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EM 2024 | Dear Mr. Southgate, we owe you an apology!

11. Juli 2024 | Spotlight | BY Philipp Overhoff

In den letzten knapp vier Wochen hat vermutlich keine andere Person auf dem europäischen Kontinent so viel Kritik einstecken müssen wie Gareth Southgate. Es wird Zeit für eine Entschuldigung an den englischen Trainer. 

Gareth Southgate: Im Fadenkreuz des Spottes

Was hat sich Gareth Southgate in den vergangenen Wochen nicht alles anhören müssen? Sein Spielstil wurde wahlweise als „Schande“ oder „Terrorball“ bezeichnet, während die zahlreichen Kritiker in In- und Ausland zu Höchstform aufliefen. Die Boulevardzeitung The Sun beispielsweise zeigte eine lange Fotogalerie mit all jenen prominenten Southgate-Gegnern von Gary Lineker über Roy Keane bis Rio Ferdinand, die das Team mitsamt dem Coach in die Pfanne gehauen hatten.



Auch in den sozialen Medien sah sich der 53-Jährige einem schier unermesslichem Maß an Hohn ausgesetzt. Fotoshop-Spielereien, die Southgate eine Freundschaft mit Osama bin Laden attestieren wollten, wechselten sich dabei mit markigen Aussagen ab, die eine Entlassung Southgates noch während des laufenden Turniers forderten. Es ist also wahrlich keine steile These, wenn man behauptet, dass in den letzten vier Wochen kein anderer Mensch in Europa derart viel Spott ausgesetzt war wie der englische Trainer.

Die Resultate stimmen

Um das gleich mal vorneweg zu nehmen: Ein Großteil der (sachlich) geäußerten Kritik war natürlich absolut berechtigt. Die englische Nationalmannschaft hat uns bei dieser Europameisterschaft einen derart uninspirierten Fußball gezeigt, dass im gestrigen Halbfinale ein ganzer Kontinent hinter der Niederlande stand. Die Three Lions haben während dieser EM-Endrunde jegliche Sympathie oder Bewunderung verspielt. Und das ohne zuvor jemals besonders beliebt gewesen zu sein.

Doch das wird der Mannschaft und auch den Anhängern im Mutterland des Fußballs völlig egal sein, sofern am Ende des Turniers ein erfolgreiches Abschneiden steht. Schon jetzt ist auffällig wie sich der englische Pressewind in den vergangenen Tagen in Richtung Southgate drehte. Die Kritik der ersten EM-Wochen ist größtenteils verstummt, obwohl der Fußball nicht – oder nur geringfügig – besser geworden ist.

(Photo by Stu Forster/Getty Images)

Es ist eine hohle Phrase, aber am Ende ist und bleibt der Fußball nun mal ein Ergebnissport. Und Southgate liefert eben jene Ergebnisse. Der frühere Mittelfeldspieler steht bei seinem vierten großen Turnier an der Seitenlinie und führte seine Farben dabei zweimal in ein Finale, einmal in ein Halbfinale und scheiterte nur einmal im Viertelfinale. Wann zuvor hat England vier solcher Ergebnisse in Folge erzielt? Richtig, nie!

Die chronisch erfolgslose Nationalmannschaft ist unter Southgate zu einer gut geölten Maschine geworden, die zuverlässig Resultate liefert und stets bis Turnierende im Rennen um den ganz großen Wurf ist. Und diese Tatsache ist nicht ausschließlich der individuellen Klasse der englischen Einzelkönner und noch viel weniger dem Zufall geschuldet.

Die Stärken des Gareth Southgate

Es wird daher Zeit, dass wir uns eine Sache endgültig eingestehen: Gareth Southgate ist ein verdammt guter K.o.-Trainer. Seine Bilanz von 9 Siegen und nur drei Niederlagen in Entscheidungsspielen spricht eine eindeutige Sprache. Es ist dem Mann, der nördlich von London geboren wurde, dabei gar nicht hoch genug anzurechnen, dass er den englischen Spielern ihre absolute Urangst genommen hat.

Das auf der britischen Insel historisch gefürchtete Elfmeterschießen scheint sich langsam aber sicher zu einer Paradedisziplin zu entwickeln. “Sie nähern sich einem perfekten Elfmeterschießen”, erklärte Geir Jordet, Sportpsychologe und Elfmeter-Experte, nach dem Erfolg über die Schweiz gegenüber der FAZ. Jordet berichtete auch von einer “Elfmeter-Taskforce”, die von Southgate einberufen wurde und seit acht Jahren daran arbeitet, England von chronischen Strafstoß-Strauchlern zu Strafstoß-Spezialisten zu machen. Offenbar mit Erfolg: Einschließlich der Nations League gewannen die Three Lions drei ihrer letzten vier Elfmeterschießen.

(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)

Southgate fährt zudem sehr gut damit, seine Mannschaft im Turnierverlauf nicht allzu sehr zu verändern. Trotz der heftigen Kritik tauschte der 53-Jährige bisher nur auf wenigen Positionen durch. Zehn Spieler, die im Auftaktspiel gegen Serbien in der Startformation standen, liefen auch gestern von Beginn auf. Diese Entscheidungen mögen unpopulär sein, doch sie sorgen für ein stabiles Grundgerüst und vermitteln den auf dem Rasen stehenden Akteuren ein großes Vertrauen.

Trotz der ausbleibenden spielerischen Glanzmomente muss man dieser englischen Mannschaft nämlich eines zugute halten: sie ist enorm widerstandsfähig. In allen drei K.o.-Spielen lagen die Drei-Löwen-Männer in Rückstand, alle drei Spiele konnten letztlich noch siegreich gestaltet werden. Southgate trifft dabei kluge Personalentscheidungen und wechselte gestern mit Vorbereiter Cole Palmer und Last-Minute-Torschütze Ollie Watkins den Sieg ein. Im Gegensatz zu seinem niederländischen Pendant Ronald Koeman, der mit seiner Auswechslung von Memphis Depay zugunsten von Joey Veerman einen fürchterlichen Fehler beging.

Folgt der ganz große Wurf?

Gareth Southgate wäre höchstwahrscheinlich ein außerordentlich schlechter Vereinstrainer, denn der frühere Nationalspieler ist uns bis heute den Beweis schuldig geblieben, dass er seiner Mannschaft ein funktionierendes Ballbesitzspiel implementieren und einzelne Spieler weiterentwickeln kann. Wenn es also darum geht, die dauerhaften Erfolgsaussichten des eigenen Spiels zu maximieren und über 30 oder mehr Spiele hinweg Resultate zu liefern, wäre Southgate vermutlich keine gute Wahl.

Diese Qualitäten braucht ein Nationaltrainer aber nur in zweiter und nicht in erster Linie. Die gemeinsame Vorbereitungszeit mit der Mannschaft ist deutlich geringer, die Dichte an alles entscheidenden K.o.-Spielen dafür umso höher. Gerade deshalb ist es so wichtig, seinen Spielern ein solides und defensiv stabiles Grundgerüst an die Hand zu geben und ihnen darüber hinaus Resilienz, Nervenstärke und Comeback-Mentalität zu vermitteln. Southgate hat der englischen Nationalmannschaft all jene Tugenden eingeimpft, weshalb diese aktuell ihre vermutlich erfolgreichste Ära aller Zeiten durchlebt.

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Der einzige Makel: Noch fehlt die Krönung in Form eines Titels. Noch. Schon am Sonntag kann das Mutterland des Fußballs diesen verbliebenen Fehler ausmerzen und sich zum ersten Mal in seiner Geschichte auf den europäischen Thron setzen. Es wäre der erste und zeitgleich einzige Titelgewinn seit der Weltmeisterschaft 1966. Southgate würde sich im englischen Teil des Vereinigten Königreiches unsterblich machen und plötzlich in einer Riege mit Trainerlegende Sir Alf Ramsey stehen.

Sollte dieser Coup gelingen, könnte auch jeder Taktikfetischist darüber hinwegsehen, dass „Southgate-Ball“ unterkomplex und an seiner Biederkeit nicht zu überbieten ist. Denn was bleibt, sind nun mal Erfolge und weniger die Art des eigenen Spiels. Um es mit den Worten des deutsch-englischen Philosophen Per Mertesacker zu sagen: „Was wollen Sie? Wollen sie ne erfolgreiche WM, oder sollen wir wieder ausscheiden und haben schön gespielt?“

In diesem Sinne: Sorry Mr. Southgate, we owe you an apology!

(Photo by Stu Forster/Getty Images)


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