griezmanns ein Desaster wäre. “Olise ist leider nicht in den Plänen der Verantwortlichen vorgesehen. Nkunku genießt hohes Ansehen, hat aber laut Deschamps zu wenig für Chelsea gespielt, um berufen zu werden, was schade ist. Denn ohne Griezmann ist die französische Mannschaft schwächer, weil ihnen der Techniker und der Dirigent fehlt. Gegen Deutschland beispielsweise wirkte das Team verloren, als Griezmann fehlte”, teilt Marchetti mit.

Alles rund um die EM 2024 findet ihr hier 

Frankreich: Der größte Feind ist man selbst

Didier Deschamps ist ein Trainer mit viel Turniererfahrung, der weiß, wie man einen Kader nominiert. Er führte Frankreich zum Weltmeistertitel 2018, vier Jahre später reichte es immerhin für die erneute Teilnahme am Endspiel. Und dennoch ist er nicht frei von Kritik. Ihm wird mitunter vorgeworfen, etwas zu stur an seinen Prinzipien festzuhalten und damit phasenweise das Leistungsprinzip auszuhebeln. Auch vor dem Turnier in Deutschland hält er aller Voraussicht nach weiter am Innenverteidiger-Duo Upamecano/Konate fest, obwohl William Saliba vom FC Arsenal eine bärenstarke Saison hinter sich hat.

Saliba EM 2024 Frankreich

(Photo by FRANCK FIFE/AFP via Getty Images)

Nun könnte man argumentieren, dass das bestehende Innenverteidiger-Duo zuletzt im Nationalteam stabil war, aber gerade die Defensive ist es, die Frankreich aktuell vor Probleme stellt. Das bestätigt auch der Experte: “Was die Schwächen angeht, so hat Frankreich in den letzten Monaten viele Tore kassiert: Zwei gegen Deutschland und Chile im März und bereits zwei in Griechenland im vergangenen November. Dayot Upamecano hatte eine sehr durchschnittliche Saison bei den Bayern und Ibrahima Konaté war bei Liverpool nicht immer in der Startelf. Und Mike Maignan hatte eine Reihe von körperlichen Problemen. Sorgen bereitet also vor allem die Defensivleistung der französischen Mannschaft.”

Es wird an Deschamps selbst liegen, die brillanten Individuen im Kader zu einer funktionierenden Mannschaft zu vereinen. In den letzten Tagen der Vorbereitung wird der Fokus darauf liegen müssen, die Fehler in der Defensive zu minimieren, die Kompaktheit zu verbessern und insgesamt als gesamte Mannschaft mehr in die Arbeit gegen den Ball zu investieren. Im offensiven Bereich steht und fällt vieles mit der Fitness von Griezmann. Kann er das Turnier durchspielen, dann haben die Franzosen eine gute Mischung aus Kreativität und Tempo, Flügelspielern, die das Spiel breit machen und einem erfahrenen, kopfball- und spielstarken Stürmer wie Olivier Giroud, der noch einmal groß auftrumpfen will. Zudem stünden einige Optionen von der Bank zur Verfügung.

Die Frage, ob Frankreich zu den Turnierfavoriten gehört, ist eindeutig mit Ja zu beantworten. Eine Prise Restzweifel bleibt aber bestehen, auch aufgrund der mutigen Nominierung und der zumindest auf den ersten Blick nicht perfekten Aufteilung der Spielertypen im Kader. Es wäre aber nicht überraschend, wenn es Trainer Deschamps erneut gelänge, die Kritiker verstummen zu lassen. Die Voraussetzungen sind überragend, man selbst entscheidet, wohin die Reise am Ende geht.

(Photo by FRANCK FIFE/AFP via Getty Images)

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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